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Manfred Bohn Stromtod

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Hier läuft kein Spielfilm. Mach du Untersuchungen, und ich mache Ermittlungen.«

Nur die nötigsten Untersuchungen sollte ich machen, und »Leichen gehen vor«, hatte mein Chef noch gesagt, bevor er mir ein frohes Fest wünschte.

An diesem Morgen, einen Tag vor Heiligabend, saß ich alleine im Elektrolabor der Kriminaltechnik. Die Kollegen waren schon im Weihnachtsurlaub. Der Espresso dampfte, die Zeitung lag bereit. Der erste Anruf störte: Hansen von Direktion 5VB.

»Stromtod Badewanne, einer Frau ist der Haartrockner reingefallen, alles sauber, kannst im Smoking kommen. Neukölln, Richardplatz 4, bei Herzog.«

Es klang gut, was Hansen sonst noch gesagt hatte: geheizte Wohnung, kein Leichengeruch. Die Tote war sofort gefunden worden. Die üblichen Messungen sollten durchgeführt werden.

Wir waren vor dem Haus verabredet. Ein renoviertes Mietshaus mit neuer Fassade, die Elektroinstallation schien in Ordnung zu sein, vermutlich schnelle Arbeit für mich.

Ein mittelgroßer Mann in Strickweste, Stoffhose und hellroten Lederpantoffeln öffnete die Tür.

»Herzog mein Name, ich bin … ich war der Ehemann.«

Er zeigte mir das Bad, die Steckdose und den Stromkreisverteiler in der Abstellkammer. Keine Spur von Trauer. Neben der Tür zur Abstellkammer stand eine Vitrine mit Modelleisenbahnen, Spur H0, E-Loks, nur Schweizer Bundesbahnen. Schöne Stücke.

Ich konzentrierte mich auf meine Arbeit, während sich Hansen im Wohnzimmer von Herzog die Angewohnheit seiner verstorbenen Frau, sich in der Wanne die Haare zu trocknen, erklären ließ. Hansen stellte keine weiteren Fragen.

»Die Wanne ist in den Potenzialausgleich einbezogen, die Steckdose ist technisch in Ordnung, ein Fehlerstromschutzschalter ist nicht vorgeschrieben …«, das würde später in meinem Bericht stehen und als Ergebnis: »… somit ist ein Stromtod technisch möglich.« Routine.

Ich stand mit Hansen wieder auf der Straße. »Alles in Ordnung, einwandfreie Messergebnisse, aber …«, ich zögerte, »der Typ lügt doch. Der will uns verscheißern.«

Hansen zuckte mit den Schultern. »Ich glaube auch, dass er lügt, aber: Reingeworfener oder reingefallener Haartrockner, wer kann das schon wissen?«

Ich sah ihn an: »Messen kann ich’s nicht, aber wie wär’s mit ermitteln?«

Hansen wandte sich zum Gehen.

»Ich werde mich noch ein bisschen umhören, viel wird es sowieso nicht bringen. Na denn, hoffentlich erst im nächsten Jahr, guten Rutsch und tschüss.«

Im Elektrolabor stellte ich fest, dass ich meinen Messadapter in der Wohnung vergessen hatte. Ärgerlich! Das Ding war nicht teuer, aber nur mit Beschaffungsantrag, Begründung und drei Kopien zu bekommen.

Ich untersuchte erst mal den Haartrockner, im Untersuchungsantrag »Fön« genannt. Nichts Besonderes. Hatte offensichtlich im Wasser gelegen. Leichte Korrosionsspuren an den Metallteilen, die Flusen im Innern verklumpt.

Sollte ich jetzt den Adapter abholen? Eigentlich hatte ich gleich Feierabend, aber ich würde der lästigen Weihnachtshektik zu Hause noch ein wenig entgehen, wenn ich einen Umweg über den Richardplatz machte.

Herr Herzog hielt den Adapter schon in der Hand, als er die Tür öffnete. Mein Blick fiel auf die Vitrine mit den Modellbahnen. Ich hatte früher auch gesammelt – Deutschland 50er Jahre.

»Ist das etwa eine 3151? So eine habe ich bisher nur im Katalog gesehen.«

Herzog strahlte: »Ja! Eine 3151 der SBB in braun! Mein bestes Stück! Schon als Kind war ich total verrückt nach Modellbahnen, las alle Kataloge und Prospekte. Meine Eltern hatten absolut kein Verständnis.«

Ich fühlte mit ihm und vergaß, wie ich ihn noch vor ein paar Stunden verdächtigt hatte.

»Einmal hatte ich auf das Märklin-Krokodil gespart«, erzählte er. »Kostete damals 120 DM. In den Ferien hatte ich bei Schultheiß Flaschen gewaschen und bei Rot-Weiß Tennisbälle gesammelt. Alles kam aufs Sparbuch. Und dann? Meine Eltern hoben das Geld ab und kauften mir einen neuen Schrank. Einen Schrank!«

Er beruhigte sich wieder, als er verträumt die Vitrinen ansah. »Erst als Erwachsener konnte ich Geld für Modellbahnen ausgegeben. Und demnächst kommt endlich das Märklin-Krokodil von 1952 dazu! Mein Kindheitstraum …«, abrupt brach sein Redefluss ab. Er schaute mich an und stellte sich wie schützend vor die Vitrine. Mein Verdacht war sofort wieder da.

Er nötigte mich zur Tür: »Ich muss noch dringend weg, Ihren Adapter haben sie«.

Als er das Haus verließ und in einen Opel Ascona stieg, saß ich bereits in meinem Auto. Ohne sich umzusehen, fuhr er los, und ich tat etwas, das ich bisher nur im Krimi gesehen hatte. Ich folgte ihm. Er fuhr nicht weit. In der Weisestraße fand er einen Parkplatz. Ich auch. Er klingelte an einem Mietshaus und verschwand im Hausflur. Ich konnte noch sehen, wie er im Erdgeschoss rechts eine Wohnung betrat. An den Fenstern waren nur Stores vorgezogen. Er stand im beleuchteten Zimmer und stritt heftig mit einer Frau, die ich nur von hinten sah. Als er ging, rief sie ihm im Hausflur hinterher: »Lassen Sie mich in Ruhe!«

Vor sich hin schimpfend ging Herzog, ohne mich zu sehen, an mir vorbei.

Da musste Hansen ran. Gleich morgens!

Es war ruhig am Morgen des 24. Dezembers. Mein Espresso war noch heiß, als ich mit Hansen telefonierte.

»Wenn du meinst, dass es so wichtig ist, dann komm rüber«, sagte er und schien genervt.

Ich fuhr die zwei Kilometer vom LKA-Neubau am Tempelhofer Damm zur Friesenstraße ins Backsteinensemble.

»Seine Frau stirbt, und am nächsten Abend streitet er mit einer anderen? Das ist schon verdächtig!«

Hansen lachte. »Du weißt aber schon, dass du nach der StPO als Sachverständiger nicht ermitteln darfst. Du bist sowieso auf dem Holzweg. Gestern habe ich noch den Hausmeister befragt, mit dem Herzog ab und an ein Bier trinkt. Ja, er hat mal erwähnt, seine Frau würde sich in der Badewanne die Haare trocknen. Da ist doch alles stimmig.«

»Stimmig konstruiert«, sagte ich.

Hansen wurde unwirsch: »Also gut, ich werde mich noch beim zuständigen Revier nach ihm erkundigen. Du kannst mich in einer Stunde abholen, dann fahren wir in die Weisestraße zu der Frau, mit der er sich gestritten hat. Zufrieden?«

Mir blieb Zeit für ein paar Einkäufe in der Marheinicke-Halle gleich um die Ecke. Schließlich war Heiligabend.

Es war nicht mehr viel Verkehr, als ich mit Hansen nach Neukölln in die Weisestraße fuhr. Bei Karstadt am Hermannplatz wurden die letzten Kunden rausgelassen.

Eine kleine Frau in Jogginghose und Parka öffnete die Tür.

Als sie den Dienstausweis sah, zuckte sie. »Ja, gestern Abend war dieser Herzog hier. Er wollte eine Lok bei mir kaufen. Den ganzen Ramsch von meinem verstorbenen Mann hab’ ich schätzen lassen und annonciert. Dieser Herzog wollte unbedingt ein bestimmtes seltenes E-Lok-Modell der Firma Märklin. Krokodil nannte er es. Ich wollte 2800 Euro dafür haben, es war auf über 3000 geschätzt. Herzog war mehrmals da. Ich sollte es zurücklegen, bis er das Geld hat. Vor drei Tagen hab ich’s einer Frau verkauft, die zahlte bar. Und: Wer zahlt, bekommt’s. Gestern kam dann Herzog. Getobt hat er. Die Lok war für mich reserviert! schrie er. Vertragsbruch! Aufgeführt wie ein Irrer hat er sich.«

Ich musste erst mal meinen Espresso haben. Hansen war mehr für ein Bier im Bienenkorb in der Hermannstraße gleich um die Ecke. Das Bier dort war das Beste, weil es Tag und Nacht pausenlos gezapft wurde.

Im Bienenkorb verzichtete ich auf das, was sich dort Kaffee nannte. Mein Mineralwasser war eine selten bestellte Spezialität.

Auf dem Tresen stand ein geschmückter Plastikbaum. Ein Paar stritt sich laut. Sie schlug ihm ins Gesicht. Dann küssten sie sich.

Hansen war sauer. Er wollte den Vorgang abschließen.

»Fehlschuss, mein lieber Kollege, nix mit anderen Frauen. Auch auf dem Revier habe ich nichts in Erfahrung gebracht. Die Herzogs haben noch vor einem Jahr im Horstweg in Charlottenburg gewohnt. Vollkommen unauffällig. Du siehst Gespenster.«

»Horstweg? Da war ich doch bei einem Suizid in der Badewanne und habe die Messungen durchgeführt. Die Verstorbene war unheilbar krank gewesen. Die Wohnung war nicht beschlagnahmt, der Schlüssel beim Nachbarn hinterlegt. Diese hellroten Lederpantoffeln! Die hatte ich damals schon bei dem Nachbarn gesehen. Der Nachbar war Herzog! Er hatte sich den Ablauf und den Zweck der Messungen erklären lassen. Scherzhaft hatte ich ihm von der Möglichkeit einer billigen Scheidung mit Wanne und Haartrockner erzählt. Unfall, Selbstmord, Mord – keine Chance, das nachzuweisen.«

»Blödsinn«, sagte Hansen. Er wollte die Mordkommission nicht einschalten. »Die lachen uns nur aus. Selbst wenn du recht hättest, wo ist das Motiv? Jetzt trenn dich endlich von deiner fixen Idee. Hier läuft kein Spielfilm. Mach du Untersuchungen, und ich mache Ermittlungen.«

Ich wollte nicht aufgeben. Noch nicht. »Lass uns noch einmal unter einem Vorwand zu Herzog fahren. Sag ihm, dass ich ihn vom Horstweg kenne. Vielleicht kommt was dabei raus.«

Hansen seufzte. »Na gut, weil Weihnachten ist, aber dann gib endlich Ruhe.«

Ach ja, Heiligabend. Ich hatte mir schon immer gewünscht, an diesem Tag dienstlich unterwegs zu sein. Meine Frau würde mit ihrer Mutter erst mal alleine feiern. »Ich muss nur noch zu Hause anrufen!«

Hansen trank sein Bier aus und ließ mich zahlen.

Inzwischen hatte in vielen Wohnungen schon das Licht gewechselt. Die Weihnachtsbäume waren beleuchtet. Im Treppenhaus am Richardplatz hörten wir Weihnachtslieder.

Herr Herzog öffnete uns die Tür. Es schaute ins Leere und schien sich über unseren Besuch nicht zu wundern. Wir gingen ins Wohnzimmer. Auf dem Tisch stand das Modell einer E-Lok. Das Krokodil. Ich erkannte es sofort. Daneben lag zerknülltes Weihnachtspapier. Hansen wollte etwas sagen. Herzog winkte ab. Er setzte sich auf die Couch, sank in sich zusammen. Mehrmals bewegte er die Lippen, bevor er sprechen konnte.

»Wer zahlt, bekommt’s!«

Er nahm die Lok zärtlich in die Hände. »Ich hab’s nicht gewusst! Letzte Woche sah ich die Anzeige einer Frau Repp. Sie löste eine Sammlung auf. Im Angebot war auch das Krokodil, genau das hier. Nicht mehr für 120 DM wie damals, sondern jetzt für 2800 Euro. Viel Geld! Soviel hatte ich nicht. Trotzdem! Ich musste es haben!« Herzog streckte uns die Lok entgegen.

»Meine Frau hatte doch diese Erbschaft gemacht. Fast 12 000 Euro! Ich hab sie angefleht, mir etwas abzugeben, wenigstens zu leihen. Sie wollte alles für Reisen ausgeben. Natürlich waren wir bisher nie verreist. Blödsinn. Vorgestern hat sie mir Reiseprospekte gezeigt, mich spöttisch angesehen und von einer Bahnreise in die Schweiz, zum Gotthard geschwärmt. Da fahren deine E-Loks im Original! Später hat sie aus der Badewanne gerufen: Wir könnten gleich nach Weihnachten fahren. Vielleicht sehen wir ein Krokodil. Schallend hat sie gelacht. Ausgelacht hat sie mich! Ich weiß nicht mehr, wie ich den Fön aus dem Schrank geholt, eingesteckt, in die Badewanne geworfen habe …«

Er hielt die Lok immer noch in den Händen, strich mit den Fingerkuppen über die Metallgussteile und berührte sanft die Stromabnehmer.

»Frau Repp wollte das Krokodil noch ein paar Tage für mich zurücklegen. Hat sie gesagt. Versprochen hat sie es. Jetzt hatte ich das Geld. Und dann das: Wer zahlt, bekommt’s!«

Er starrte auf die Lok. »Und heute finde ich im Schrank ein verpacktes Geschenk. Meine Frau hat es für mich gekauft. Das Krokodil. Für mich. Zu Weihnachten.«

Böser die Glocken nie klingen

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