Читать книгу Volker Bruck - Katharina Johanson - Страница 4
1. März 1991
ОглавлениеAuf der Zugfahrt zwischen München und Berlin überkam den Volker Bruck eine nicht zu unterdrückende Unruhe. Was wird, wenn sie mich gar nicht sehen wollen? Ein weitere Enttäuschung würde er nicht verkraften. Noch besser, hielt er sich mit grimmigem Humor vor, wenn sie mich auf der Straße stehen lassen, und ich nächtens gottverlassen in der Gegend herumirre und nichts mit mir anzufangen weiß. Was dann? Je weiter er sich von der Heimat entfernte, umso klarer wurde ihm die Abenteuerlichkeit seiner Unternehmung. Er sagte sich: In gewisser Weise flüchte ich vor Maria und dränge mich Leuten auf, die nichts mehr mit mir zu tun haben wollen. Dass er ein lädiertes Nervenkostüm hatte, fiel ihm gar nicht ein.
Da war die Ruhe, die den Mann umgab, als er in Kerkow aus der S-Bahn stieg, eine wahre Wohltat. Bruck schaute sich um. Der alte Bahnhof, von wenigen Lampen sparsam beleuchtet, löchriges Mauerwerk, ein schief hängendes, blechernes Ortsschild, darunter eine verwitterte Holzbank, alles ganz genauso, wie er es erinnerte, nur eben viel, viel älter. Der Zug fuhr mit leisem Summen aus der Station, der Bahnaufseher steckte den Fahrtrichtungsanzeiger zurecht und verschwand in seiner Bude. Volker Bruck war allein. Leicht ging der Abendwind, ein blasser Mond schob sich durch die Wolken, der würzige Duft aufbrechender Erde verbreitete sich. Bruck stieg die hohe Bahnhofstreppe hinab, bog links in die Bahnhofsstraße ein und lief seinen Weg zum Dorf. Die Straße lag grauschwarz vor ihm, der Mann folgte diesem Band, rechts und links wusste er Wassergräben und Felder, ganz hinten sah man winzig klein das fahle Licht der Bauernhäuser.
Bruck stolperte. Der Koffer zerrte schmerzhaft am Handgelenk. Er fing sich und fluchte: „So was nennt sich Straße! Seit eh und je nichts verbessert.“ Dabei wusste er genau, dass die Kerkower Bauern sich immer sehr um diese Straße bemüht hatten. Schwere Regengüsse unterspülten permanent den dünnen Straßenbelag, im Winter sprengte das Eis in die wenigen ebenen Abschnitte erbarmungslos tiefe Löcher, und, was das Wetter nicht anrichtete, pflügten die schweren, von einem zum anderen Feld über wechselnden Landmaschinen um. In Gruppen zogen die Kerkower immer wieder hinaus um ihre Straße instand zu setzen. Diese einzige, lebenswichtige Verbindung zu den Nachbarorten und zum Bahnhof blieb Sorgenkind. Volker Bruck begnügte sich mit beißendem Zynismus: „Nun ja, es mag schon gut sein, dass es diesen Weg überhaupt noch gibt.“
Er wusste auch, dass dieses Band zwischen Bahnhof und Ort zugleich Prozessionsstraße war. Auf dieser Straße begrüßten und bewunderten die Kerkower Bauern ihre ersten Traktoren und geleiteten sie feierlich ins Dorf. Volker war als Kind dabei gewesen, wie die russischen Zugmaschinen Einzug hielten und hatte wie alle anderen Kinder spontan beschlossen, Traktorist zu werden. Über die Bahnhofstraße wurde unter fröhlicher Begleitung von Jung und Alt die Rinderherde, die dann den Wohlstand der Genossenschaft begründete, nach Kerkow getrieben.
Ja, diese Straße hatte so einiges gesehen: Wenn die Kerkower ihr Soll ablieferten, zottelten die hochbeladenen Fuhrwerke Korn, Gemüse, Kartoffeln über diese Trasse zu den bereitstehenden Güterwagen. Zufrieden verfolgten die einen den Abtransport der Früchte ihrer Arbeit. Es war an ihnen, die Städter zu ernähren. Darauf waren sie stolz. Vereinzelte maulten herum, weil sie sich übervorteilt fühlten. Das Ablieferungsprozedere beschloss gewöhnlich ein Erntefest, bei dem sowohl die Zufriedenen als auch die Nörgler reichlich dem Freibier zusprachen und sich schließlich brüderlich in den Armen lagen. Bruck lief seinen Weg.
Er kam am westlichen Dorfrand an. Rechts lag die alte Schule. Ein kleines Licht markierte den Eingang. Neben der Schule erkannte Bruck wie ehedem die Gastwirtschaft. Über der Tür funzelte in müder Leuchtschrift das Wort „Hotel“. Volker Bruck konnte sich nicht vorstellen, dass in der schmierigen Spelunke jemals ein Reisender abgestiegen sein könnte. An das Hotel grenzte die Pfarrei. Einige Fenster glänzten einladend. Bruck erinnerte die von ihm häufig besuchte Bibliothek des Pfarrers, verweilte einen Moment träumend vor dem Grundstück und machte die Silhouette eines Menschen hinterm Vorhang aus. Gleich neben der Pfarrei befand sich die Kirche mit umliegendem Friedhof. Volker Bruck passierte diese wenigen Institute, die wie ein Vestibül dem eigentlichen Ort vorgelagert waren, und betrat die Kerkower Hauptstraße. Rechts und links flankierten Bauernhöfe den Weg. Kerkow war ein lang gestrecktes Straßendorf und praktisch unverändert seit der askanischen Gründung.
Die Höfe an der Hauptstraße gehörten samt und sonders dem Kerkower Uraltgeschlecht, Bauern, die seit Generationen hier lebten und schafften. Kaum einer von denen blickte nicht auf einen Stammbaum von hundert und mehr Jahren zurück, wobei hier und da sicher Informationen über Abstammung und Verzweigung verloren gegangen waren. Wo Informationen fehlen, werden Legenden gesponnen. Wer vorn an der Straße wohnte, hielt sich für was Besseres und bestimmte im Großen und Ganzen über weite Strecken die öffentliche Meinung von Kerkow. Volker Bruck spürte auch jetzt noch aufdringlich: Hier vorn wohnt die Autorität des Ortes.
Er bog auf der rechten Straßenseite in die zwischen zwei Altbauernhöfen eingefügte Gasse ein und betrat den schmalen Weg zur Neubauernsiedlung. Die war hinter den Höfen der Altbauern, sozusagen in zweiter Reihe, errichtet worden. Die Neubauern, Ausgewiesene aus Ostpreußen und ein paar Städter aus der damals zerstörten Metropole Berlin, hatten nach fünfundvierzig hier Land zum bewirtschaften erhalten und sich ihr Heim gebaut. Das Vaterhaus des Volker Bruck stand in der zweiten Reihe.
Als die Brucks sechsundvierzig nach Kerkow kamen, war Volker noch so klein gewesen, dass er der Anfänge nicht erinnerte. Allerdings war der Anfang wohl schwer gewesen, die Alten berichteten mitunter davon, dass ein regelrechter Krieg zwischen Alteingesessenen und Zugezogenen entbrannt war. Doch mit den Jahren schliffen sich Ecken und Kanten ab und die Leute verbreiteten sich in wahren Heldensagen über den siegreichen, für alle zuträglichen Start in eine lichte Zukunft. So erzählte man es den Kindern, so nahmen es dann auch die Geschichtsbücher auf: Man versöhnte sich, stiftete Frieden, vergaß und wirtschaftete schließlich zum Wohlgefallen aller in einer großen Genossenschaft.
Allein, der alte Zwist erlosch nie gänzlich. Ab und an schossen Widersprüche wie die Lava aus einem ruhig geglaubten Vulkan hervor. Dann geriet einer der Leute ins Feuer und wenn er nicht verbrennen wollte, musste er bei Nacht und Nebel fliehen. War es Flucht gewesen?, fragte sich Volker Bruck. Nun ja, nicht gerade Flucht, schränkte er ein, aber man musste doch zumindest temporär raus aus diesem Wust an Streitereien, um nicht runtergezogen zu werden. Wollte man zurückkehren, wurde man von den eigenen Leuten ausgestoßen! Diese Erinnerung war bitter.
Volker Bruck fand sein Ziel. Sein Elternhaus war das fünfte Gehöft in einer schnurgeraden Reihe von Bauernhöfen. In dem Moment, als er die Hand zum Klingelknopf an der Pforte hob, verließ ihn der Mut. Er stand draußen und zauderte. Der Mond verschwand hinter den Wolken, der Wind wurde stärker, Regen kam auf. Umkehren war genauso unbehaglich wie sich melden. Er riss sich zusammen und drückte den kleinen Zylinder nieder.
An der Haustür flammte Licht auf, es wurde geöffnet, man rief: „Wer da?“. Dazu eine zweite Stimme: „Das wird der Volker sein.“ Der Mann durchschritt den Vorgarten, stieg ein paar Stufen hoch und ward augenblicklich im schmalen Hausflur von einer Menschenmenge umringt. Ihn drückten, küssten und tätschelten viele Leiber, Münder und Hände. Sie redeten auf ihn ein. Volker Bruck fühlte sich arg bedrängt. Allmählich unterschied er von erklärenden Worten begleitet: Die Schwägerin Karin, Nachbarn und Nachbars Kinder. Abseits, zusammengedrückt, klein und schrumpelig stand die Mutter. Sie hatte die Hände vor dem Gesicht und schluchzte. Volker drängelte sich durch den Menschenhaufen, legte der Mutter die Arme um die Schultern und tröstete, den Mund dicht an ihrem Ohr: „Ist ja gut. Jetzt bin ich ja da.“ Die Mutter belebte sich und ergriff Volkers Hand. Der schaute sich um. Wo ist der Vater? „Der Vater ist krank“, sagte sie leise. Die anderen nickten mitleidig.
Sie schoben ihn in die geräumige Wohnküche, nötigten ihn auf einen extra für ihn frei gehaltenen Stuhl und nahmen ihrerseits die angestammten Plätze wieder ein, um die soeben unterbrochene Mahlzeit fortzusetzen. Vor Volker wurde ein Gedeck hingestellt. Er solle sich bedienen, sagten sie ihm. Bruck überblickte den Raum. Es hatte sich nichts verändert, nur schien die Küche damals größer gewesen zu sein. Oder trügt der Schein, weil jetzt hier so viele Menschen dicht bei dicht um den mit Speisen und Getränken reich beladenen Tisch herum saßen? Alle langten gierig zu, aßen, kleckerten, schmatzten auch. Man ließ sich nicht stören, auferlegte sich keine Scheu. Nur Volker Bruck mochte keinen Bissen herunter bringen, und die Mutter saß, das Taschentuch immer wieder zu den Augen führend, still neben dem Sohn und konnte auch nichts essen.
Das Geklapper des Bestecks und die Kaugeräusche verebbten. Da griff einer zum Glas, hob es an und sprach feierlich: „Nun, lieber Volker, ich bin der Holger, wenn ich mich nochmal vorstellen darf.“ Der Mann erhob sich schwerfällig und fuhr fort: „Dann wollen wir Dich mal herzlich willkommen heißen. Prost, Leute!“ Die anderen Erwachsenen taten es dem Redner nach. Die Kinder leerten ihr Glas Limonade. Nur die Mutter und Volker blieben unbewegt. Schwägerin Karin stand diensteifrig auf, räumte den Tisch ab, begann geräuschvoll zu spülen. Die Kinder trollten sich. Die Erwachsenen rückten um Volker herum zusammen.
„Nu, erzähl ma‘! Wie war die Reise? Was machst Du so? Wie geht es Dir?“, eröffnete Holger leutselig den gemütlichen Teil des Abends. Volker wusste nicht, was er sagen sollte. Nervös nestelte er an seiner Brille. Höflich wäre es, ein bisschen was von sich zu erzählen und dann seinerseits freundliche Fragen zu stellen. Er fand keinen Anfang. Der fest im Raum stehende Geruch aus fettigem Fleisch und Alkohol machte den Mann schwindlig. Er schaute fragend in die rot geriebenen Augen seiner Mutter. Sie saß gebückt und klein neben ihm. Endlich sagte sie: „Kinder, der Junge wird müde sein. Ich schlage vor, wir vertagen uns.“
Unwillig brummend, maulend, was von „blöde gelaufen“ murmelnd, verdrückten sich die Gäste aus der Küche, riefen ihre Kinder im Haus zusammen, zogen Jacken über, schlüpften in Schuhe und die Haustür schlug zu. „Wirst müde sein“, wiederholte die Mutter in der eingetretenen Stille. Volker nickte.
Die Mutter voran stiegen sie die schmale Treppe zum Obergeschoss hinauf und nun redete sie aufgeregt: „Ich habe Dein Zimmer hergerichtet. Wirst alles wie früher vorfinden. Du sollst Dich wohl fühlen. Richte Dich bissel ein, und wenn Du noch was brauchst, ruf mich nur. Auch in der Nacht. Ich habe keinen festen Schlaf mehr.“ Sie standen sich in der Tür gegenüber. Da fragte der Sohn: „Und der Vater?“ - „Ach, Junge, das muss bis morgen Zeit haben. Schlaf gut.“
Die Alte entfernte sich. Volker lief ihr nach, nahm sie an der Treppe beim Arm und drang auf sie ein: „Mutter, sag doch, was ist mit Vater!“ Die Mutter seufzte auf, wollte nicht erzählen und berichtete dann in kurzen abgehackten Sätzen: „Vor einem halben Jahr, wie der Peter fortging, schlug es den Vater um. Nun liegt er im Pflegeheim und wartet auf den Tod. Ich mag ihn kaum besuchen, der Anblick ist schlimm, und sterben muss ja doch jeder für sich allein.“ Volker Bruck konnte es nicht glauben. Der große, starke Vater sterbend in einem Heim. „Wann darf ich zu ihm?“, fragte er mit belegter Stimme. Die Mutter: „Ist das so wichtig?“ Als sie Volkers Befremden wahrnahm, schob sie versöhnlich nach: „Morgen vielleicht, ja?“ Sie wandte sich ab. Er ging in sein Zimmer zurück.
Die alte Bruck betrat die Küche. Aufzuräumen war nichts mehr. Das hatte Schwiegertochter Karin anständig und sauber erledigt. Kraftvoll riss die Frau das Fenster auf. „Es stinkt!“, murrte sie halblaut, setzte sich auf einen Stuhl, atmete die frische Luft ein und reflektierte den Abend. Den fand sie misslungen, wenn nicht erbärmlich. Die Idee, Volkers Ankunft, wie die Heimkehr des verlorenen Sohnes zu feiern, war den Nachbarn gekommen. Neugierde war das erste Motiv der Leute gewesen. Dazu kam, dass sie keine Gelegenheit ausließen, sich bei anderen durchzufuttern und bis zum Eichstrich zu saufen. Karin hätte die ganze Geschichte ohne Aufheben abbiegen können. Auf Karin hörte man hier in diesen Kreisen. Sie tat es nicht. „Wer weiß, ob wir die Leute nicht noch brauchen. So eine kleine Feier schadet doch nicht. Der Volker wird sich freuen.“ Also feierten sie. „Dabei war es der Karin doch gar nicht um den Schwager gegangen, sich ihm gut zu stellen“, legte sich die Frau im Selbstgespräch vor, „kein Wort hat sie mit ihm geredet. Es lag der Karin daran, den Volker von Anfang an zu vergraulen. Und ich? Sitze da, heule und krieg‘ auch kein Wort raus.“ Die frische Luft tat gut, förderte nüchterne Überlegungen. Ich werde der Karin morgen ins Gewissen reden, nahm sich die alte Frau vor, schloss das Fenster und ging zu Bett.
Volker räumte seine Sachen aus dem Koffer, legte die Wäsche auf die blank geputzten Bretter im Schrank, stellte den Reisewecker auf das Bord über dem Bett und drapierte Schreibzeug und zwei Bücher auf dem kleinen Tisch. Er war nicht müde. Es war gerade mal einundzwanzig Uhr. So zeitig pflegte er niemals schlafen zu gehen. Er zog sich aus, schlüpfte in seinen Schlafanzug, steckte die Füße in weiche Pantoffeln und schlurfte mit dem Waschzeug unterm Arm in den Flur hinaus. Am hinteren Ende des Flurs, gleich neben der Tür zur Nähstube der Mutter, befand sich das Waschbecken. Volker erledigte eine Katzenwäsche und träumte sich in die Vergangenheit zurück.
Dieses Waschbecken war lange Zeit Streitobjekt zwischen Volker und seinem Bruder gewesen. Die beiden Knaben, die hier oben unterm Dach ihre Stuben hatten, zankten jeden Morgen um den ersten Platz für die Morgentoilette. Die Rangelei artete in eine wilde Schlägerei aus, die Volker regelmäßig verlor, weil der andere eindeutig stärker war. Dann trödelte der solange mit Waschen und Zähneputzen, bis Volker trotz größter Eile zu spät zum Frühstückstisch kam und von den Eltern ob seiner Langsamkeit ermahnt, manchmal sogar des Tisches verwiesen wurde. Bruder Peter heizte die morgendliche Missstimmung mit gehässigen Bemerkungen an. Volker rechtfertigte sich nie, deshalb brauchte es eine Zeit, bis die Mutter das Treiben durchschaute. Mit ihren Appellen an die Vernunft erreichte sie bei Peter gar nichts. Der Vater musste eingreifen. Er befestigte einen Zettel mit rotierenden Benutzungszeiten neben dem Waschbecken und verfügte mit drohender Stimme: „Wer sich nicht an die Regeln hält, wäscht sich künftig unten im Hof an der Pumpe. Und das für alle Zeit!“ Die Autorität des Vaters im Haus war unbestreitbar. Peter unterstellte dem Bruder „Du alte Petze!“ und fügte sich murrend. Volker gewann zwar ein Stück Ruhe und Ordnung im Tagesverlauf, verlor jedoch um ein weiteres Quantum die brüderliche Sympathie.
Der Mann schlurfte zurück in sein Zimmer, breitete das feuchte Handtuch fein säuberlich über die Stuhllehne und legte sich ins Bett. Die Wäsche knisterte leise und verströmte einen angenehmen Duft. So kannte er es von früher. Der Mutter hoher Ehrgeiz waren ausgiebig gelüftete, strahlend sauber bezogene Betten. In solch einem Bett schlief man wie im Himmel. Später, in den langen Jahren nach der Kindheit, hat Volker nie wieder so ein Einschlafgefühl verspürt. Er schloss die Augen, wollte hinüber dämmern. Allein, der Schlaf stellte sich nicht ein. Er stand missmutig auf, öffnete das Fenster und ließ die Nachtluft herein. Er lauschte. Es war mucksmäuschenstill. Von sehr fern waren schwach Bahn- und Autogeräusche auszumachen. Für den Mann am Fenster verknüpfte sich diese Ruhe nicht mit der Kindheit.
Damals war im Hof immer noch lange, nachdem die Jungen ins Bett geschickt worden waren, Lärm, Unterhaltung, Bewegung gewesen. Nicht nur bei den Brucks, sondern bei allen Bauern, begann nach dem Abendessen noch eine letzte Schicht auf dem eigenen Hof. Die Geschäftigkeit der Eltern nutzten viele Halbwüchsige aus, ihre Schlafzimmer durchs Fenster zu verlassen, sich mit Gleichgesinnten am Waldrand zu treffen und abenteuerliche Spiele in der hereinbrechenden Nacht zu veranstalten. Manchmal wurden sie entdeckt. Dann gab es einen fürchterlichen Krach. Das konnte die Jungen und Mädchen nicht hindern. Sie wurden nur vorsichtiger.
Bruder Peter schloss sich oft den kleinen Abenteurern an. Er entwich durchs Fenster, übers Schuppendach ins Freie. Allerdings lag der bequeme Abstieg auf der von Volker bewohnten Hausseite, so dass der unweigerlich Zeuge dieser Ausflüge wurde. Peter pflegte mit der Faust zu drohen und sich zu verabschieden: „Wehe, wenn Du petzt!“ Volker blieb daheim und las mit der Taschenlampe unter der Zudecke. Wurde Peter erwischt, lud er seinen Groll über das Missgeschick handgreiflich auf Volkers Buckel ab. Da halfen keine Beteuerungen. Peter war der Überzeugung, verraten worden zu sein, und fundamentierte damit die gegenseitige Abneigung. Schade, meinte Bruck bei sich, ich hätte gern meinen Bruder als Freund gehabt.
Volker hatte eigentlich nie richtige Freunde. Er liebte die Bücher, das Lernen, pflegte sein Interesse für die schönen Künste. Damit kam er bei den Gleichaltrigen kaum an, obwohl er dem Theaterklub, dem Lesezirkel, der Gruppe schreibender Pioniere die Treue hielt, waren auch dort seine Bekanntschaften nur flüchtig, denn die anderen Kinder beschränkten ihre Teilnahme an den schöngeistigen Arbeitsgemeinschaften auf ein bis zwei Visiten, um sich rasch und dauerhaft den Naturforschern, den Modellbauern oder den Wanderfreunden anzuschließen. Feste Bindungen zu anderen Kindern waren dem Volker also nicht möglich. Da hielt er sich eher zu den Erwachsenen: Die Mutter sowieso, die Lehrer und der Pfarrer. Von denen fühlte er sich verstanden. Sie lobten den wissbegierigen, zurückhaltenden Knaben.
Die Mutter hatte alle Male viel zu wenig Zeit für ihre Kinder. Sie schaffte unermüdlich in der Genossenschaft, hier auf dem Hof und im Haus. Ihre Hände rührten sich ständig. Volker kannte sie nicht anders als arbeitend. In der kleinen Kammer am hinteren Ende des oberen Flurs hatte die Mutter ihre Nähstube eingerichtet, und wenn sie dort ihre Flickerei betrieb, huschte der Volker herein, setzte sich auf ein Fußbänkchen und sie redeten von Gott und der Welt. Die angeborene Nähe zwischen Mutter und Sohn blieb nicht nur erhalten, sie verfestigte sich mit den Jahren. Während andere Kinder das Band zur Mutter mit zunehmendem Alter stürmisch lösen, hielten die Seelen der beiden sich fest umschlungen.
Unschlüssig stand Volker am Fenster.
Der Regen hatte nachgelassen, frühlingshaft milde Luft wehte herein. Sollte er sich etwas überziehen und einen Spaziergang machen? Lieber nicht, entschied er, denn sein Aufbruch würde Lärm verursachen und die Mutter stören. Er tapste in den schmalen Flur hinaus, öffnete die Tür zu Peters ehemaliger Stube. Alles unverändert und blitzblank geputzt. Unglaublich! Die Eltern, beiden voran wahrscheinlich die Mutter, hüteten die Kinderzimmer wie einen heiligen Gral. Volker wandte sich um. Nun die Nähstube: Er öffnete diese Tür, betätigte den Lichtschalter und schrak zurück.
Bruck erschrak dermaßen vor dem ungewöhnlichen Anblick, dass er ernsthaft glaubte, einer Wahnvorstellung erlegen zu sein. Er stürzte in sein Zimmer, suchte und fand die Brille, setzte sie auf und lief wieder hinüber zur Kammer. Staunend betrachtete er klaren Blickes den unglaublichen Fund: Vom Boden bis zur Decke, den ganzen Raum ausfüllend sah Volker Bruck Bücher. Ja, Bücher! Nichts als Bücher.
Das Unfassbare an diesem Fund war, dass der Mann sich nicht daran erinnern konnte, außer eventuell dem Telefonbuch und der Kinder Schulbücher, in diesem Hause jemals ein Buch gesehen zu haben. Wozu hat einer Bücher, wenn er nicht liest? Vorsichtig tastend berührte Volker die Buchrücken, zog einen Band heraus. Er blätterte ihn auf. Ein gebrauchtes Buch. Titel und Verlag sagten ihm nichts. Er legte das Buch zurück und griff ein anderes. Der gleiche Befund. Warum, wenn man sich in seinem Elternhaus nun doch für Bücher interessierte, waren sie hier oben abgelegt und nicht ordentlich in eine kleine Bibliothek einsortiert, wie er es bei sich in München, ja, wie es jeder normale Mensch handhabte? Das hier waren doch wenigstens fünftausend Bände.
Eine Weile kramte Volker so herum, ohne sich eine Erklärung geben zu können. Dann kam er drauf: Diebesgut! Konnte man mit gebrauchten Büchern Handel treiben? Offenbar ja. Er nahm sich das nächste Buch vor, untersuchte es gewissenhaft und stellte fest, dass es aus einer Bibliothek entwendet war: „Kreisbibliothek Nordstadt“ war vorn eingestempelt. Er drehte das Buch um. Na klar, der typische Bibliothekseinband mit Standortnummer. Er schob Stapel beiseite, verschaffte sich Platz, legte Bücher in den Flur hinaus, kroch in die Tiefe des Raumes und entdeckte, nun schon nicht mehr zu seiner Überraschung, sondern kühl registrierend, ganze Kisten mit druckfrischen Büchern. Nach eingehender Inspektion kam er zu dem Ergebnis: Fast alle Bücher stammten aus Leihbüchereien und einige sind direkt aus der Binderei gestohlen worden.
Erschöpft ließ sich Volker Bruck zwischen den Bücherstapeln nieder. Er zog ganz grob Bilanz: Das Buch, na sagen wir mal, für zehn Mark, kommt man locker auf an die fünfzigtausend. Wenn das mal langt. - Bruck war in ein Diebesnest geraten! Jetzt erklärte sich ihm so einiges: Das traurige, niedergeschlagene Gebaren der Mutter. Die merkwürdigen Gäste vom Abend. Die Flucht Peters. Und dass der seine Frau, die Karin, hier zurück gelassen hatte. Die soll wohl das Diebesgut bewachen. Und wo war der Vater wirklich? Wer weiß, was sich in Haus und Hof noch so alles abspielte.
Er stützte die Ellenbogen auf die hochgezogenen Knie und nahm den Kopf zwischen die Hände. Er überschlug alle möglichen Varianten: Er wollte nichts mit deren Verbrechen zu tun haben. Also, morgen augenblicklich alles stehen und liegen lassen und abreisen? Das wäre zu seinem Schutze. Nur, was würde dann aus der Mutter werden? Volkers strapazierte Nerven gaukelten ihm die Mutter als Geisel zwischen halbwilden Räubern vor. Die Mutter entführen und mit nach München nehmen? Oder die Sache zur Anzeige bringen? - Über seinen Fantasien schlief Volker Bruck ein.