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2. März 1991
ОглавлениеNach Stunden erwachte der Mann. Er war völlig zerschlagen und durchgefroren. Von der Küche unten drangen Wirtschaftsgeräusche, Gesprächsfetzen, der Geruch von frischem Backwerk und Kaffeeduft zog zu ihm nach oben. Volker hatte halb liegend, halb sitzend zwischen den Bücherstapeln im Flur genächtigt. Er erhob sich mühsam. Erst aufräumen, alles wieder rein in die Kammer, dann waschen und anziehen, nahm der Mann krampfig seine Gedanken zusammen, dann hinuntergehen und frühstücken. In seinen Därmen wühlte ein Bärenhunger. Später wollte er die Lage sondieren.
Er stapelte die Bücher so zusammen, wie er glaubte, sie gestern vorgefunden zu haben.
Da kam Schwägerin Karin die Treppe hoch und sagte freundlich: „Guten Morgen, Volker. Wollte Dich grade zum Frühstück holen.“ Der Mann hielt erschrocken inne und wendete sich langsam um. Aha, die Diebesbraut!, gaukelten ihm sein übernächtigtes Gehirn vor. Karin die Situation auf ihre Weise deutend: „Ich sehe, Du hast Dir schon was ausgesucht.“ Volker fehlten die Worte bei so viel Unverfrorenheit. Meinte die Frau etwa, er habe sich seinen Anteil an der Beute bereits gesichert und damit freiwillig in ihre Hand begeben? So war es gar nicht!
Karin schaute in sein verdutztes Gesicht und folgerte richtig: Dem fehlen eine Masse Informationen. Sie erklärte anteilnehmend: „Das hätten wir Dir gestern Abend eigentlich gleich noch zeigen sollen. Aber alle waren ja auch irgendwie müde und abgespannt. Es sind nämlich richtig gute Sachen dabei, auch Bildbände, wie Du sie magst. Und was über Kunstgeschichte.“ Sie griff in einen Bücherstapel und zog einen dicken Wälzer heraus, betrachtete ihn, legte ihn enttäuscht wieder weg und sagte entschuldigend: „Schade, ich dachte, da wäre er gleich. Müssen wir dann eben andermal systematisch suchen. Gesehen habe ich ihn aber schon. Ich meine den Hamann.“ Sie lächelte Verständnis erheischend. Dem Volker vermischten sich Misstrauen, Abneigung und Sympathie.
Woher wusste diese ihm völlig unbekannte Frau von seinen literarischen Vorlieben? Sie hatte soeben derart vertraulich das Gespräch eröffnet, als wäre er nie fort gewesen. Woher kam diese plötzliche Nähe? Nähe, die augenblicklich sein Misstrauen nährte. Ach was, schob Volker den Gedanken weg, Schwägerin Karin, mag zufällig den richtigen Nerv getroffen haben. Trotz erzwungener Beruhigung nahm er sich vor, wachsam zu sein.
„Mutter und ich warten in der Küche auf Dich“, sprach sie, wendete sich ab und stieg die Treppe geschwind hinab. Der Mann ließ die Bücher liegen, ging in sein Zimmer und richtete sich für den Tag her.
Während er sich anzog, erinnerte er sich seiner ersten Begegnungen mit Hamann.
Auf der Suche nach brauchbaren kunsttheoretischen Erläuterungen war der junge Bruck auf die „Geschichte der Kunst“ von Richard Hamann gestoßen, hatte sich darin vertieft und das Werk lieben gelernt. Unmöglich konnte Volker die beiden Bände auch käuflich erwerben, so gern er die Bücher auch ständig bei sich gehabt hätte. Hamanns Kunstgeschichte war rasch vergriffen gewesen, und so musste sich der Junge mit der Lektüre in der Privatbibliothek von Pfarrer Günzel zufrieden geben. Volker sog jedes Wort der immerhin zweitausend Seiten umfassenden Abhandlung mit wahrer Gier und größter Lust ein. Und je weiter er vorwärts kam, umso mehr eröffnete sich ihm das Reich der Kunst als Wissens- und Lebensquell.
Einmal sagte der Pfarrer zu dem lerneifrigen Jungen: „Du weißt schon, dass der Hamann an der Berliner Universität zuweilen noch immer liest.“ Nein, das wusste der damals Fünfzehnjährige nicht. Derart angeregt von seiner Lektüre und Günzels Hinweis spionierte der Knabe die Gegebenheiten an der Universität aus und setzte sich still und bescheiden in die letzte Reihe des großen Hörsaals, um dem Meister zu lauschen. Für immerhin neunzig Minuten entrückte Volker der Realität und erlebte eintauchend in die wunderbare Welt von Bildnerei und Architektur die Erhabenheit ästhetischen Schaffens.
Volker tarnte seine Unternehmungen gut, denn für die Ausflüge nach Berlin musste der Junge die Schule schwänzen und die häuslichen Pflichten vernachlässigen, aber irgendein Denunziant findet sich ja immer. So war denn die Kehrseite seiner Visiten in die schöne Welt Stubenarrest und Essensentzug. Das schmerzte nicht sehr, weil die Mutter ihm Essen heimlich zusteckte und Volker das Herumstromern sowieso nicht mochte.
Gern hätte sich der junge Bruck mit dem großen weisen Richard Hamann in kunsttheoretischen Fragen beraten. Ein persönliche Annäherung an den geschätzten Gelehrten wusste er nicht zu bewerkstelligen, also verliebte er sich immer mehr in dessen schriftliche Auslassungen, bis er eines Tages flehend den Pfarrer bat, ihm Hamanns Werk zu überlassen. Der Pfarrer Günzel, lehnte das Anliegen aktuell ab und vertröstete auf später. „Ja, vielleicht in ein paar Jahren, wenn Du wirklich Kunsttheorie studiert haben wirst.“ Er sagte es nicht, doch Volker spürte genau, dass er wie alle anderen dieses Interesse für Kunst als jugendliche Schwärmerei abtat und für vergänglich hielt.
Allein, ich blieb dran, wie man heute sieht, dachte der Mann bei sich, besah seinen Aufzug im Spiegel und stieg die Treppe hinunter.
Volker Bruck erschien in der Küchentür. Das Gespräch der Frauen brach abrupt ab. Auf ihn machte die Küche jetzt den Eindruck wie ehedem: Alles zweckmäßig angeordnet, die frische, duftende Atmosphäre des frühen Morgens, der Tisch verkleinert auf vier Plätze. Das war sein Elternhaus. So mochte er es annehmen. Volker grüßte: „Guten Morgen.“ Die Mutter dankte, Karin nickte. Der Tisch war für drei gedeckt, die Frauen hatten bereits Platz genommen, er setzte sich ebenfalls. Karin eifrig: „Kaffee oder Tee?“ Volker wählte Kaffee, Karin goss ihm ein und rückte Zuckerdose und Sahnekännchen auffordernd in seine Nähe. Sie aßen schweigend.
Als die Servietten zerknüllt auf den Tellern lagen, richtete Karin das Wort an Volker: „Was hast Du vor?“ Er fuhr zusammen. Der Ton! Die Frage! Sind wir hier beim Barras?
Unbeabsichtigt war die Frau in die Diktion der Herrin von Haus und Hof verfallen. Üblicher Weise duldete die Mutter diese Art, jetzt missbilligte sie die Forschheit und beschwor die Schwiegertochter: „Karin! - Karin, das ist doch unser Volker.“ Einwand und Milde förderten Karins Widerwillen. „Man wird doch wohl erfahren dürfen, womit der Herr Doktor gedenkt, seine Tage hier zu gestalten“, rechtfertigte sie sich spitz. Volker Bruck fühlte sich vor den Kopf gestoßen. Ich bin nicht willkommen, registrierte er, welch sinnloses Unterfangen. Kurz entschlossen: Ich werde mich hier nicht lange festsetzen.
Die alte Bruck versuchte zu schlichten. Sie kannte die an Paranoia grenzenden Verlustängste ihrer Schwiegertochter, den unter einer harten Schale verborgenen sehr weichen Kern. Ihr lag aber auch am Sohn, dessen empfindsames Wesen nicht mal eine harte Schale schützte. Begütigend sprach die Alte: „Kinder, vertragt Euch! Es ist nichts Schlimmes passiert und es wird auch nichts Schlimmes passieren. Der Volker macht ein paar Tage Urlaub, nicht wahr? Wir schwatzen ein wenig und lassen es uns gut gehen, nicht wahr?“
Karin riss sich zusammen. An der Schwiegermutter lag ihr, an dem Schwager nichts. Der kam jetzt schlimmsten Falls alle Jubeljahre für ein paar Tage auf Besuch. Sie wollte sich drauf einstellen. „Schwamm drüber!“, verkündete sie burschikos und reichte dem Bruck die Hand über den Tisch. Dem war diese Annäherung unangenehm. Zögernd nahm er die Hand. Die Mutter segnete den Bund: „Recht so, Kinder.“ Gezwungen, nichtssagende Themen berührend näherten die drei Menschen sich vorsichtig einander an.
Karin Brucks raue Art war die Frucht bitterer Enttäuschungen, dabei hatte sie ehedem mutig und talentiert ihren Lebensweg beschritten. Sie beherrschte ihr Handwerk, die Autoschlosserei, konnte sich unter Männern durchsetzen. Mehr noch, sie schaffte in der Gemeinde, war hilfsbereit und entgegenkommend. Allerdings waren ihr die letzten anderthalb Jahre wie ein Alptraum vorgekommen. Die Veränderungen im Land kamen wie ein Gewitter über die junge Bruck, aber anstatt die Dinge zu reinigen, hatte dieses Gewitter undurchsichtigen Nebel hinterlassen, in dem Karin hilflos vorwärts tappte. Das Schlimmste von allem war die gottverfluchte Einsamkeit, die Not, mit allem allein fertig werden zu müssen. Freunde waren da. Ja. Aber Freunde sind eben nur Freunde. Familie war in Karins Augen mehr. Und die war an der Wende zerbrochen. Kaum ein paar Wochen nach der Währungsunion hatten sich Karins drei Kinder, der Arne, die Lea und die Pia, in alle Winde zerstreut. „Mutter, man will doch was von der Welt sehen“, war die Begründung gewesen und es hieß zum Abschied: „Ist doch nicht auf ewig. In den Semesterferien kommen wir Dich besuchen.“ Draußen glaubten sie nun, lernen zu können, was sie hier nicht lernen wollten, dabei war doch im Ort für jedes von ihnen so gut vorgesorgt gewesen. Semesterferien waren seit deren Weggang schon zweimal gewesen. Eine Ansichtskarte von fernen Gestaden und ein Anruf, man habe keine Zeit. Der Mutter bedurften sie nicht. Das kann man verschmerzen, meinte Karin bei sich, Kinder gehen nun mal irgendwann aus dem Haus. Aber auch als die Frau des Peter Bruck taugte sie nicht. Nachdem Peter im Sommer vorigen Jahres aus der Armee entlassen war, fing er hier was an und dort was an, werkelte ziellos herum, um kurzfristig alles hinzuschmeißen. Karin konnte ihren Mann nicht halten. Fort war er. Keine Nachricht. Kein Lebenszeichen. Kein Zurückkommen. Da hängte sich die Karin Bruck hingebungsvoll an die alte Schwiegermutter, umsorgte die, kämpfte um den Erhalt des Hofes und musste sich eingestehen, dass es so auch nicht ging. Alles war überdimensioniert, überhaupt nicht beherrschbar. Karin sondierte ihre Möglichkeiten und kam zu dem Entschluss, einen Großteil des Familienbesitzes zu verkaufen und mit dem daraus fließenden Geld hier auf dem Hof eine eigene Autowerkstatt einzurichten.
Das Gespräch wurde allmählich aufgeschlossener geführt. Man war bei den aktuellen Eindrücken über die hiesigen Verhältnisse angekommen. Karin entwickelte freimütig den Plan von der Autowerkstatt. „Das bringt richtig Geld. Autos gehen immer“, berichtete die Frau von ihrer Sache überzeugt. Volker hatte aufmerksam zugehört und fragte irritiert: „Die Mittel für die Investition kommen aus dem Landverkauf?“ - „Aber ja doch. Das Land kommt weg“, bestätigte die Mutter.
Volker Bruck wollte nicht verstehen: „Ihr verkauft das Land?!“ Mutter und Karin bekräftigten ihre Absicht. „Aber Mutter! Das ist Euer Land. So was verkauft man doch nicht.“ Karin: „Wie denn dann? Wir können es nicht bewirtschaften.“ Volker schlug vor: „Man kann es verpachten. Andere wollen vielleicht Landwirtschaft betreiben.“ Karin sicher: „Hier in dieser Gegend macht niemand mehr auf Landwirtschaft, eventuell ein bisschen Gartenbau.“ Volker bedenklich: „Ihr wolltet doch dieses Land, Mutter.“ Die Alte druckste: „Na ja, schon.“ Volker: „Was gab es für einen Krach wegen der LPG!“ - „Ja, ja, gab es“, pflichtete die Alte bei. Volker suggestiv: „Da behält man doch sein Land, wenn man so viele Jahre drum gekämpft hat.“ - „Wir brauchen doch das Geld“, suchte Karin Verständnis zu erheischen und erreichte genau das Gegenteil.
„Ihr raffgieriges Volk! Geld, Geld, Geld! Als ob es nur darum ginge“, schimpfte sich der Mann in Rage, „Ihr denkt nur an Geld. Gibt es denn für Euch überhaupt keine vernünftigen Werte mehr?“ Er holte tief Luft. Nachdenkliche Pause. Jetzt fiel es ihm wieder ein und er sprudelte weiter: „Übrigens das Diebesgut da oben unterm Dach. Das ist doch bezeichnend für Euch! Wer kam denn auf diesen Einfall, ausgerechnet Bücher zu stehlen?“ Die beiden Frauen machten große Augen. Volker ereiferte sich inquisitorisch: „Konntet ihr Euch nichts anderes unter den Nagel reißen?“ Er brach ab. Mutter und Karin blickten sich ratlos an.
Plötzlich lachte Karin aus vollem Halse. Sie ließ ein befreites, allmählich derb werdendes Lachen erklingen und wollte sich nicht beruhigen. Volker war völlig verblüfft, die Mutter irritiert. Herausfordernd zeigte Karin mit dem Finger auf den Mann: „Du, Fremder! Du hast nichts verstanden. Gar nichts. Du glaubst, die Bücher sind gestohlen?“ Volker nickte, schob die Brille hoch, und sie konstatierte jeden Silbe einzeln betonend: „Wir haben die Bücher gerettet. So liegt das!“
Die alte Bruck und Karin redeten abwechselnd auf den Volker ein: Nach der Währungsunion, besonders nach der deutschen Wiedervereinigung wurden die Bibliotheken der DDR samt und sonders geschliffen. Alles was nur irgendwie nach DDR aussah, flog raus, kam in die Papiermühlen, in die Müllverbrennung oder einfach nur auf Halden und in abgelegene Speicher. Verlage machten dicht oder änderten ihr Programm, Gedrucktes wurde nicht mehr an den Handel ausgeliefert. Mitleidige Bürger gaben den Büchern ein neues Heim. Peter begann damit und Karin setzte es fort. Sie sammelten die Bücher ein und stapelten sie hier unterm Dach. „Mein Bruder und Bücher? Das kann ich gar nicht glauben“, zweifelte Volker Bruck. Mutter: „Doch, doch. Der Peter war im Alter denn doch fürs Lesen zu haben. Nicht unbedingt was Wissenschaftliches, aber Romane auf jeden Fall. Er lobte sich den Lion Feuchtwanger, den Hans Fallada, den Heinrich Mann. Ein Buch hatte Peter alle Male dabei.“ Karin ergänzte: „Manchmal war er stundenlang nicht ansprechbar, dann hatte er ein Buch auszulesen, dessen Ende ihn brennend interessierte.“
Die Gemüter beruhigten sich. Volker Bruck war erstaunt und befremdet. Er fragte: „Was soll mit den Büchern werden?“ Die Frauen wie aus einem Munde: „Wenn Geld aus dem Landverkauf da ist, unterhalten wir hier unsere eigene Bibliothek.“
Karin nahm den vorigen Faden sehr freundlich wieder auf: „Nun, Volker, was hast Du also vor.“ Volker: „Ich würde mich gern in der Gegend umschauen.“ Die Frauen nickten beifällig. „Und den Vater besuchen“, schob er leise nach. Karin spulte geschäftig ab: „Also hast Du den Vormittag für einen Spaziergang, Mittag gibt es pünktlich halb eins, und Nachmittag gegen Abend gehen wir rüber zu Vater ins Pflegeheim.“ Volker zwinkerte der Chefin des Hauses zu und nahm scherzend deren Ton auf: „Okay Boss, so machen wir es!“ Sie lächelten alle drei, erhoben sich, der Volker nahm seinen Mantel und verabschiedete sich von der Mutter: „Bis Mittag, denn!“
In der Haustür erwartete ihn die Karin. Die soeben gewonnene Nähe zerbrach abrupt, weil Karin bestimmte: „Ich gebe Dir die Kira mit. Die passt ein bisschen auf Dich auf und führt Dich sicher wieder heim.“ Volker fuhr hoch: „Bin ich ein Kind?! Wer soll aufpassen?“ Karin pfiff auf zwei Fingern und ein riesiger bärbeißiger Schäferhund schoss um die Ecke. Volker erstarrte augenblicklich. Das Tier legte sich leise winselnd vor Karins Füße und schaute mit treuen Augen zu seiner Herrin auf. Volker hatte noch nie was für Tiere übrig gehabt und für Hunde schon gar nicht. Der hier flößte ihm gehörigen Respekt ein. Karin eindringlich zum Hund: „Kira, das hier ist der Volker. Dein Herr. Pass schön auf!“ Zu Volker: „Gib mir Deine Hand.“ Der schrak zurück. Karin befahl: „Gib mir Deine Hand!“ Er gehorchte blind. Der Hund beschnupperte die Hand des neuen Herrn, winselte verstehend, wedelte vergnügt mit dem Schwanz und setzte sich dem Volker zur Seite. Karin lobte: „Brav so, Kira.“ Volker protestierte: „Ich soll doch nicht etwa mit diesem Hund von Baskerville losziehen! Der bringt mich doch glatt um.“
Karin schüttelte mitleidig den Kopf, seufzte und dozierte dann streng: „Volker, tut mir leid, dass ich das sagen muss: Du bist dumm wie ein Schaf. Die Zeiten haben sich geändert. Es ist unruhig im Land. Wir haben nicht nur Freunde. Du kommst jetzt vom Hof des LPG-Vorsitzenden Bruck. Du gehörst seit gestern Abend zu uns. Das heißt also, aufpassen!“ Der Mann wirkte verunsichert. Da schmälerte Karin ihre Rede um ein paar Nuancen ab: „Nicht, dass sie hier offen auf uns schießen würden oder so. Das nicht. Aber eine Farbbüchse landet schon mal an der Hauswand, ein Stein fällt unglücklich oder ein Auto streift zu dicht am Gehsteig entlang. Die Kira kann so was nicht gänzlich verhindern. Nein. Aber sie hält mögliche Angreifer gut fern. Die kleinen Attentäter sind nämlich auch feige.“ Volker bei sich: Oh Gott, der wilde Osten! - Zur Karin versöhnlich: „Wenn Du meinst, werde ich das Hündchen eben ausführen.“ - „Macht‘s gut, Ihr beiden“, grüßte die Frau und entfernte sich. Volker schlug den Weg Richtung Felder ein. Der Hund folgte in geringem Abstand.
Volker Bruck lief so lange, bis die Siedlung nur noch als schmale Silhouette ganz hinten zu erkennen war. Er schaute sich um, breitete die Arme aus, atmete tief durch, blickte über den Boden, dann zum Himmel: Von Horizont zu Horizont nichts als Erde, und um diese Jahreszeit kaum Bewuchs. Nur einige Baumreihen mit ihren blattlosen Kronen zogen sich Perlenschnüren gleich an den Feldrainen entlang und verliefen sich in der Ferne. Die Erde hier ist eine riesengroße, flach hingelegte Scheibe, darüber wölbt sich die blaue Himmelskuppel. Die Sonne goss silbrig goldenes Licht aus. Das Land um ihn herum schien ihn schweben zu lassen. Das ist schön, dachte Volker, das ist wunderschön. Ich bin ganz allein im Weltall. Ein leiser Wind ging und verstärkte den Eindruck des Fliegens. Er fühlte sich wohl.
Wenn ich ein Bild malen wollte, träumte der Mann, würde ich es genauso malen. Als Kind hatte er gemalt, es dann aber aufgegeben und sich in späteren Jahren nur noch als Kritiker oder Gutachter mit der Malerei beschäftigt. Wenn ich also ein Bild malen wollte, spürte Bruck seinem Gedanken nach, würde ich dieses flache Land zumindest als Hintergrund wählen. Egal welches Hauptmotiv ich bringe oder wo mein Bild später ausgestellt ist, jeder kann am Hintergrund den Entstehungsort konkret einordnen. Nun ja, jeder Laie vielleicht nicht, aber jeder Fachmann wüsste schon Bescheid. Wenn ich denn malen wollte, träumte Volker weiter, würde ich immer nur dieses schöne, weite Land malen.
Er schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, stand seine geliebte Helena anmutig lächelnd vor ihm. Ein Trugbild. Er wischte es fort. Warum habe ich eigentlich nie ein Bild für meine Helena gemalt? Sie hätte sich bestimmt gefreut. Sie war so empfänglich für kleine romantische Szenen. Stattdessen schenkte ich Schmuck und Kleider. Vergänglichen Plunder. Schade drum. Ein feines, schmerzhaftes Ziehen ging durch Brucks Brust. Helena ist hier, spürte er. Er schaute sich unwillkürlich um. Keine Menschenseele war zu sehen. Bruck nannte sich einen Narren und zwang sich zurück in die Gedanken über Malerei. Die Nähe der Helena ließ sich jedoch abschütteln. Da nahm er sie bereitwillig an die Hand und schritt mit ihr weit, immer weiter hinaus.
Der Mann erschöpfte sich angenehm im Laufen. Der Hund folgte seiner Spur. Ein Wassergraben versperrte den Weg. Bruck hielt an. Der Hund war mit einem Satz drüben und lockte winselnd. „Da muss ich passen“, gestand Volker schmunzelnd und rief den Hund: „Wir gehen heim.“ Das Tier gehorchte. Die Siedlung nun im Blickfeld beschritt Bruck den Feldweg. Ein Windstoß blähte ihm den Mantel. Das Bild der Helena vermischte sich mit dem Wind, wurde fortgetragen, entschwand. Der Mann blieb stehen, registrierte verwundert die Erscheinung, und ganz ohne Wehmut fühlte er sich freigegeben.
Karin und Mutter Bruck bereiteten das Mittagessen zu. Sie wirtschaften gemeinsam. Es lohnte nicht mehr zwei Haushaltungen zu führen. Karin ging nur zum Schlafen rüber in ihr Wohnhaus.
Sie nahm das morgendliche Gespräch wieder auf: „Es mag gut sein, dass der Volker hier ist.“ So ein Gesinnungswandel?, wunderte sich die Alte. Karin erklärte: „Er kann uns wirklich ein bisschen unter die Arme greifen.“ Die Mutter: „Ich wüsste nicht womit.“ - „Ein Hof ohne Mann, ist schließlich auch nur eine halbe Sache.“ Die alte Bruck entgegnete: „Die Landwirtschaft geben wir auf und alles andere hast Du doch im Griff.“
Die junge Frau Bruck entwickelte ihre neuesten Einsichten. Sie hatte dem Volker vorhin eine Weile nachgesehen, wie der mit dem Hund loszog. In Anzug und Mantel machte der Mann einen ansehnlichen Eindruck. Wenn der sich aus familiärer Verbundenheit der hiesigen Wirtschaft zuwenden würde, wäre das eigentlich ein Schnäppchen, und könnte folgende Form annehmen: Karin zieht die Autowerkstatt auf, arbeitet mit den Schlossern im Hintergrund. Volker mimt den Chef und stellt sozusagen die Autorität dar. Er treibt das Geld bei den Kunden ein und führt Aufsicht über die Buchhaltung. „Er soll ja gar nicht arbeiten, nur eine gute Figur machen“, beendete Karin ihren Vortrag.
Wohlwollend vermerkte die alte Bruck, dass Karin bereit war, sich mit Volker zu arrangieren. Aber sie wendete ein: „Ob er hier bleibt oder nicht, ist noch gar nicht raus. Außerdem würde ihn ein Leben, nur so, um eine gute Figur zu machen, gar nicht ausfüllen. Wie Du Dir das denkst! Man stellt sich doch nicht einfach jemanden auf den Hof und schon kuschen alle. Ist doch Quatsch.“ Karin eindringlich: „Du musst Dir das nicht so plakativ vorstellen. Volker kann doch hier leben, meinetwegen kann er sogar mein Haus haben. Ich bleibe dann ganz bei Dir“, Karin lächelte die Alte gewinnend an, „da schreibt er dann seine Bücher, betreibt seine Forschungen und so weiter. Im Großen und Ganzen ist er aber endlich wieder ein Bruck der Herr im Haus.“ Karin strahlte naiv. Die alte Frau registrierte: Jetzt ist der eine Sicherung durchgebrannt! Ich wusste gar nicht, wie sehr die Karin gelitten hat.
Sie gab vorsichtig zu bedenken: „Mädel, das geht nicht. Vielleicht hat er eine Frau zu Hause und er kann seine Verpflichtungen dort gar nicht auflösen. Der schmeißt doch nicht so einfach alles hin. Der ist doch gewissenhaft und bodenständig.“ - „Sieht man ja! Deshalb ist er damals auch abgehauen“, entgegnete Karin gereizt. „Das kannst Du nicht beurteilen, bist nicht dabei gewesen“, fuhr die Alte dazwischen, mäßigte sich und warb gefühlvoll: „Der Volker ist doch so empfindsam und gar nicht für unser Leben hier abgerichtet. Das wird nichts. Der geht hier ein.“ Karin geiferte gehässig: „Das zarte Jüngelchen.“ Die Alte versöhnlich: „Karin, lass uns nichts überstürzen. Er ist doch gerade erst einen halben Tag hier.“ Die junge Bruck schluckte weitere Widerworte runter. Sie wollte keinen Streit. Sie tröstete sich: Kommt Zeit, kommt Rat.
Die alte Bruck nahm einen Eimer zur Hand, legte ein paar Kohlen hinein, stapelte Holzscheite darüber, klemmte sich eine Zeitung unter den Arm und gab der Karin Bescheid: „Ich geh‘ mal oben anheizen.“ Sie hörte nicht mehr, wie die andere eifersüchtig maulte: „Verwöhne den nur, das zarte Jüngelchen.“
Mühsam stieg die Frau die schmale Treppe hinauf. Erinnerungen strömten ihr zu: Es war nicht leicht gewesen, die Heizstellen für die Kinderzimmer durchzusetzen. Unten im Haus heizten sie seit eh und je alle Räume von der Küche aus. Das Ergebnis war, dass in der Küche ewig die bullige Hitze stand, das Wohnzimmer mäßig warm wurde und das Schlafzimmer einer Eishöhle glich. Solange die Kinder klein waren und bei den Eltern schliefen, legte Mutter denen angewärmte Steine zu Füßen, damit die Jungs in den sehr ausgekühlten Betten überhaupt zur Ruhe kommen konnten. Als die Kinder nach oben umzogen, sperrte sich der Vater vehement, hier Öfen aufstellen zu lassen. „Wir hatten früher auch immer nur eine Heizstelle im Haus“, argumentierte der Vater, „so lang ist der Winter doch gar nicht und so kalt auch nicht. Die Jungs werden abgehärtet!“ Was der Vater als Abhärtung bezeichnete, war für die Mutter unnötiger Zwang, und die Zeiten waren ja auch längst vorbei. Man schrieb das Jahr fünfundfünfzig.
Hatte der Alte denn vergessen? Wie wohnte das Gesinde in den Zwanziger-, Dreißigerjahren? Das Gesindehaus auf dem Gutshof war ein langgestreckter, hoher Bau, ähnlich dem der Getreide-, Holz- oder Futterspeicher. Ein Speicher. Ja, ein Menschenspeicher! Im Erdgeschoss befand sich mittig im Raum ein großer, grob gezimmerter Tisch, darunter Bänke. Hier nahm das Volk, jung und alt alle gemeinsam, seine Mahlzeiten ein. An der Stirnseite des Tisches gab es eine feste Kochstelle, mit der gleichzeitig das ganze Haus beheizt wurde. Seitlich führten Stiegen in die offene zweite Etage zur Galerie. Da oben reihten sich wie Schwalbennester die Schlafnischen aneinander und boten den Leuten eine gewisse Intimität zur Nacht. Im Sommer war‘s zu warm, im Winter war‘s zu kalt. Wenn Vater Bruck im Jahr fünfundfünfzig behauptete, das hätte der Abhärtung gedient, dann hatte er vergessen, dass in den Schwalbennestern die Jungen wie die Fliegen starben. Die meisten Mägde kamen jährlich einmal nieder und es gelang ihnen schließlich nur ganz selten mal, ein Kind bis zum vierzehnten Lebensjahr aufzuziehen.
Dass der Brucks erstes Kind gedieh, verdankten sie des Vaters Durchsetzungsvermögen. Der hatte sich durch seine gute Arbeit und durch seinen aufgeklärten Sinn eine gewisse Autorität unterm Gesinde und beim Inspektor verschafft. Der Vater verfügte unumwunden: „Meine Frau bleibt im Wochenbett oder ich schmeiße alles hin.“ Nach dem Wochenbett setzte Bruck für seine Frau hausnahe Arbeit durch. Da konnte die junge Mutter ihr Kind pflegen und beaufsichtigen.
Jetzt wollte der Bruck das alles vergessen haben? Er lobte sich die Härte ihres damaligen Daseins? Er verweigerte den Kindern die Öfen?
Geschickt musste die Mutter vorgehen, um bei ihrem Mann zum Ziel zu kommen. Sie zeichnete den Fortschritt, jene Erfolge, die er mit seiner schweren, opferbereiten Arbeit auch für die hiesige Gemeinde geschaffen hatte, nach und stellte dann die Frage: „Sollen die Kinder davon nicht profitieren? Sollen ausgerechnet die Kinder des LPG-Vorsitzenden im Kalten sitzen?“ Vater Bruck brabbelte was von „überzogenem Luxus“ und „sinnloser Geldausgabe“, stiefelte zum Ofenbauer und bestellte zwei kleine Öfen. Von da an hatten es die Jungen schön warm in ihren Kinderzimmern.
Dem Peter mochte das eigentlich egal sein, er war sowieso immer draußen auf den Feldern und in den Ställen bei den Bauern. Der kam selbst im tiefsten Winter noch hoch erhitzt heim und sprudelte förmlich vor Energie. Aber der Volker, Tag und Nacht über den Büchern sitzend, der wäre hier oben erfroren, sinnierte die sorgende Mutter, kehrte die Asche vom Ofenblech, kontrollierte noch einmal das lodernde Feuer und stieg dann zufrieden die Treppe hinab. Auch Frühlingsnächte können empfindlich kühl sein, sagte sie zu sich, und der Volker soll sich doch wohl fühlen, wenn er schon mal zu Hause ist.
Auf Abend zu gingen die beiden Frauen, Schwägerin Karin und Mutter Bruck, und der Volker zum Vater ins Pflegeheim. Der Hund trottete brav hinterher, schnüffelte hier und da und ließ seine Herrchen nicht aus den Augen. Der Weg zum Pflegeheim war nicht weit. Ein paar Schritte durch die Siedlung und schon sah Volker Bruck das schlichte Gebäude, angrenzend an den um die Kirche liegenden Friedhof.
„Wie geschmackvoll“, kommentierte der Mann seine Beobachtung, „der letzte Wohnort gleich neben dem Friedhof.“ - „Das ging nicht anders“, antwortete die Karin ungefragt, „keiner wollte damals Land hergeben, wie es begann, dass wir ein Altenheim brauchen. Nicht die LPG, nicht die Gemeinde. Da opferte sich Pfarrer Günzel, gab seinen Garten her, und sie stellten das Haus drauf.“ - „Ach nee! Und ich dachte, Ihr hieltet Euch so viel auf Sozialfürsorge. Gehörten da die Alten nicht dazu?“, provozierte Volker gereizt. „Kinder, lasst gut sein“, beschwichtigte die alte Bruck, „wir sind schon da.“ Kira legte sich neben den Eingang. Die Brucks betraten das Haus.
Alte Menschen einzeln vor sich hin dösend oder in Gruppen zusammen sitzend und sich unterhaltend in einem großen, gemütlich hergerichteten Gemeinschaftsraum. Pflegerinnen bemühten sich rührend um das Wohl der Greise und Greisinnen. Die Brucks gingen zu Vaters Zimmer. Im Flur begegnete ihnen Schwester Irene, die grüßte und vorbeihuschen wollte. Die Mutter sprach Irene an: „Nun, wie geht es ihm?“ - „Ich sagte es schon, Frau Bruck, der kann nicht sterben. Er ist unruhig, hält fest, als habe er noch was zu erledigen“, erwiderte sorgenvoll die erfahrene Altenpflegerin. „Ach was“, wiegelte Mutter Bruck ab, „der ist nur zäh, wie immer. Hat auch im Sterben seinen eigenen Kopf.“ Irene vorsichtig: „Wenn Sie öfter vorbeikommen würden, hätte er es leichter.“ Bedauernd den Kopf neigend ging Irene weiter. Die alte Bruck öffnete die Zimmertür und lud die beiden anderen ein, näher zu treten.
Der alte Bruck saß stocksteif im Lehnstuhl, den Mund hielt er offen und die Augen starr auf einen imaginären Punkt in der Ferne gerichtet. Wie ein gefällter Baum!, fuhr es dem Volker Bruck in die Seele. Der Vater, dieser Riese, der spielend zwei Zentner stemmen konnte - dieser Vater saß jetzt hier wie ein gefällter Baum.
Volker Bruck kamen die Tränen. Er hielt sie nicht zurück. Tief bewegt sank der Sohn nieder, kniete vor dem Vater und weinte wie ein Kind. Die beiden Frauen sahen sich betroffen an. Damit hatten sie nicht gerechnet. „Wir warten draußen“, sagte Mutter Bruck leise, fasste die Karin bei der Hand und zog sie zur Tür.
Volker Bruck hatte seinen Vater niemals schwach gesehen. Der war immer das Zugpferd gewesen. Er war bei der Arbeit, auch beim Saufen immer vorneweg. Sein Wort galt nicht nur etwas, weil er meistens gut überlegt handelte, sondern auch weil er stimmgewaltig große Menschenansammlungen zusammen brüllen und sich Gehör verschaffen konnte. Zu Hause, erinnerte sich Volker, hat der Vater mich oft genug aus der warmen Stube vom Lesepult weggetrieben und verlangt, ich solle in der Wirtschaft oder auf dem Feld helfen. Damals war mir das lästig, widerwillig kam ich Vaters derb vorgetragenen Aufforderungen nach. Zumal mir, als Kind des Chefs, oft mehr zugemutet wurde als Nachbars Kindern. Ich hatte zwar nie viel Kraft, aber Augen im Kopf, um zu sehen, wie es manche förmlich darauf anlegten, zu zeigen, dass der Sohn der Brucks ein Versager ist. Als Kind habe ich darum oft geheult, und versucht, mich zu verstecken. Ohne Erfolg. Hat nicht auch Vaters Härte, mir die Ausdauer gegeben, die nachfolgenden Jahre durchzuhalten? Seine Härte machte ihn nicht bei allen beliebt, spann Volkers seinen Gedanken weiter: Wenn die Leute maulten, sich nicht fügten, sich seinen Anweisungen widersetzten, gab der Vater denen verbal eine übers Maul, stellte sich unter noch so widrigen Verhältnissen selber hin und erledigte das, von dem er überzeugt war, dass es jetzt sofort drängend und notwendig sei. Antreiber, Russenbüttel und Arbeitsvieh waren noch die mildesten Bezeichnungen, mit denen man den Alten unflätig belegte.
Einmal brach die Sache offen aus. Volker überlegte: Wie war das doch gleich? Das muss im Juni dreiundfünfzig gewesen sein. Da schlugen sie den Brucks die Fensterscheiben ein. Der Vater tobte vors Haus und forderte den Rädelsführer zum Zweikampf. Nicht fairer Zweikampf entbrannte, sondern eine wüste Schlägerei. Die Randalierer zogen mit blauen Flecken und herben Brüchen ab. Der alte Bruck hatte eine Platzwunde am Kopf, die genäht werden musste. Zwei oder drei Tage später verhafteten sie fünf Mann aus Kerkow als Anstifter zum Umsturz. Der alte Bruck lobte sich die staatliche Macht. Ruhestörer gehören hinter Schloss und Riegel! Dingfest gemacht! Ein für alle Male!
Nur, da hatte er noch nicht mit der Logik der Praxis gerechnet. Eine Woche später oder waren es gar drei? Das erinnerte Volker nicht mehr genau. Es waren Sommerferien, die Kinder traten zur Erntehilfe an, die Frauen sammelten sich auf dem Feld, Vater teilte die Arbeit zu. Da fehlten genau fünf Männer für Lade- und Transportarbeiten. Der alte Bruck erfasste schlagartig die verheerenden Folgen einer Kette von Kurzschlussreaktionen. Seine Wunde am Kopf heilte sichtbar ab. Er musste die Männer zurückholen. Produktionsausfall konnte schwerwiegender sein als ein paar blaue Flecken. Die Stadt brauchte Nahrung, der Russe forderte Reparationen.
Der Vater rückte dem Kreisamt für Landwirtschaft auf die Bude und brüllte durch die Räume: „Ich will meine Leute wieder haben!“ Die distinguierten Sachbearbeiter versuchten zu schlichten, betonten die politische Tragweite, zumal im Schnellverfahren bereits einige Urteile gesprochen waren. Vater erhob ein riesiges Geschrei: Er würde den ganzen Laden zusammenschlagen und dann sein Amt als Vorsitzender niederlegen, wenn sie ihm seine Leute nicht zurückgeben. Am selben Nachmittag waren die fünf Männer wieder im Ort bei ihren Familien und am nächsten Tag bei der Arbeit. Vater beruhigte sich auch zu Hause noch lange nicht und sagte immer wieder: „Mir die besten Männer wegholen! Bei denen piepst es wohl! Wie soll man da den Plan erfüllen?“
Volker riss sich von seinen Gedanken fort und schaute sich im Raum um. Ein sauberes Zimmer, ein weiß bezogenes Bett, Blumen auf dem Tisch, zwei Stühle für Besucher … Das Letzte was einem Menschen bleibt. Mehr braucht man wohl nicht zum Sterben. Er schenkte dem greisen, stummen Vater einen mitfühlenden Blick und verließ das Pflegeheim. Die Frauen waren bereits heimgegangen. Er schlug die Richtung zu seinem Elternhaus ein. Der Hund Kira folgte unaufgefordert.