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91 Jahre ist der Saukerl geworden. Wahrscheinlich hat ihn die Bosheit so lange nicht sterben lassen. Jetzt liegt der alte Bäckermeister doch noch im Sarg. Aufgebahrt im weiß getünchten Leichenhaus neben der Pfarrkirche von Hintersbrunn. Und wenn er nicht gerade vor einem höheren Richter steht, bleiben seine Schandtaten für immer ungesühnt.

Seit fast 30 Jahren ist Gundi nicht mehr in dem Dorf gewesen, in dem sie aufgewachsen ist. Sie hat versucht, es zu vergessen wie einen bösen Traum. Ungerührt schaut sie sich die Leiche an. Sie hatte ihn anders in Erinnerung, ihren Vater. Irgendwie größer. Mächtiger. Der alte Bäcker war kein guter Vater. »Eine Schixn« hat er in ihr gesehen, solange sie sich zurückerinnern kann. Später ein »Luder«. Und zum Schluss eine »Matz«. Es war die letzte Beschimpfung, die sie von ihrem Erzeuger gehört hat. Er hat sie ihr nachgerufen, als sie die Tür ihres Elternhauses endgültig hinter sich zuschmiss, kaum dass sie volljährig geworden war, und ihren verwitweten und verbitterten Vater allein zurückließ.

Und jetzt muss sie sich als einzige Hinterbliebene um seine Beerdigung kümmern. Und um die alte Bäckerei, das Haus ihrer unglückseligen Kindheit. Die abgewrackte Hütte will Gundi so schnell wie möglich zu Geld machen.

Er war mal wer, der alte Bäcker. Erwin Starck, geboren 1927, selbst Sohn eines Bäckers, trat in jeder Hinsicht in die Fußstapfen seines Vaters. Er übernahm dessen Bäckerei und dessen Arschlochheit. Gundis Elternhaus, vom Großvater erbaut, steht mitten auf dem Dorfplatz. Oben die Schlafzimmer, unten Küche, Wohnzimmer und Backstube. Vorn der Verkauf, für den ihre Mama zuständig war und immer auch die Gundi, die mithelfen musste und die ein Teufelsdonnerwetter erlebte, wenn sie nicht zur Stelle war, sobald Hilfe gebraucht wurde. Die einzige Tochter wurde nach dem frühen Tod der Mutter vom Vater als deren natürliche Nachfolgerin gesehen. Eine, die vor dem Familienoberhaupt aufsteht und Kaffee kocht, seine Wäsche aufsammelt, seine Kleidung rauslegt, seine Backwaren verkauft, die Stube putzt, Essen kocht, aufdeckt, abräumt, das Geschirr spült, einkauft, ein Bier bringt und aus dem Weg geht. Jeder Tag im Leben der Bäckersfamilie drehte sich um ihn, den Bäckermeister, und seine Bedürfnisse. Aber Gundi war nicht wie ihre Mutter, die ihr Schicksal als Dienstmagd ihres Ehemannes klaglos erduldet hatte, bis sie ein früher Tod davon erlöste. Gundi fügte sich nicht. »Schmier dir dein Brot selber!«, sagte sie und kassierte eine Ohrfeige. »Ich bin nicht deine kostenlose Arbeitskraft!«, schrie sie, worauf er zum ersten Mal mit den Fäusten auf sie losging.

Verglichen mit der Gnadenlosigkeit ihrer Kämpfe verlief Gundis Auszug von zu Hause erstaunlich unspektakulär. Am Abend davor hatte sie den großen Koffer ihres Großvaters vom Dachboden geholt und ein paar Bücher eingepackt, dazu ein paar wichtige Papiere und ein wenig Kleidung. Sie hatte vor Aufregung kaum geschlafen, als sie am Morgen ihres 18. Geburtstages, den Koffer in der Hand, in der Tür stand. Ihr Vater saß am Küchentisch und las in der Zeitung.

»Ich geh jetzt«, sagte sie.

Er sah nicht auf. »Dann hau doch ab.«

»Für immer. Du siehst mich nie wieder.«

Ein kurzer Blick, er bemerkte den Koffer. »Wirst schon sehen, wie weit du kommst.«

»Überall ist es besser als bei dir.«

»Auf was wartest du denn? Hau ab! Hau endlich ab!«

»Du Arschloch«, sagte Gundi und warf die Tür hinter sich zu. Er behielt das letzte Wort.

»Du Matz! Du dreckige Mistmatz!«, hörte sie ihn rufen, als sie ins Freie trat. Und als der Überlandbus mit ihr und ihren wenigen Habseligkeiten das Ortsschild passierte, hatte sie das Gefühl, sich irgendwie in Sicherheit zu bringen.

»Ähm-hm-hm.« Hinter Gundi macht sich der Kirchendiener bemerkbar. Ein kleiner dürrer Mann in Schwarz, der es sich angewöhnt hat, wie ein geprügelter Hund zu gucken, und der mindestens so alt ist wie der Mann in der Kiste vor ihnen. Er hat ihr das Leichenhaus aufgesperrt und den Sarg geöffnet an diesem Sommernachmittag, an dem sie nach vielen Jahren gekommen ist, um ihren Vater noch einmal zu sehen. Neben der groß gewachsenen und stämmigen Gundi ist der Mesner ein Zwerg. Halb so kräftig wie sie, die sein Gewicht vermutlich zweimal auf die Waage bringt. Deswegen packt sie den Deckel eigenhändig zurück auf den Sarg des Vaters und schraubt die Gewinde fest zu.

Die Nachricht erreichte sie mitten in der Redaktionskonferenz. Es war Ende August und die Berichterstattung für das kommende Oktoberfest wurde gerade besprochen. Man plante ein gesondertes Journal. Gundi rechnete damit, dass sie einen festen Auftrag für eines der Promizelte bekam. Interviews am frühen Abend mit der aufgetakelten und aufgekratzten Lokalprominenz und die eine oder andere süffisante Klatschmeldung zu fortgeschrittener Stunde. Sie wollte gerade ihre Recherchen präsentieren, welche Bayern-Spieler zu welchen Wiesn­veranstaltungen eingeladen waren, als die Redaktionssekretärin Christa an die Tür des großen Konferenzraums klopfte und ohne abzuwarten sofort eintrat. Mit einem Finger winkte sie Gundi zu sich, die zuerst den Kopf schüttelte, dann aber dem zwingenden Blick von Christa nicht standhielt, sich das Nicken des Chefredakteurs abholte und den Konferenzraum verließ.

»Was ist denn los?«, fragte sie draußen.

»Es ist jemand am Telefon für dich«, antwortete Christa.

»Und kann das nicht warten?« Gundi starrte auf die geschlossene Tür, hinter der in diesem Augenblick Entscheidungen ohne sie gefällt wurden. Es war eine der wichtigsten Konferenzen des Jahres beim Tagblatt. Die Berichterstattung vom Oktoberfest – besonders wenn sie deftige »Knutsch- und Busenbilder« mitlieferte – war ein Auflagenbringer. Hochsaison für eine Boulevardzeitung in München. Wahrscheinlich bekam jetzt der ewige Schleimer Karsten das beste Zelt. Womöglich sogar die tägliche Wiesnkolumne, auf die Gundi scharf war und die sie tausendmal besser schreiben konnte. Weil sie einen viel besseren Draht zur lokalen Prominenz hatte als dieser eitle Gockel, dem es immer nur darum ging, sich selbst darzustellen. Verdammte Scheiße aber auch, was konnte nur so wichtig sein?

»Es ist jemand aus deinem Dorf«, sagte Christa, dabei senkte sie Kopf und Stimme. »Ich glaube, es ist was passiert.«

Hintersbrunn ist ein Dorf im Nirgendwo zwischen München, Regensburg und Passau. Es ist kein Ort, den man ansteuert oder den man entdeckt, wenn man irgendwo hinfährt, weil er weder an einer großen Straße noch in einem touristisch interessanten Gebiet liegt. Nach Hintersbrunn kommen nur Menschen, die genau dort hinwollen. Aber nur sehr wenige haben dazu Anlass. Gundis Heimatort ist so überschaubar, dass man in den nur unwesentlich größeren Nachbargemeinden sagt, in Hintersbrunn könne man von Ortsschild zu Ortsschild spucken. Rund um die Kirche nebst Pfarrhaus, Gemeindehaus und dem leer stehenden alten Schulgebäude gruppieren sich ein paar weiß gestrichene Einfamilienhäuser mit gepflasterten Einfahrten und gestutzten Thujahecken. Mittendrin steht das alte Wirtshaus, der Greimerbräu, mit einem alten Baum davor. Etwas weiter unten an der Straße steht Gundis schäbig wirkendes Geburtshaus, die ehemalige Bäckerei. Gleich daneben die stillgelegte Post, von der ebenfalls der Putz bröckelt und in der es keine Briefe und Päckchen mehr gibt, sondern nur noch die alte, verwitwete Nandl. Schräg gegenüber steht ein kleiner Gemischtwarenladen, wie er selten geworden ist in den Dörfern. Drum herum ein paar versprengte Gehöfte, jede Menge Mais- und Rapsfelder, ein paar Wiesen und Wälder. Das Dorf liegt in einer kleinen Senke und die Hauptstraße kommt auf der einen Seite aus dem nahe gelegenen Marktflecken, in dem es einen Supermarkt, eine Bank, zwei Ärzte, eine Apotheke und einen Friseur gibt. Auf der anderen Seite führt sie über ein kleines Gewerbegebiet mit ein paar Nutzgebäuden und einem Lagerhaus zur Bundesstraße, auf der man in 40 Minuten zum Flughafen und in 60 Minuten nach München kommt. Wer hier wohnt, ist hier verwurzelt. Man zieht nicht nach Hintersbrunn, man zieht weg. Der einzige Zuwachs in den letzten Jahren waren sechs Flüchtlingsfamilien, die eine Zeit lang im alten Pfarrhof und im Schulhaus unter großer Erstbegeisterung der einheimischen Bevölkerung untergebracht wurden. Auch die sind inzwischen weggezogen. Zur Schule fährt ein Bus, zur Arbeit fährt man mit dem Auto. Zwischen Geburt, Hochzeit und Tod ist nicht viel los.

Wie eine Geisterstadt wirkt das Dorf auf Gundi, als sie auf dem Hügel kurz anhält und zum ersten Mal nach einer halben Ewigkeit ihre Heimat wiedersieht. Kein Mensch ist zu sehen, kein Laut ist zu hören. Gundi wäre nicht überrascht, wenn diese Strohballen, die sie aus den Western ihrer Kindheit kennt, über die Zufahrtsstraße rollen würden.

»Wärst nicht die Erste, die wo’s wieder heimzieht«, sagt die Nachbarin Nandl gegen alle Realitäten und mit unverhohlenem Lokalpatriotismus, als sie Gundi das alte Bäckerhaus aufsperrt. Sie hat sich in den letzten Jahren um den alten Bäcker gekümmert, und sie war es, die in der Redaktion angerufen hat. Gundi kennt sie seit ihrer Kindheit. Gundi kennt überhaupt fast jeden im Dorf. Knapp 100 Einwohner, Kinder mitgezählt. Aber selbst nach vielen Jahren fühlt sich Nandls Gedanke, Gundi könne zurück in ihr Elternhaus ziehen, immer noch wie ein Lebenslänglich-Urteil an. Niemals zurück, denkt Gundi. Den Vater eingraben, das Haus loswerden und dann nichts wie weg. Länger als nötig hier zu bleiben, wäre ihr wie ein Verrat an der Flucht vorgekommen, die sie so viel Kraft gekostet hat. Und Verrat an allem, was sie sich in der Stadt so hart erkämpfen musste.

»Kunigund, dumm und rund!« Eine verhasste Erinnerung ist wieder da. Als wäre sie nicht in ihrem Gedächtnis abgespeichert, sondern an diesem Ort verwahrt gewesen. Gundi steht in der etwas verwahrlosten Küche ihres Vaters mit dem veralteten Elektroherd und der kleinen Spüle, einem neueren, billigen Küchenbüfett und dem bekannten Tisch mit der Eckbank, über dem ein großes Kruzifix hängt. Sie füllt Wasser in die verkalkte Kaffeemaschine. Den ganzen gestrigen Abend hat sie sich im angrenzenden Wohnzimmer durch die Sachen ihres Vaters gewühlt. Sie hatte keine Ahnung gehabt, was er für ein Messie gewesen war. Kontoauszüge aus gefühlt hundert Jahren. Abgelaufene Kalender, Ansichtskarten von unbekannten Leuten, unsortierte Ausrisse aus Zeitungen, mehrere Kartons mit zerfledderten Briefen, mindestens 20 Aktenordner mit unklaren Inhalten, zerschlissene Sammelalben, angefangene Haushaltsbücher, angefangene Tagebücher und – du meine Güte – sogar der Arierpass von ihrem Großvater. Kein Testament oder Unterlagen zum Haus bisher. Und kein einziges Foto von ihrer Mutter. Der alte Bäcker hat es seiner Frau übel genommen, dass sie so früh gestorben ist. Gundi war damals noch klein und sie erinnert sich nur bruchstückhaft an ihre Mutter. Nur daran, dass die Mami immer still war und der Vati groß und streng und alt. Der großspurige Bäckermeister von Hintersbrunn hat sich erst verheiratet, als er bemerkte, dass er einen Erben brauchte und außerdem jemanden, der sich um ihn kümmert, wenn er alt wird. Er regierte mit hartem Regelwerk. Essenszeit, Schlafenszeit, alles zu seiner Zeit. Vati darf nicht gestört werden. Vati hat die ganze Nacht gearbeitet. Sei still und iss. Gundi war nicht der erhoffte Erbe, sie war ein Mädchen. Ungeschickt und übergewichtig. Ihren Vornamen, der ihr seit dem ersten Schuljahr den demütigenden Singsang ihrer Klasse einbrachte, hatte sie von ihrer Großmutter, der Mutter ihres Vaters, die gesinnungsdeutsch und herrschsüchtig aus ihrem Sohn den sozialen Krüppel gemacht hatte, der er gewesen war.

Glücklicherweise hatte sich ein paar Jahre später das Schwabbelige an Gundi an die richtigen Stellen verlagert. Sexy Hexy nannten die Buben sie jetzt, sehr zum Ärgernis ihres Vaters, der sie beschimpfte und öffentlich ohrfeigte, wenn er sie erwischte, wie sie am Bushäuschen rumhing, wo sich die größeren Jungs trafen. Was sie damals fast täglich tat. Zur großen Aufregung des Christlichen Frauenvereins, weil sie erst 13 war. Sie schnallte sich den Gürtel immer ganz eng um ihre Schürze, sodass sich der Stoff über dem Busen spannte, und musste nie lange auf die Gesellschaft der Buben warten. Sie genoss, wie sie glotzten. Wie sie sich gegenseitig zu übertrumpfen versuchten mit ihren Mofas und ihrem Wissen, was im Gegensatz zur richtig schlechten Popper-Musik eine gute Musik war. Geschmust hat sie mit fast jedem von ihnen. Und vom draufgängerischen Hans und dem geduldigen Benno hat sie sich auch anfassen lassen. Richtig verliebt war sie aber nur in einen. Django. Mit seinen blonden Haaren und seiner braunen Haut sah er aus wie eine Mischung aus Billy Idol und Indiana Jones, fand Gundi damals. Außerdem hatte er seine Mutter früh verloren. Das verbindet uns, dachte sie. Django hatte allerdings keinen Blick für Gundi. Ließ sich auch nicht eifersüchtig machen. Er war viel zu cool dafür. Er war der Chef unter den Buben. Die bewunderten ihn und machten alles, was er sagte.

»Ich war ein trauriges Kind und ein unmöglicher Teenager«, erzählt Gundi Ferdl am Telefon nach der ersten schlaflosen Nacht in ihrem alten Elternhaus, in der die verschollenen Erinnerungen lebendig wurden. Weil es in ihrem alten Zimmer feucht und schimmelig ist, hat sie auf der Wohnzimmercouch ihr Nachtlager aufgeschlagen. Die alten Decken hier riechen nach Vergangenheit.

Am Abend vor ihrer Abfahrt nach Hintersbrunn haben sie und Ferdl davon geträumt, mit dem Erlös des Bäckerhauses gemeinsam wegzugehen. Ans andere Ende der Republik, an die Ostsee. Ein kleines Hotel würden sie davon anzahlen, es selbst renovieren. Ferdl würde es leiten, Gundi würde das Marketing machen. Nach den ersten Stunden zurück in ihrer Heimat sind alle Träume wie weggeblasen. Gundi fühlt sich wieder so fremdbestimmt und machtlos wie früher.

»Hier leben alle Geister aus meiner Kindheit noch, Ferdl. Auf einmal bin ich wieder die dicke Bäckerstochter. Und auf der Beerdigung sehe ich sie alle wieder. Alle, denen ich nie recht war. Alle, die mich ausgelacht haben. Alle, die mir die Zunge in den Hals gesteckt haben. Alle, die ich nie wiedersehen wollte.«

Django wahrscheinlich auch.

Sacklzement!

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