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»Liesi? Kennst du mich noch?« Gundi steht vor der Theke des kleinen Dorfladens, hinter der die schlanke Frau gerade einen Geschenkkorb mit bunten Bändern verziert. Gestern haben sie bei all dem Durcheinander auf der Beerdigung kein Wort miteinander gesprochen, und Gundi ist sich nicht sicher, ob Liesi sich an die gemeinsam verbrachte Kindheit erinnert. Jetzt braucht sie ein paar Lebensmittel und hofft, etwas Kalorienreduziertes zu finden. Vor allem aber will sie jemanden finden, der ihr das alte Elternhaus abkauft. Und weil ein Dorfladen Marktplatz für alles Mögliche ist, hält Gundi einen Zettel in der Hand, auf dem sie ihre Handynummer notiert hat, zusammen mit den Worten: »Bäckerhaus. Haus und Grund. Unrenoviert zu verkaufen. 80.000 Euro.«

Liesi schaut auf und sofort springt ein Lächeln auf ihr Gesicht, was sie noch verknitterter aussehen lässt. Es ist ein schönes Gesicht, bemerkt Gundi, gebräunt und voller Sommersprossen, und jede Einzelne ihrer zahlreichen Falten ist definitiv eine Lachfalte.

»Gundi? Mein Gott, ist das lang her!«, ruft die Angesprochene und beeilt sich, hinter der Ladentheke hervorzukommen. Gundi zuckt zurück in der Angst, Liesi könne ihr um den Hals fallen, aber Liesi packt sie nur an beiden Händen, lehnt sich nach hinten und begutachtet Gundi mit ihren wachen grauen Augen.

»Bist auch nicht jünger geworden«, sagt sie und lacht ein wenig verlegen. Gundi geht es nicht anders. Es ist ein halbes Leben her, seit sie sich zuletzt gesehen haben, und obwohl sie eine Zeit lang beste Freundinnen gewesen waren, ist ihr Kontakt nach Gundis Weggang abgebrochen. Hatte wohl damit zu tun, dass sie damals 18 waren und das Leben im Wochentakt so viel Zukunft brachte, dass man für die Vergangenheit keine Zeit hatte.

Im Grunde sind Gundi und Liesi als Kinder nur Weggefährten gewesen, denn ihre Eltern hatten jeweils ein Ladengeschäft an der Dorfstraße. Das zweistöckige, von Gundis Großvater erbaute und in den 1960er-Jahren vom Vater herrschaftlich ausgebaute Bäckerhaus thronte groß und mächtig auf der einen Seite, der Lebensmittelladen von Liesis Eltern, der ungefähr zur selben Zeit zweckbaulich an das alte Waldlerhaus angedockt worden war, stand dagegen eher mickrig auf der anderen. Heute sieht die Sache anders aus. Die Bäckerei hat Gundis Vater vor Jahren aufgegeben, als er, statt zu backen und zu schimpfen, lieber nur noch schimpfte. Er ließ das Haus mitsamt Backstube verfallen. Der ehemals schäbige Kramerladen gegenüber wirkt heute wie aus dem Touristenprospekt »Schönes Bayernland«. Er fügt sich mit rustikaler Kartoffel- und Gemüseauslage vorm Haus und einem Schaufenster mit geräucherten Schinken und Gläsern voller selbst gemachter Marmelade wunderschön ein in das renovierte Waldlerhaus mit seiner dunkelbraunen Holzfassade und seinen grünen Fensterläden. Liesi hat nicht nur den Laden ihrer Mutter übernommen, sondern auch das alte Waldlerhaus restauriert, das sie im Laufe der Zeit mit sage und schreibe drei Männern bewohnt hat.

»Natürlich nacheinander«, lacht sie und spult auf kurze Nachfrage hin ihr Leben vor Gundi ab, als hätte sie all die Jahre darauf gewartet. Zum ersten Mal heiratete Liesi mit knapp 20 Jahren, schwanger von einem Burschen aus dem Dorf, mit dem auch die Gundi geschmust hatte. Mit 24 heiratete sie einen Kerl aus dem Nachbarort, den sie beim Tanzen kennengelernt hatte, damals, als sie ihr Kind noch bei der Mama abgeben konnte, um an den Wochenenden in den Landdiscos ihre Jugend nachzuholen. Diese Ehe hielt immerhin sechs Jahre. Dann hatte er eine andere und sie weitere zwei Kinder. Ihren letzten Mann hat sie einige Zeit später über das Internet gefunden und vor drei Jahren rausgeschmissen, weil er »nichts getaugt hat«.

»Gott sei Dank auch nicht für ein weiteres Kind«, ergänzt sie.

Wie unterschiedlich die Leben verlaufen, denkt Gundi, während sie in dem Laden steht und sich, nur ein paarmal unterbrochen von der Ladenglocke, Liesis Lebensgeschichte anhört. Als Kinder mussten sie beide mithelfen in den Läden ihrer Eltern. Liesis Eltern sind jung gewesen und freundlich. Liesi hatte Geschwister und im Haus der Kramersleute war ständig was los. Alle waren im Laden, alle hatten Aufgaben, und anders als bei Gundi zu Hause durfte jeder alles sagen, im Großen und Ganzen das tun, was er gerne machte, und es herrschte immer ein lautes und lustiges Durcheinander. Vor allen Dingen anders war, dass hier keiner schimpfte, keiner zuschlug und dass es bei den Kramers überhaupt kein Thema war, dass Gundi eventuell zu fett sei oder faul oder irgendwie lästig. Gundi erträumte sich eine Familie wie die Kramers und verbrachte viele Nachmittage bei ihnen. Liesi musste sich nie wegträumen und nie flüchten, denkt Gundi. Weder aus ihrer Familie noch aus ihrer zugedachten Rolle und auch nicht aus ihrer Heimat. Und während Liesi weitererzählt, dass ihre Eltern inzwischen verstorben und ihre Kinder erwachsen seien, spürt Gundi eine lang vergessene Bitterkeit in ihrer Brust und fragt sich heimlich, ob sie ihre ehemalige Freundin vielleicht beneidet. Am Ende schüttelt sie unmerklich den Kopf und kommt zur Sache.

»Weißt du jemanden, der mir das Haus von meinem Vater abkaufen würde?«

Liesi zuckt mit den Schultern. »Was willst du denn haben dafür?«

Gundi zeigt ihr den Zettel. »Darf ich den aushängen bei dir?«

Liesi zögert. »Ich würde das nicht machen«, sagt sie nach einem Augenblick. »Warum richtest du es nicht her und vermietest es? Wenn da ein Bäcker einziehen würde, bräuchte ich meine Semmeln nicht aus …«

»Wer soll denn in diesem Kaff etwas mieten wollen?«, bricht es aus Gundi heraus und sie bemerkt sofort die Beleidigung, die darin liegt. »Ich meine, das Haus ist ja voller Gerümpel, da kann überhaupt niemand einziehen.«

Glücklicherweise geht Liesi über den Fettspritzer hinweg. »Das mein ich ja«, sagt sie. »Räum es aus, streich es an, richte die Backstuben her, dann kannst du es gut vermieten oder meinetwegen verkaufen. Der Franz wird dir dabei helfen.«

»Welcher Franz?«

»Geh, den kennst doch. Der Fürbitten-Franz. Der gestern den aufgehängten Hund gefunden hat. Der trinkt jeden Tag in der Früh seine Halbe bei mir. Genau wie damals bei meiner Mutter. Ist jetzt so was wie der Dorfhausmeister. Ich wüsste gar nicht, was ich ohne den machen würde. Er lebt immer noch im alten Schulhaus. Schau doch einmal vorbei bei ihm, der hat noch lange nach dir gefragt, nachdem du abgehauen bist.«

Sacklzement!

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