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Inferno

Ich war noch nie zuvor in Murraptaam gewesen. Meine Eltern hatten es mir schlichtweg verboten. Zu laut war sie angeblich, die Metropole am Murrap, zu überfüllt, zu schmutzig und natürlich zu gefährlich für eine heranwachsende Erste Tochter. Und so hatte Mynrichwy Neoly bis zu dem Tag, an dem ihre Mutter sterben sollte, nie einen Fuß in die Hauptstadt des Reiches gesetzt. Nun stand ich zum ersten Mal in meinem Leben auf dem Großen Platz und erinnerte mich an all die Dinge, die meine Eltern mir stets vorgebetet hatten, wenn ich leise angefragt hatte, ob ich nicht doch endlich alt genug für Murraptaam sei.

Laut war es hier im Herzen des Reiches ohne Zweifel: Ein stetes Summen und Brummen lag in der sturmschwangeren Luft, ein Dröhnen, das in meinen Ohren pulsierte. Es stieg von der Menge auf, die den Großen Platz ausfüllte wie eine bunt wogende Masse und mir gesichtslos erschien, obwohl sie es nicht war. Laut, überfüllt und schmutzig. Mit reglosem Blick starrte ich hinüber zu dem riesigen Haufen aus dreckig-grauem Kness, der nahe bei unserer Tribüne aufgeschichtet war und der heute das Freudenfeuer nähren sollte. Die Galle stieg mir in den Mund, und ich zitterte am ganzen Körper. Nur die starken Hände meiner Muttersmutter, die meine Schultern umschlossen, hielten mich zusammen. Für den Bruchteil eines Moments hasste ich die alte Frau für ihre Stärke. Sie hatte kein Recht darauf. Nicht heute.

Laut, überfüllt, schmutzig, gefährlich. Ich zweifelte nicht länger daran angesichts der Feindseligkeit der wimmelnden Masse zu unseren Füßen, die wie beißender Rauch in der Luft lag. Es würgte mich, jetzt schon, und dabei war noch gar nichts passiert. Laut, überfüllt, schmutzig, gefährlich. Und doch war ich hier, inmitten all der Hässlichkeit, von der man mich bisher so sorgsam ferngehalten hatte, und war schutzlos den sensationslüsternen, verachtungsvollen, rachedürstenden Blicken ausgeliefert, die mir das Fleisch von den Knochen zu reißen drohten. Ich, die ich bis dahin so gekonnt den Augen der Welt entzogen worden war, stand nun zusammen mit meiner Muttersmutter auf einem erhöhten Podest, das die Tribüne noch überragte, auf der die übrigen Neolys aufgereiht waren wie eine bizarre Menagerie, die man zur Belustigung – nein, zur Befriedigung – des Volkes zusammengetrieben hatte und deren Herzstück die Nembdr-Gebärerin und die Nembdr-Brut waren. Eine robuste Witwe mit langem Silberhaar und kräftigen Händen und ein zu kleines, zu zierliches Mädchen mit zu schrägen Augen. Beide hätte man wohl noch einen Tag zuvor keines zweiten Blickes gewürdigt, wäre man ihnen auf der Straße begegnet; heute jedoch drückte ihnen die Blutsverwandtschaft zu der Abnormität ein Schandmal auf.

Nach Halt suchend umkrallte ich zwei Finger meiner Muttersmutter, deren andere Hand beruhigende Kreise auf meine Schulter streichelte, die so sinnlos waren, wie sie für sie schmerzvoll sein mussten. Nur zu gut konnte ich mir die Pein in den Augen Synnda Pánns vergegenwärtigen, als sie zwei Tage zuvor in der Trutzburg angekommen war. Zum ersten Mal hatte ich da die Bedeutung dieses Wortes begriffen, Pein, und ich hatte mich nutzlos danach gesehnt, etwas sagen zu können, das den Schmerz dieser sanften Frau lindern würde, dieser Frau, die von dem Künstlerplaneten Yallchá gekommen war, um ihre Tochter sterben zu sehen, dieser Frau mit den kräftigen Töpferhänden, die ich kaum kannte und die doch die Mutter meiner Mutter war.

Hier sitz’ ich, forme Menschen

Nach meinem Bilde,

Ein Geschlecht, das mir gleich sei,

Zu leiden, weinen,

Genießen und zu freuen sich,

Und dein nicht zu achten,

Wie ich.

Ich schüttelte mich, um die Gedichtzeilen aus meinem Kopf zu bekommen, die belanglos waren jetzt und keinen Sinn machten, aber nichts ergab mehr Sinn.

»Es ist gut, Kind«, sagte Synnda Pánn in meinem Rücken, als wüsste sie nicht, dass das Wort ›gut‹ nichts mehr bedeutete. »Bald ist es vorbei.«

Ihre Finger verkrampften sich um meine Schultern bei ihren eigenen Worten, krallten sich in den gelben Stoff meines Kleides, das Synnda Pánn an diesem Morgen selbst für mich ausgesucht hatte, als könnte es die Menge hasserfüllter Nchrynnai darüber hinwegtäuschen, dass ich die Tochter einer Nembdr war, die Tochter der Baummörderin. Vielleicht war es auch blanker Trotz, der meine Muttersmutter diese lichtumflorte Farbe für uns beide hatte wählen lassen, ein ohnmächtiges Stirnbieten im Angesicht der Mörder ihrer Tochter, der eigenwillige Widerstand einer einfachen Töpferin gegen das gesamte Reich. Synnda Pánn hatte ein Rückgrat aus Fels, und wenn sie am Zusammenbrechen war, dann würde niemand etwas davon sehen. Ich jedoch, ich hatte nicht vorgehabt, irgendjemandem sinnlosen Widerstand zu leisten. Ich fühlte mich winzig, umgeben von der ganzen überbordenden Pracht des Memnáh, die auf den Großen Platz drückte wie steingewordene Geschichte, Berufenenpalast, Einheitstempel und Gründerdenkmal. Und doch gab es etwas in mir, das wohl über die Fingerspitzen meiner Muttersmutter in mein Inneres gesickert sein musste und das über die phallische Architektur abfällig die Nase rümpfte. Es war in diesem Teil meines Selbst, wo kalte Verachtung die Angst überwog. Dazwischen, zwischen Entsetzen und Kälte, gab es nichts.

Ich weiß nicht, wie lange ich dort stand, an meine Großmutter gelehnt, mit der wogenden Masse zu meinen Füßen, die ich mich weigerte, als eine Ansammlung empfindungsfähiger, atmender Wesen anzuerkennen. Ich versuchte, den schmutzig-grauen Scheiterhaufen aus getrocknetem Pilzgewächs zu ignorieren, unfähig zu begreifen, dass irgendwann in der nächsten Mnega meine Mutter dort stehen und brennen würde. Stattdessen suchte ich unter den Neoly-Männern, die in vorderster Front auf der schmachvollen Tribüne standen, immer und immer wieder meinen großen Bruder, der nicht weit von unserem Podest in die geifernde Menge blickte, das Gesicht kalkweiß. Er stand zwischen meinem Vater und dem alten Neoly, die beide eine identische steinerne Miene zur Schau trugen. Ihre Augen wirkten wie glänzender Obsidian. Ich wusste, dass mein kleiner Bruder irgendwo weiter hinten bei meiner anderen Großmutter stand, aber nach ihm suchte ich nicht; mir war klar, würde ich seinen Blick einfangen, würde ich die Tränen nicht zurückhalten können, und die Befriedigung, mich weinen zu sehen, wollte ich keinem einzigen dieser Bastarde geben, die gekommen waren, um meiner Mutter beim Sterben zuzuschauen. Ab und zu starrte ich auch hinüber zum Tempel der Göttlichen Einheit mit seinen großen Flügeltüren. Das doppelklingige Schwert des Wy prangte auf der einen Seite und die zerbrochene Ährenkrone der Lchnadra auf der anderen, das verschlungene Zeichen der Einheit in der Mitte. Mir war, als hätte ich vergessen, was das alles bedeutete. Mir war, als hätte ich es nie gewusst.

Schließlich, nachdem ein starker Wind aufgekommen war, der über die Menge fuhr und mich in meinem Kleidchen frieren ließ, schwangen die Türflügel auf. Stille, wieder diese Stille, senkte sich über den Großen Platz, als Ktorram Asnuor heraustrat, Mnuran Sna zu seiner Linken. Sie wurden gefolgt von einer Riege Wypriester, die eine gebundene, schwarzgekleidete Frau flankierten. Vereinzelte geschriene Verwünschungen durchbrachen die unnatürliche Lautlosigkeit beim Anblick der Baummörderin, doch nur seltsam wenige, als sei den Leuten erst in diesem Moment bewusst geworden, dass es hier tatsächlich darum ging, eine lebende, fühlende Nchrynna den Flammen zu überantworten. Vielleicht waren sie aber auch mit Stummheit geschlagen vor Entsetzen, welches Ausmaß an Bösem sich in Fleisch und Blut verbergen konnte, in der Gestalt einer feingliedrigen Frau mit gebundenen Händen und gesenktem Haupt.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die kleine Prozession beim Scheiterhaufen anlangte. Als die Wypriester die schwarzgekleidete Frau an den Pfahl banden, der aus den Kness-Garben herausragte, schloss ich die Augen. Doch das anschwellende Dröhnen der aus ihrer Erstarrung erwachenden Menge konnte ich nicht aussperren.

»Sieh hin, Kind«, hörte ich die Stimme meiner Muttersmutter durch das Dröhnen hindurch. »Du musst hinsehen!«

Das Kalte in mir gab ihr recht. Es war Gesetz, dass die Familie einer Nembdr bei deren Hinrichtung Zeuge zu sein hatte, ganz besonders ihre weiblichen Nachkommen, da es hieß, dass diese Erfahrung das einzige Mittel sei, den Einfluss der Dechalsdienerin auszubrennen. Ich wurde nicht allein von der nach Genugtuung und Sensationen lechzenden Menge beobachtet. Nur mein Status als Tochter der Großen Alten hatte mir eine offizielle Befragung durch die Wypriester erspart, aber niemand konnte vorhersagen, was passieren würde, sollte ich Ktorram Asnuor und den Seinen einen Grund geben, an meiner Wyergebenheit zu zweifeln. Und so sah ich zu, wie die schwarzgekleidete Frau an den Pfahl gefesselt wurde, wie die Priester den Kness mit Öl tränkten und wie die Mörder meiner Mutter auf die Tribüne stolzierten, als wären sie Wys größtes Geschenk an die Nchrynnai. Die Menge jubelte Sna und Asnuor zu, doch ich sah auch Leute, die sich abwandten und versuchten, sich durch die Masse an Leibern zu kämpfen, um den Großen Platz zu verlassen. Einige Frauen vergruben ihre Gesichter an den Schultern ihrer Männer, und ich fragte mich, was sie hier zu suchen hatten, wenn sie nicht gekommen waren, um die Baummörderin brennen zu sehen.

Ehe ich eine Antwort finden konnte, forderte die unwiderstehliche Stimme des Obersten Priesters meine Aufmerksamkeit; selbst jetzt, da ich hasste, was sie sagte, schlug sie in mir eine Saite an, gegen deren Schwingen ich mich nicht wehren konnte. Sie sprach wieder über den furchtbaren Frevel, der begangen worden war und das Memnáh in seinen Grundfesten erschüttert hatte, und sie dankte dem Ersterschaffer dafür, dass die widernatürliche Dechalsdienerin entdeckt worden war, damit sie und ihre Wyvergessenheit aus der Welt gebrannt werden konnten. Die Menge jubelte wieder. Meine Kälte verachtete sie, mein Entsetzen fürchtete sie, und ich hasste sie. Die Stimme aber sagte, nein, heute sei kein Tag des Jubels, sondern ein Tag der Trauer, denn ein Kind der Einheit an den Göttlichen Gegner zu verlieren, sei immer einer Niederlage für das gesamte Memnáh. So widernatürlich die Nembdr auch sei, die dort auf dem Scheiterhaufen auf ihre Strafe warte, sei sie doch einst eine Tochter des Höchsten gewesen. Und aus irgendeinem Grund – das war das Seltsamste – glaubte ich der Stimme die Trauer, die in ihren samtenen Tiefen lag, und die Menge tat es auch, denn es wurde wieder ganz still. Doch irgendwo begann ein langgezogener Schrei in den Himmel zu steigen, der nicht mehr abbrechen wollte, auf den jedoch niemand reagierte. Er war schrill und hoch, der Schrei, und ging mir auf die Nerven, weil er mein Herz zerreißen wollte, das ich doch noch so notwendig brauchte für die schwarze Frau auf dem Scheiterhaufen, die in ihrem Dechalsgewand reglos auf dem schmutzig-grauen Kness stand und ins Nichts starrte. Es war, als wäre sie gar nicht da, und für einen Moment beneidete ich sie um ihre stoische Ruhe. Doch ich hatte sie immer bewundert und beneidet, diese Frau, die alles war, was ich nicht war, streitbar und stark und standhaft. Und die Stimme sprach davon, wie das Feuer das Herz der Frau und deren Familie reinwaschen könne, und dann redete die Stimme von der Macht des Blutes, denn Blut sei Leben und das sei das Gegenteil des Todes, und auch das Blut wasche uns rein, und sie sagte: »Blut das Blut von seinem Blut vergießt, um die Sünden des Blutes zu tilgen, findet Gnade vor Wy.« Kenntyrr, sagte die Stimme immer und immer wieder, denn das ist es, was ›Blut‹ in meiner Sprache bedeutet, und ich hörte meine Muttersmutter laut Atem holen und ein »Der Einheit sei Dank« ausstoßen, das ich einen Moment lang nicht verstand – für einen viel zu langen Moment, in dem sich garstige Hoffnung in mein Herz einzunisten begann, die wahnwitzige Hoffnung, dass meine Mutter doch irgendwie noch überleben könnte. Dann aber begriff ich, dass Ktorram Asnuor nicht länger von Blut, von Kenntyrr, im eigentlichen Sinne redete, sondern von jenem Dolchstoß ins Herz, mit dem ein Verräter seine Ehre vor Wy zurückgewinnen kann, oder von jenem Kehlenschnitt, mit dem ein Mann aus der Familie einer Nembdr der verdammten Frau Gnade vor dem Allerhöchsten erwirkt – und ihr einen qualvollen Tod in den Flammen erspart. Die Hoffnung in meinem Herzen starb in ihren Kinderschuhen, doch gleichzeitig stimmte ich mit jeder Faser meines Ichs in das Dankgebet meiner Muttersmutter ein. Wenigstens würde der Dechalssohn, der sich Oberster Priester schimpfte, der Frau auf dem Scheiterhaufen einen schnellen Tod gewähren; selbst ich wusste, dass dies alles an Gnade war, was von ihm zu erwarten war.

Doch während Ktorram Asnuor die Reihen der Neoly-Männer abschritt und jedem einzelnen von ihnen die rituelle Frage nach seiner Bereitschaft stellte, der Nembdr das Kenntyrr zu gewähren, musste ich erkennen, dass es wohl mehr an Gnade war, als die Neolys bereit waren, der Abnormität aus ihren eigenen Reihen zu erweisen.

Es war wie ein Schlag in die Magengrube, eines ums andere Mal, als jene Männer, die ich schon mein ganzes Leben lang kannte, denen ich unzählige Male Wein gebracht hatte, die mich in die Luft gewirbelt hatten, als ich klein war, deren angeregten Gesprächen ich mit aufgesperrten Ohren und offenem Mund zugehört hatte, während sie so taten, als würden sie mich nicht bemerken – als einer nach dem anderen meiner Vettern und Onkel den bohrenden Blick des Obersten Priesters augenblickskurz erwiderte, nur um dann den Kopf zu senken und einen Schritt zurückzutreten. Ich hörte den schweren Atem meiner Muttersmutter in meinem Nacken, obwohl die Menge zu unseren Füßen immer unruhiger wurde, während mir Unglauben und Fassungslosigkeit die Augen weiteten und die Kehle zuschnürten. Großonkel Sekkar (komm schon, Onkelchen): der kurze Blick und ein Schritt zurück. Quescnarm (was du tust, weiß ich, du Bastard): der Schritt zurück, ohne auch nur aufzublicken. Zernteyb (oh, bitte, Onkel Zeb, reiß dich zusammen, es geht hier um Lys, du weißt schon, um Lys, so anders als deine weiche Teggri, Lys, die einst Glut hatte in ihrem Blick und die Stärke der Erde in ihrem Gang): ein Blick voller schmerzhaftem Zögern und dann der verzagte Schritt zurück. Mein Vater … Meine Hände krallten sich in die Brüstung unseres Prangers. Nadahn!, schrie mein Herz, wie ich meinen Vater nicht mehr genannt hatte, seit ich ein Kleinkind gewesen war, und für einen Moment war alles vergessen, was er getan hatte, ich sah nur, dass da mein Vater stand, der alles gutmachen würde.

»Charrann Kenntyrr«, fragte Ktorram Asnuor. Die Frau ist des Mannes … »Seid, Ihr bereit, Morrtahn, Euer Blut zu vergießen«, … denn er sei ihre Welt, und ihre ganze Welt sei sein …, »dem Ersterschaffer zu Ehren und Seine Gnade zu erlangen«, … und Mann und Frau seien Eins bis ans Ende der Zeit …, »für diese Tochter Dechals, um sie dem Nichtsein zu entreißen?«

Die bodenlosen Augen meines Vaters starrten direkt in die durchscheinenden des Obersten Priesters, und es schien, als würde eine Botschaft ausgetauscht, und ich meinte, Widerstand zu erkennen in dem dunklen, dunklen Blick, und dann trat mein Vater mit unbewegter Miene einen Schritt zurück. Ein kollektiver Ausruf des Schocks ging durch die Menge, und ich glaube, mein Herz blieb einen Moment lang stehen, doch dann begann es zu rasen, denn neben meinem Vater stand Vairrynn.

»Nein«, flüsterte ich, »nein!«

Der ununterbrochene Schrei, der in den Himmel stieg, wurde lauter und schriller, und noch immer tat niemand etwas dagegen. Ktorram Asnuor stand meinem Bruder gegenüber, und die beiden hellen Augenpaare verbissen sich ineinander. Der gesamte Große Platz schien den Atem anzuhalten, als sich der Moment immer mehr in die Länge zog, ohne dass sich einer der beiden Männer rührte. Mein Bruder wurde noch blasser als er ohnehin schon gewesen war, aber er zuckte noch nicht einmal mit der Wimper, während ihn der Blick des Obersten Priesters zu verschlingen schien.

»Charrann Kenntyrr«, fragte Ktorram Asnuor schließlich, und die Stimme war wie flüssiger Samt. Ich sah, wie die Kiefer meines Bruders sich verkrampften und seine Hand zu seinem Gürtel fuhr, und dann zog er seinen Kschurr, und die Menge seufzte, und der Oberste Priester lächelte, ach, so weich, und das Lächeln legte sich um meine Kehle wie eine Würgeschlinge. Hätte ich es benennen sollen, ich hätte es Stolz genannt.

»Nein!!«, schrie die Frau auf dem Scheiterhaufen, und Nein!, schrie jede Faser meines Ichs, denn ich wusste, ich würde meinen Bruder verlieren, würde er der Verurteilten den Gnadentod geben. Vairrynn öffnete bereits den Mund, doch da trat mein Großvater vor, den eigenen Kschurr schon gezogen und antwortete an seiner Stelle: »Kenntyrr Charrann.«

»Der Einheit sei Dank«, seufzte meine Muttersmutter wieder, und ich begann von Neuem zu zittern. Der Schrei wurde wieder ein wenig leiser, klang jetzt eher wie ein Wimmern. Der Oberste Priester sah den alten Neoly einen Moment lang mit hochgezogenen Brauen an, als würde er tatsächlich in Erwägung ziehen, es dem Patriarchen zu verwehren, den Platz seines Enkels einzunehmen. Doch dann nickte er huldvoll. Ich glaube, ich habe ihn nie mehr gehasst als in diesem einen Augenblick.

Während der alte Neoly zum Scheiterhaufen hinüberschritt, beobachtete ich hämmernden Herzens die regungslose Gestalt meines Bruders. Vairrynn stand da vor der starrenden Menge wie gefroren, den Kschurr noch immer in der Hand und blankes Entsetzen im Gesicht. Plötzlich sackte er regelrecht in sich zusammen. Vater war einen Augenblick später an seiner Seite, um ihn zu stützen. Im ersten Moment sah Vairrynn ihn dankbar an, doch dann verschloss sich seine Miene, als wäre eine Tür in seinem Gesicht zugefallen, und er befreite seinen Arm ruckartig aus dem Griff meines Vaters. Ich konnte den letzten Blick nicht ausmachen, den Vairrynn Vater zuwarf, welcher Ausdruck in den hellen grauen Augen lag, aber ich sah den jähen Zorn im Gesicht meines Vaters und etwas, das an Abscheu grenzte.

An jedem anderen Ort und zu jeder anderen Zeit hätte mich dieser stumme Austausch zutiefst verstört. Hier und jetzt jedoch hatte ich einfach kein Erschrecken mehr übrig. Denn mein Großvater hatte den Scheiterhaufen erklommen und war vor der Frau im Dechalsgewand zum Stehen gekommen. Stumm sahen sie sich an, der Alte und die Frau, und ich glaubte, sie lächeln zu sehen, was nicht sein konnte. Ein Raunen wie Wind im Gezweig ging durch die Menge, als der Alte das Heft seines Kschurrs an die Stirn drückte und seinen Kopf neigte vor der Frau in einer universellen Geste der Hochachtung. Dann war seine Hand in ihrem Haar und schneller fast, als das Auge folgen konnte, fuhr die glänzende Klinge durch die Kehle der Frau. Ein Strom von Rot ergoss sich über das schwarze Kleid, und wenn ihr Körper noch versuchen wollte, sich ins Leben zu bäumen, so hinderten ihn die Fesseln daran, die ihn an den Schandpfahl banden. Doch erst als der Kopf der Frau schließlich leblos zur Seite fiel, begriff ich, dass die Tote da am Pfahl meine Mutter war.

»Mama«, wimmerte ich, aber es hörte niemand über dem Getöse der Menge. Unirdisch gellte der Schrei in den Himmel, und auch den hörte niemand. Die Drachenkämpferin war tot, und die Menge jubelte. Und der Drache stand stolz auf seiner Bühne mit ernster Miene, die ein Grinsen verbarg. Aber dann sah ich, wie ihm für einen Moment das Gesicht entglitt, als sich ein rhythmisches Singen durch den Jubel zu schieben begann, ein Singen aus wehmütigen weiblichen Kehlen, ein Lied an die Mutter Lchnaachdra, die ihr Kind heimholt in ihren Schoß. Es war ein Trauerlied, aber es war auch ein Lied über die sanfte Siegerin Tod, und es lag über dem Großen Platz an jenem Tag wie der rote Mantel der Allbezwingerin und schwoll immer mehr an, bis es die Jubelschreie derer zu ersticken drohte, die die Vernichtung der Baummörderin feierten. Ich weiß, ich sang es auch durch meine Tränen, und Vairrynn sang es, mein kleiner Bruder, meine Muttersmutter und die Frauen in der Menge, die geweint hatten, als sie meine Mutter gesehen hatten, und die Männer in der Menge, die jene Frauen in ihre Arme genommen hatten, und vielleicht sangen es ja die Neolys auch. Es brandete gegen die Masse von Nembdr-Hassern und ließ den Drachen auf der Bühne mit den Zähnen knirschen. Mit harscher Geste befahl er die Entzündung des Scheiterhaufens.

Das Lied gefror in meiner Kehle, als der getrocknete, ölgetränkte Kness aufflammte wie ein Strohfeuer, um zu verschlingen, was von meiner Mutter noch geblieben war, die Arme, die mich so fest gehalten hatten, die ruhigen Hände und die starken Augen, der ungebeugte Rücken und das störrisch liebende Herz. All die Wärme und Kälte, zu der meine Mutter fähig gewesen war, ging vor meinen Augen in Flammen auf, und in diesem Moment zählte es nicht, dass sie das Feuer nicht mehr spürte, denn ich fühlte es in meiner Seele, und es verzehrte mich. Der beißende Rauch des Kness-Feuers waberte über den Platz, vermischt mit verbranntem Fleisch und Haar. Ich würgte, aber es half nichts. Mir war, als würde der Qualm durch Mund und Nase in den tiefsten Kern meines Ichs dringen. Das Geräusch der Menge, ihr Johlen und ihr Singen, war nichts mehr als ein leises Summen, und die Hände meiner Muttersmutter waren Lichtjahre entfernt. Es gab nichts mehr als die lodernden Flammen und den zuckenden Schemen in ihrer Mitte, der sich wand und krümmte, bis aus etwas vage Weiblichem ein riesiges Katzentier geworden war aus Feuer und aus Dunkelheit. Es öffnete sein Maul zu einem herausfordernden Gebrüll, doch heraus kaum nur der Schrei, schrill und grell und nicht von dieser Welt, und dann setzte das flammende Katzentier an zum Todessprung, die langen Glieder gestreckt und die Fänge gebleckt. Mitten hinein flog es in mein kleines, feiges Herz. Und ich brannte.


Túnn Sar hatte seinem Sohn rundheraus verboten, nach Murraptaam zu gehen.

»Kein Sohn von mir sollte auch nur in die Nähe einer solchen Abscheulichkeit kommen«, hatte er gesagt.

»Ich bin der einzige deiner Söhne, von dem ich weiß«, hatte Ftonim geantwortet, mit seinem üblichen Witz, aber ohne sein übliches Funkeln.

»Umso ernster ist es mir, Liebling«, lautete die Entgegnung. Ftonim hatte noch das halbherzige Argument angebracht, dass viele der weiblichen Bekannten seines Vaters nach Murraptaam gingen, um ein letztes Zeichen des Respekts für Lys Neoly zu setzen (als er im Nachhinein von dem Lied der Sanften Siegerin hörte, das an jenem Tag ergreifend nutzlos in den Straßen der Hauptstadt erklang, erahnte er zum ersten Mal das ganze Ausmaß der hilflosen Tapferkeit der Töchter der Lchnadra). Doch Túnn Sar hatte noch einmal bestimmt mit dem Kopf geschüttelt.

»Was glaubst du, wie nützlich du deinen Freunden sein kannst, wenn du selbst völlig traumatisiert bist?«, meinte er, und das hatte es entschieden: Ftonim sah Lys Neoly nicht brennen. Zwei Nächte später dankte er im Stillen der Göttlichen Einheit und seinem Vater dafür, als er in Pektays Bett die ganze grauenvolle Angelegenheit aus erster Hand erzählt bekam und vergebens versuchte, die Tränen seiner Augenweide mit Küssen zu trocknen. Doch in jenen Mnegau hasste es der junge Sar, unnütz im Haus seines Vaters herumzusitzen, während er an nichts anderes denken konnte als an Vairrynn und Myn und Lys und Vairrynn.

Schließlich, nachdem er seine Skenty fast vor Frustration am Stamm seines Unheiligen Baumes zerschmettert hätte, schnappte er sich einen dichtgewebten Umhang und marschierte hinunter an den Strand. Es war erst Anfang der Sturmzeit, doch der Wind fegte schon beißend über das Meer und besprühte ihn mit Gischt. Ftonim empfand die zornige Kälte als belebend und konnte zum ersten Mal an diesem Tag frei durchatmen. Die Kargheit von weißem Sand, schwarzem Stein und grauem Meer-Himmel beruhigte seine Sinne, und eine willkommene Leere breitete sich in seinem Geist aus. Angesichts des Knirschens des Sandes unter seinen Stiefeln und des Dröhnens der Brandung in seinen Ohren erschien das, was gerade in Murraptaam passieren musste, ganz und gar unwirklich und der Flug der Seevögel über dem Wasser als das Wichtigste auf der Welt.

Ftonim sang leise vor sich hin, während er über den Sand stapfte, leichtherzig-schwermütigen Unsinn ohne Zweck und Ziel. Er machte sich nie die Mühe, die Lieder niederzuschreiben, die zu solchen Stunden aus seiner Seele tropften. Sie waren wie der Wind und die Wellen: ewig und augenblickshaft zugleich. Außerdem war er nicht verblendet genug, um zu glauben, dass sie irgendetwas wert seien.

Wie von selbst lenkten ihn seine Schritte zum Küstenhaus Eftnek Neolys. Fest in seinen Umhang gewickelt, stand Ftonim am Fuße der schwarzen Klippe und starrte hinauf zu der beigefarbenen Villa, deren Ostfront gerade so vom Strand aus zu erkennen war. Er mochte dieses Haus, seinen pompösen Dimensionen zum Trotz, denn es zeugte vom erlesenen Geschmack seiner Bewohner. Einst hatte es auch von Wärme und Liebe gezeugt, aber das war lange vorbei und vielleicht immer nur eine Lüge gewesen. Ftonim hatte nichts anderes, um dies zu beurteilen, als die Ansichten seines Vaters über Lys und Eftnek Neoly, und ihm war klar, dass diese alles andere als neutral waren. Ausgerechnet in diesem Moment stellte sich ihm die Frage, ob die Beziehung seines Vaters zu dem Holzsteinschnitzer und dessen Frau eigentlich über die unvermeidliche Verbundenheit der Reichen und Schönen hinausging und ob Túnn Sar wohl Nohaín und Sannáh Sxarram gekannt hatte.

Ftonim runzelte die Stirn ob seiner eigenen verworrenen Gedankengänge und vergaß sie gleich wieder, als er eine wohlvertraute Gestalt die zahllosen Stufen hinunterhetzen sah, die vom Anwesen des Holzsteinschnitzers die Klippe hinunter an den Strand führten. Also waren die Neolys schon wieder zurück. Es war vorbei.

Regungslos beobachtete Ftonim den Klippenläufer und fühlte sich mit einem Mal so leer, dass es schmerzte. Vairrynn bemerkte Ftonim nicht, selbst als er am Fuß der Klippe angekommen war, hetzte nur weiter über den Strand, als wären alle Dämonen des Nichtseins hinter ihm her, bis er die Brandung erreichte und auf Knie und Hände fiel. Selbst von dort, wo er stand, konnte Ftonim sehen, dass Vairrynns Körper von Krämpfen geschüttelt wurde, während das Meer um seine Hände und Knie schäumte und die Gischt ihn von oben bis unten durchnässte. Der junge Sar rannte genau in dem Moment los, da sein Freund sich, Gesicht zuerst, fallen ließ. Der nächste Brecher schlug rollend über Vairrynns Kopf zusammen, und Ftonim lief schneller. Das rückläufige Wasser ging ihm bis an die Hüfte, als er meinen Himmelsreiter aus dem Wasser zog, der nicht einmal sonderlich nach Atem rang, während Ftonim ihn ein Stück den Strand hinaufschleppte. Er ließ Vairrynn in den Sand fallen, nur um ihn dann sofort wieder in seine Arme zu ziehen.

»Großer Wy, was machst du denn, Errodd?« Panik und Unglauben verflochten sich in seiner Stimme. Die Hände meines Himmelsreiters krallten sich in Ftonims Oberschenkel, während sich sein Körper aufbäumte. Ftonim biss die Zähne zusammen und hielt Vairrynn so fest, wie er nur konnte. Er hatte mehr Angst als jemals zuvor in seinem Leben. Hilflos strich er seinem Freund das patschnasse Haar aus den Augen und erstarrte. Unnatürlich geweiteten Pupillen und dieser süßlicher Geruch, der in der Nase stach …

Lauthals fluchend zog Ftonim Vairrynn auf die Füße und in Richtung des Wassers, aus dem er ihn gerade erst gerettet hatte. Es war alles andere als einfach, Vairrynn – größer und schwerer als Ftonim und völlig unkoordiniert – wieder ins Wasser zu ziehen, aber Ftonim war nichts, wenn nicht entschlossen. Er schaffte es, dass sie beide in den eisigen Wellen landeten, und dann tauchte er Vairrynns Kopf ein ums andere Mal unter, bis mein Himmelsreiter schließlich zu husten und zu spucken anfing und sich an Ftonim festklammerte wie ein Frn-Baby an seiner Mutter. Der junge Sar selbst fluchte die ganze Zeit über wie ein Weltraumtrödler. Er hatte keine Ahnung, wie und warum – irgendwie hatte er Schwierigkeiten, zu glauben, dass Vairrynn seiner Mutter beim Sterben zusehen würde und hinterher nichts anderes zu tun hatte, als eine Nase voll frischem Kness-Rauch zu nehmen – aber sein Errodd war vollkommen zugedröhnt. Und deswegen hielt Ftonim jetzt ein zitterndes und bebendes und, nicht zu vergessen, patschnasses Bündel im Arm, das entweder versuchte, die Tränen zurückzuwürgen, die ihm nichtsdestotrotz übers Gesicht liefen, oder ernsthaft in Erwägung zog, seinen Mageninhalt loszuwerden.

»Untersteh dich, Vairrynn Sxarram Neoly!«, keuchte Ftonim, als er auf dem ansatzweise trockenen Sand zusammenbrach, Vairrynn halb über ihm liegend. Er schüttelte seinen Freund ein wenig wie die Katze ihr Junges, erstarrte jedoch, als Vairrynn sein viel zu heißes Gesicht in seiner Brust vergrub.

»Mach, dass es aufhört, Ftom«, murmelte er, und es schnürte Ftonim die Kehle zu. »Sag ihnen, sie sollen aufhören!«

Ftonim schloss die Arme wieder um Vairrynns bebenden Körper und begann, sich und meinen Himmelsreiter hin und her zu wiegen. »Schhh, Errodd, ist ja gut, ist ja gut, schhh.«

Vairrynn schüttelte wild den Kopf in seinen Armen. »Sie sind in meinem Kopf, Ftom, alle, alle, alle! Jeder einzelne … Oh Wy, Ftom, es sind so viele. Mach, dass es aufhört! Geht raus, geht raus, geht raus, geht raus …«

»Schhhh, schhhh, sie sind weg, Errodd. Sie sind jetzt alle weg.«

Doch Vairrynn schüttelte weiter den Kopf, und Ftonim konnte nichts anderes tun als seinen Freund festhalten, während dessen Körper von etwas gebeutelt wurde, von dem Ftonim hoffte, dass es Kness-induzierte Halluzinationen waren. Im Grunde jedoch wusste er es besser. Es drückte Ftonim das Herz ab in der Brust, während unzusammenhängende Worte aus dem Mund meines Himmelsreiters stürzten über die Menge in seinem Kopf, stampfend und dröhnend, und über Wut, Wut, Wut, Wut, Wut, und all der Schmerz, zornig und rot, und qualvolle Freude, unerträglich, und Abgründe, so tief, und Schatten, Schatten, nichts als Schatten, und dann war da Nichts und nein, bitte, bitte, zu viel, zu viel, ich hab nicht genug Platz in mir, ich bin nicht viele, zu weit gespannt, viel zu weit, bitte nicht, nicht mehr, mehr nicht, mehr nicht, mehr nicht, mehr nicht, mehr nicht … An diesem Punkt löste Ftonim mit all der sanften Gewalt, die er aufbringen konnte, Vairrynns Arme von seinem Nacken, umschloss sein Gesicht mit den Händen und blickte ihm fest in die Augen. Vairrynns Pupillen waren immer noch viel zu weit.

»Sie sind weg, Errodd! Sieh mich an, komm schon! Mich! Ich bin hier, niemand sonst. Sieh mich an!«

Ein paar qualvolle Atemzüge lang blieb Vairrynns Blick noch völlig unfokussiert. Dann jedoch, als sei plötzlich ein Schloss eingeschnappt, verschränkten sich die hellen grauen Augen mit denen Ftonims. Vairrynns Finger schlossen sich um die Unterarme seines Freundes, und gleichzeitig war Ftonim, als würde jemand seine Seele in die Hände nehmen. Er musste jede Unze an Selbstbeherrschung aufbringen, um nicht zurückzuzucken. Etwas, nein, jemand, tastete federleicht über seine Angst. Wie aus der Ferne hörte er ein vielstimmiges Schreien und Lachen und Weinen, und er kämpfte seine Panik zurück. Wieder spürte er das federleichte Tasten, und diesmal ging es tiefer. Es war wie eine Frage, und Ftonim nickte, mit allem, was er war. Behutsam nahm das Tasten einen winzigen Bruchteil von dem an sich, was es in ihm fand. Es war der erste Kuss mit der Bäckerstochter Gyllta, die so weich und leicht war wie das Brot, das sie buk, und vielleicht eines jener unzähligen tiefen Gespräche mit seinem Vater. Ftonim war es egal. In diesem Moment hätte er noch mehr gegeben.

Mit einem tiefen Seufzen sackte Vairrynn neben ihm auf dem kühlen Sand zusammen, und Ftonim kehrte blinzelnd in die äußere Welt von Wind und Wellen zurück. Sein Selbst so unsicher wie ein neugeborenes Fohlen nach allem, was gerade passiert war, berührte Ftonim vorsichtig das in sich zusammengesunkene Häuflein, das sein bester Freund war. Vairrynn rollte sich schwach zur Seite und blinzelte zu Ftonim hinauf, sein Blick bewusst, wenn auch noch etwas Kness-vernebelt.

»Danke«, sagte er einfach, doch sein Griff um Ftonims Hand war so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Ftonim wiederum blickte ihn an, als hätte er ihn noch nie zuvor gesehen.

»Gern geschehen«, sagte er nach einem Moment mit einem leichten Lächeln, das er Vairrynn zuliebe auf seine Lippen zwang. In Wahrheit jedoch war ihm alles andere als zum Lächeln zumute: Ftonim Sar hatte ein riesengroßes Problem. Und jetzt, da er die Hand seines besten Freundes hielt, der bis auf die Knochen durchnässt im weißen naharmbranischen Sand lag, wusste er das auch.


Die Oase nistete zwischen den riesigen Dünen, ein kleiner Fleck von Leben in einer Unendlichkeit aus rollendem, weißgoldenem Nichts. Die Luft war trocken und so rein, wie sie es nur auf Yallchá sein konnte. Sie mochte der Grund dafür sein, dass es den Yallchanern so schwerfiel, auf anderen Planeten frei zu atmen. Hinter einem Haus am Rand der Oase, im Schatten eines breitblättrigen Gewächses, saßen zwei junge Frauen, eine an einem Webstuhl, die andere vor einer Leinwand, auf der ihr Pinsel weiße, schwarze und graue Wirbel zog, deren Augen in der Mitte des Gemäldes zusammenliefen.

»Herzerwärmend, Ahn«, meinte die Rothaarige am Webstuhl mit einem Blick auf das halbfertige Werk ihrer Freundin. Die Schwarzhaarige legte daraufhin den Kopf schief in einer seltsam vogelartigen Bewegung und antwortete mit einem unbestimmten »Hmmm«. Lys Pánn schüttelte lächelnd den Kopf und wandte sich wieder ihrem eigenen glanzvogelbunten Teppich zu. Die Zeiten, da die Gemälde ihrer Freundin sie beunruhigt hatten, waren längst vorbei.

Eine Weile saßen die beiden jungen Frauen schweigend nebeneinander und arbeiteten versunken an ihren jeweiligen Schöpfungen. Plötzlich schwang die Hintertür des Hauses auf, und Synnda Pánn trat in die heimelige Hitze des späten Nachmittags hinaus. Lys blickte von ihrer Arbeit auf und ihrer Mutter begierig entgegen. Die Witwe erwiderte die Erwartung in den Augen ihrer Tochter mit unbewegter Miene.

»Gerade war ein junger Mann bei mir, um mit mir zu sprechen«, sagte sie nach einem Moment. Lys’ Gesicht leuchtete wie eine Kerze, doch die Miene ihrer Mutter veränderte sich nicht, und das Strahlen verdunkelte sich.

»Was hast du zu ihm gesagt?«

»Ich habe ihm noch keine konkrete Antwort gegeben.« Synnda Pánn konnte sehen, wie ihre Tochter regelrecht in sich zusammenfiel, und seufzte. »Lys, Liebling, bist du dir sicher, dass es das ist, was du willst?«

Das eifrige Nicken ihrer Tochter brach der Töpferin fast das Herz.

»Mama, ich liebe Eftnek Neoly!«

Wieder seufzte Synnda Pánn. »Das mag ja sein, Kind, aber du weißt nicht, worauf du dich da einlässt. Er ist der Erste Sohn einer Großen Alten Familie. Er stammt aus dem Zentrum des Reiches! Du hast keine Ahnung, was das bedeutet.«

»Mama, du weißt doch selbst, dass Eftnek nicht so ist wie die anderen Murrapynnai!«

Die Nordlerin an Lys’ Seite lachte tirilierend. »Hast du gerade wirklich deinen Herzallerliebsten einen ›Reichling‹ genannt? Du verbringst eindeutig zu viel Zeit mit Nohaín und mir, Lys Feuerstein.«

Lys funkelte ihre Freundin an. »Nicht jetzt, Ahn! – Mama, schon allein, dass Eftnek genug über die Bräuche auf Yallchá wusste, um dich um meine Hand zu fragen, zeigt doch, wie aufgeschlossen er ist. Und er hat mir meine Freiheit versprochen!«

»Und was hast du ihm als Gegenleistung versprochen?«

»Respekt«, antwortete sie und schob das Kinn vor. Wenn ihre Mutter auf einen Kampf bestand, dann sollte sie ihn haben. Lys Pánn hatte schon ihr ganzes Leben genau gewusst, wenn sie etwas wollte, und jetzt war das Eftnek Neoly.

Die Töpferin stieß ihren dritten Seufzer aus. »Liebling, ich will ja gar nicht an ihm zweifeln – oder an dir. Aber du wirst nicht nur Eftnek heiraten, sondern auch seine Familie. Eine der Großen Alten! Dafür habe ich dich nicht erzogen, Lys.«

»Hier sitz’ ich, forme Menschen Nach meinem Bilde«, sagte die Nordlerin in ihrem Singsangton, und kleckste einen schwarzen Punkt auf ihre Leinwand. »Sei vorsichtig, Töpferin.«

Synnda Pánn blickte die Malerin mit sanftem Tadel an. »Sannáh, Schatz: Lys und ich führen gerade ein sehr wichtiges Gespräch. Und ich werde dich jetzt sicher nicht fragen, wie du auf die Idee kommst, ich würde Terraner töpfern wollen.«

Sannáh summte ein wenig, ohne auf die Rüge einzugehen. »Der Holzsteinschnitzer liebt Lys wie verrückt.«

»Ja«, entgegnete die Töpferin trocken. »Das habe ich inzwischen begriffen.«

Lys dagegen betrachtete ihre Freundin mit verengten Augen. »Willst du mir irgendetwas sagen, Ahn?«

Sannáh ließ nachdenklich ihren Pinsel sinken. »Er ist tief wie ein Urwald, der Holzsteinschnitzer. Aber er hat dunkle Wurzeln.«

Lys sackte der Unterkiefer herunter. »Ich dachte, du wärst auf meiner Seite!«

»Wer hat gesagt, dass ich das nicht bin?«

»Und was soll das dann mit den ›dunklen Wurzeln‹? Das klingt, als hätte er irgendein düsteres Geheimnis oder als würde er von innen heraus vergiftet!«

»Das habe ich nie gesagt«, entgegnete Sannáh sanft. »Wieso hörst du mir nicht zu?«

»Meine Tochter ist verliebt, Sannáh«, meinte Synnda Pánn. Die Trockenheit war noch in ihrer Stimme, aber die Härte war aus ihrem Gesicht gewichen. Sie seufzte ein letztes Mal. »Wir können heute Abend mehr darüber reden, Lys. Aber ich möchte, dass du eines gleich weißt: Wenn du ihn wirklich willst, dann werde ich dir nicht im Weg stehen. Natürlich werde ich das nicht. Doch du musst dir darüber im Klaren sein, worauf du dich einlässt.«

Mit diesen Worten wandte sich Synnda Pánn ab und ging zurück ins Haus. Sie hätte es besser wissen sollen, als ein solches Gespräch in Sannáhs Gegenwart zu beginnen. Manchmal fragte sie sich, wie Tante und Onkel Kenntemp mit dem Mädchen überhaupt zurechtkamen, bodenständige Leute, die sie waren. Besagtes Mädchen blickte Synnda Pánn nach und klopfte gedankenverloren mit ihrem Pinsel gegen ihr Knie, der unbekümmert schwarze Farbspritzer auf ihrem hellen Kleid verteilte.

»Wähntest du etwa, Ich sollte das Leben hassen, In Wüsten fliehn, Weil nicht alle Knabenmorgen-Blütenträume reiften?«, sagte sie, wieder in ihrem Singsangton, und Lys rollte die Augen.

»Ahn, du liest eindeutig zu viel terranisches Zeugs. Und glaub ja nicht, dass ich so schnell vergesse, was du über Eftnek gesagt hast. ›Dunkle Wurzeln‹, also wirklich! Und ich mag es nicht, wenn du ihn ›der Holzsteinschnitzer‹ nennst. Er hat einen Namen, weißt du!«

Sannáh wandte ihren ruhigen Blick ihrer Freundin zu. »Du hörst eine Beleidigung, wo es keine gibt, Lys Feuerstein.«

Diese schmollte immer noch ein bisschen, auch wenn sie sich in Wahrheit über ihre Mutter ärgerte, die sie eben wie ein kleines Kind behandelt hatte, und nicht über Sannáh.

»Ich habe dich nie etwas Ähnliches über Nohaín sagen hören – irgendein ominöses Gerede über seine Dunkelheit.«

»Weil er keine hat, Lys. Glaub mir, Nohaín ist nicht das Problem.«

»Aber Eftnek schon, ja?«

»Vielleicht nicht«, entgegnete Sannáh und strich abwesend einen weiteren schwarzen Wirbel in ihr Bild. »Aber ich ganz bestimmt.«

Frevlersbrut

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