Читать книгу Frevlersbrut - Katharina Maier - Страница 8

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Schwelle

Myn liegt auf ihrem Rücken und starrt hinauf in das begrünte Geäst eines Baumes, der ihr riesig erscheint, obwohl ihr Richard Shelton versichert hat, dass seine Dimensionen für die Erde keineswegs außergewöhnlich sind. Da um sie herum noch eine ganze Reihe weiterer Exemplare derselben Sorte stehen, glaubt sie dem Terraner. Er hat eine Pause vorgeschlagen nach all dem, was sie ihm gerade erzählt hat, und sie hierhergebracht, zwischen die Bäume und ins Grüne. Myn verwundert das nicht. Sie liegt auf einer grauenvoll bunt karierten Picknickdecke, die ihrerseits auf unerhört dichtem, weichem Gras gebettet ist. Die Wiese ist mit winzigen Blumen durchsetzt, die sich stellenweise zu kleinen Grüppchen zusammenfinden, und wirft sanfte Hügelchen, die Myn an ihr heimatliches Meer erinnern. Richard Shelton sitzt neben ihr auf der Picknickdecke und kaut an einem Sandwich, das Myn ihm zuvorkommenderweise übrig gelassen hat. Wenn ihn die Mengen verwundern, die diese entortete Singisin zu verschlingen in der Lage ist, sagt er es nicht. Es wird langsam kühl um die beiden herum, aber keiner macht Anstalten, ihr improvisiertes Picknick abzubrechen. Mich stört die abendliche Kühle auch nicht weiter, und ich lasse mich recht unverblümt neben Richard Shelton auf seiner hässlichen Decke nieder. Unverblümtheit steht mir, und außerdem bin ich zu alt, um meine Gewohnheiten zu ändern. Tod tut, was Tod will. Das war schon immer so. Ich halte mich an die Regeln, das genügt, und so bemerken mich die beiden nicht. Die Blumen neigen sich mir zu, aber das ist auch alles.

Nachdenklich betrachte ich die kleine Myn. Das Leben hat viele Male an dem Feuertierchen hinterlassen. Natürlich sticht mir eines ins Auge, das sie damals schon trug, zu jener Zeit, von der sie ihrem terranischen Zuhörer erzählt. Es hat einen silbrigen Schimmer und ist an einer seltsamen Stelle: hinter ihrem rechten Ohr und schräg den Nacken hinauf. Mein Himmelsreiter hat sie dort viel zu oft berührt, um kein Zeichen zu hinterlassen, schon als sie noch Kinder waren, doch da war die Geste noch unbedeutet gewesen und frei. Ich lehne mich schräg an Richard Shelton vorbei, um sanft über das silbrige Mal zu streichen, und er macht eine scheuchende Geste mit den Händen, als würde ich ihm die Sicht versperren. Er beginnt selbst schon, Zeichen auf ihr zu hinterlassen wie Fingerabdrücke auf Bienenwachs, obwohl er sie noch kaum berührt hat. Ich kichere leise und schnalze mit meinen Knochenfingern gegen sein Ohrläppchen. Ich bin eine alte Frau, ich darf so etwas.

»Schluss damit«, sagt er.

»Hm?«, macht Myn und wendet blinzelnd den Blick von dem raschelnden Geäst zu seinen strahlend blauen, befremdlich menschlichen Augen.

»Du denkst schon wieder daran.«

»Ich denke an gar nichts.« Sie schiebt ein wenig die Unterlippe vor; Myn schmollt nie anders als im Scherz.

»Aber natürlich nicht«, lautet die ironische Antwort. »Du kannst nicht dauernd im Gestern leben, Myn.«

Das Feuertierchen lächelt schief. »Ich weiß, ich weiß. Ich muss meinen Hintern in die Vergangenheit bringen.«

Das Lachen überfällt ihn völlig unerwartet, und es dauert eine Weile, bis er sich wieder gefangen hat. Als es so weit ist, liegt er neben ihr und hält sich den Bauch, Tränen in den Augen.

»Es heißt ›Ich muss meine Vergangenheit hinter mich bringen‹, Myn.«

Sie grinst ihn breit an. »Ich weiß. Das war ein Zitat.«

Er starrt sie in weitäugiger Überraschung an und fängt wieder an zu lachen. »Du bist unglaublich, weißt du das? Du bist gerade mal ein paar Wochen hier auf der Erde, und schon zitierst du uralte Filme?«

Sie wird ein wenig ernst. »Ich bin schon drei Monate hier, Rahánn. Und ich hatte nicht viel anderes zu tun.«

Er schüttelt den Kopf. »Trotzdem: ›Der König der Löwen‹, Myn?«

»Es geht um große Katzen.«

Jetzt wird auch er wieder ernst. »Ja. Aber natürlich.«

Sie schweigen ein Weilchen, nebeneinanderliegend auf der Picknickdecke, die Hände im Nacken verschränkt.

»Weißt du, was damals mit dir passiert ist?«, fragt Richard Shelton. »Als deine Mutter starb, meine ich.«

Myn zieht ihre Unterlippe zwischen die Zähne. »Der trockene Kness im Scheiterhaufen war mit frischem vermischt. Und in diesem Zustand haben die Pilze eine extrem halluzinogene Wirkung. Ich bin mir nicht sicher, was Asnuor damals damit bezweckte. Vielleicht war es ja auch tatsächlich ein Versehen, so wie sie es hinterher behaupteten. Mein Großvater legte damals einen förmlichen Protest ein und erhielt sogar eine offizielle Entschuldigung. Doch die Bilder der Menge, die euphorisch den Tod der Baummörderin feierte, waren da längst durch das ganze Reich gegangen. Wahrscheinlich habt selbst ihr sie hier in den Vereinten Planeten gesehen, nicht wahr? Irgendwelche Erklärungen über frischen Kness im Scheiterhaufen interessierten da niemanden mehr.«

»Ich erinnere mich. Das ganze Net war in Aufruhr. Bilder der Barbarei aus dem Singisischen Reich … Sagen wir mal so, es hat der öffentlichen Meinung über die Singisen nicht gerade gut getan. Und heute frage ich mich, ob Asnuor das nicht auch einkalkuliert hatte.«

»Es kam ihm jedenfalls sicher gut zustatten.« Sie sagt es gelassen, fast ohne Regung. Richard Shelton wirft ihr einen Seitenblick zu, geht aber nicht weiter darauf ein, blickt wieder hinauf in den dämmernden Himmel.

»Eigentlich meinte ich deine Halluzination«, sagt er schließlich. »Das ›flammende Katzentier‹?«

Myn versucht, mit den Schultern zu zucken, was sich in ihrer derzeitigen Position als reichlich schwierig erweist.

»Woher soll ich das wissen?«, meint sie deshalb, aber jetzt lässt sie seine Frage nicht mehr los. Sie hat das Gefühl, er kennt die Antwort besser als sie selbst, und das gefällt ihr nicht. »Feuer war dort damals genug, und das Tier … vielleicht lag es daran, dass Vairrynn mir eine Nysda später eine Katze schenkte.«

Richard Shelton furcht die Stirn. »Diese Begründung ergibt überhaupt keinen Sinn.«

Sein Stirnrunzeln wiederholt sich in Myns Gesicht.

»Da hast du recht«, gibt sie zu. Nach einem Augenblick des Schweigens, in dem nur das Summen der Bienen zu hören ist, die eifrig von Blüte zu Blüte surren, um dem Abend zuvorzukommen, fragt Richard Shelton: »Vairrynn hat dir eine Katze geschenkt?«

Myn nickt. »Ein kleines, weiß-rot geschecktes Ding mit grünen Augen. Ich nannte sie Mi, weil sie so winzig war. Ich glaube, es war sein letzter, verzweifelter Versuch, mich in die Welt zurückzuholen – und es funktionierte. Bevor Mi da war, um die ich mich kümmern musste, hatte ich mich völlig in mich zurückgezogen.«

»Das ist wohl kaum verwunderlich«, meint Richard Shelton leise. Myn lacht ein wenig, aber es ist keine Belustigung in diesem Geräusch.

»Ja, ich hatte genug von der Welt. Es brauchte ein Katzentier, um mich in sie zurückzuholen. Ist das nicht seltsam?«

»Nicht wirklich«, antwortet Richard Shelton, der das Bild einer riesenhaften, flammenden Katze nicht aus dem Kopf bekommt, auch wenn das an seiner zu großen Affinität zu romantischer Lyrik liegen mag. Der erste Vers des Blake-Gedichts pulsiert wie ein fremder Herzschlag in seinem Kopf, Tyger, Tyger, burning bright, und er wünscht sich, er hätte es irgendwann schon einmal besser verstanden.

»Ich erinnere mich nicht besonders gut an die ersten Tage nach dem Tod meiner Mutter«, redet Myn inzwischen weiter. »Ich glaube, ich sagte die ganze Zeit über kein einziges Wort, bis Vairrynn Mi auf meinen Schoß setzte. Meine Muttersmutter meinte später, ich hätte stattdessen die ganze Zeit über vor mich hin gesungen.« Sie schüttelt reuevoll den Kopf. »Ich muss meine Familie beinah in den Wahnsinn getrieben haben. Nicht, dass es dazu noch viel gebraucht hätte in diesen Tagen. Mein Vater war ohnehin nur noch ein Schatten seiner selbst und setzte kaum mehr einen Fuß aus seinem Atelier. Ob er vor unserer Verachtung floh oder vor sich selbst, weiß ich nicht. Synnda Pánn wiederum war wie eine manische Kje-Fliege ohne Königin. Sie versuchte, sich um alles und jeden gleichzeitig zu kümmern, und dann brach sie immer wieder völlig unvermittelt in Tränen aus. Der Einzige, der sich normal verhielt, war Mudmal, aber das an sich war schon wieder nicht normal. Er tat einfach so, als wäre gar nichts passiert, und das machte es so gut wie unmöglich, ihm zu helfen. Ich glaube, da war es noch einfacher, mit mir umzugehen.«

»Und Vairrynn?«

»Ich kann mich nicht erinnern«, beantwortet sie seine beiläufige Frage nicht, und zum ersten Mal, seit sie angefangen hat zu erzählen, fragt sich Richard Shelton, ob sie ihm die Wahrheit sagt. »Aber seltsamerweise weiß ich noch, was gleich nach … nach der Verbrennungszeremonie passierte, nachdem Synnda Pánn meine kleine Familie nach Hause bugsiert hatte.« Myn lacht ein wenig. »Sie und Mud waren die Einzigen von uns, die kaum unter dem Einfluss des Kness standen, und ich kann mir vorstellen, dass es eine Tortur gewesen sein muss, Vater, Vairrynn und mich durch einen Raumriss nach Naharmbra und dann in das Küstenhaus zu bekommen. Wahrscheinlich hatten sie Hilfe von einigen anderen weniger empfänglichen Neolys, aber trotzdem: armer Mud, arme Synnda. Vairrynn büxte ihnen aus, bevor meine Muttersmutter ihm etwas gegen den Kness-Rausch geben konnte; ich glaube, die Droge wirkte bei ihm noch stärker als bei mir, und das will etwas heißen. Synnda war ziemlich panisch; das ist das Erste, woran ich mich erinnere, nachdem das Antitoxin seine Wirkung entfaltete. Sie rannte an den Strand hinunter, und ich stolperte ihr hinterher, immer noch völlig desorientiert.« Myn lacht wieder, aber diesmal ist es echt. »Wir fanden Vairrynn und Ftonim im Sand kauernd, beide total durchnässt. Sie sahen aus wie gebadete Kater, und sie blickten auch ungefähr genauso betreten drein. Ftonim hatte offenbar beschlossen, das beste Mittel gegen einen Kness-Rausch sei ein Bad im Meer.« Myn lacht noch immer. »Ich meine, wir hatten damals Anfang der Sturmzeit, und das Wasser war eisig! Synnda Pánn schlug die Hände über dem Kopf zusammen, packte die beiden am Nacken wie eine entnervte Katzenmama ihre Jungen und zwang dann oben in der Villa jeden, ein heißes Bad zu nehmen. Ich glaube, wenn Vairrynn nicht gerade erst die Auswirkung eines Rauschmittels losgeworden wäre, hätte sie die beiden auch noch mit Whiskey abgefüllt.«

Myn lacht immer weiter, und es erhält eine hysterische Note. Richard Shelton dreht sich zu ihr um, stützt sich auf den Ellbogen und beobachtet sie, bis ihr Lachkrampf sich zu legen beginnt.

»Alles in Ordnung?«, fragt er schließlich. Myn nickt, ernst und ein wenig schmerzlich.

»Das Schlimme ist, dass ich noch genug unter Kness-Einfluss stand, dass ich auch damals lachte. Arme Synnda. Es war ein absurder Tag. Ich weiß auch noch, wie ich zwischen Vairrynn und Ftonim auf dem Sofa im Boudoir meiner Mutter saß, in warme Decken gewickelt und eine dampfende Tasse Suppe in der Hand.« Ein kleines, hicksendes Lachen. »Synnda hatte mich nämlich gleich mit in ihre Radikalkur integriert. Aber weißt du was? In jenem Augenblick fühlte ich mich gut. Geborgen.« Sie schüttelt den Kopf. »Erst am nächsten Tag, als ich wieder einen klaren Kopf hatte, begriff ich wirklich, was passiert war, und zog mich voll und ganz in mich zurück – bis mir Vairrynn Mi schenkte eben. Deswegen kann ich dir nicht sagen, wie Vairrynn mit dem Tod unserer Mutter umging – und mit der Tatsache, dass er sie um ein Haar selbst getötet hätte. Aber wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass Ftonim ihm dabei half.«

Ihre Worte überraschen ihn nicht. Er fragt sich, ob es damals begann, dieses bedingungslose Einanderzugewandtsein der beiden, das ihm einst das Blut kochen machte vor lauter Neid, aber er spricht es nicht aus.

»Weißt du, was seltsam ist?«, redet Myn weiter, die immer noch den Blättern des Baumes beim Rascheln zusieht. »Das Leben ging weiter. Einfach so. Man glaubt immer, wenn etwas so Furchtbares passiert, dass das Leben unmöglich weiter seinen Gang gehen kann. Aber das tut es. Natürlich war nichts mehr so wie vorher, aber als ich meine Mutter sterben sah, hatte ich geglaubt, das Ende der Welt sei gekommen. Und das war nicht der Fall. Nicht einmal für mich.« Myn zieht wieder ihre Unterlippe durch die Zähne. »Ich meine, ich vermisste sie wie … wie ein fehlendes Glied vielleicht, und an manchen Tagen glaubte ich, vor Schmerz umzukommen, aber ich lebte weiter.«

Richard Shelton, der die Flammen des Scheiterhaufens in ihren Augen sehen kann, glaubt ihr kein Wort. Er legt sich zurück auf den Rücken und folgt ihrem Blick in den Baum hinauf. Das ist besser.

»Es half wahrscheinlich, Synnda Pánn da zu haben. Sie und Vairrynn kümmerten sich um Mudmal und mich, und das machte es … ich weiß nicht, einfacher ist wahrscheinlich nicht das richtige Wort, aber … erträglicher. Es ist schwer, Synnda Pánn zu beschreiben. Sie ist wie … wie Erde: stark und weich zugleich. Und sie strahlt eine ungeheure Ruhe aus. Ich weiß nicht, was wir ohne sie getan hätten; Vairrynn wäre ganz auf sich gestellt gewesen.«

»Was war mit deinem Vater?«

Myn stößt einen tiefen Seufzer aus, der sein Herz vor Mitleid flattern lässt.

»Wy, mein Vater … Wie ich schon sagte, wir sahen nicht wirklich viel von ihm in dieser Zeit, und wenn wir ihn sahen …« Sie schüttelt den Kopf. »Er war blass und abgemagert, und das Flackern, das ich von seinen Wutanfällen kannte, war jetzt immer in seinen Augen. Nur war er jetzt nicht mehr wütend, sondern … ich weiß auch nicht. Er zerfiel vor unseren Augen.« Sie schluckt. »Und es war uns egal. Mir zumindest. Ich war froh, wenn ich ihn überhaupt nicht zu Gesicht bekam, denn immer, wenn ich ihn sah, musste ich an diesen Schritt denken, den er vor dem Obersten Priester zurückgetan hatte. Und wenn Vairrynn und mein Vater aufeinandertrafen … Vater sah Vairrynn immer mit einem Ausdruck an, als hätte mein Bruder Mutter eigenhändig getötet, und damit meine ich nicht, ihr den Kschurr durch die Kehle gezogen, sondern sie höchstpersönlich auf den Scheiterhaufen geworfen. Und Vairrynn sah Vater ganz genauso an. In jenen Tagen dankte ich der Göttin dafür, dass unser Haus so irrwitzig groß war; es konnten Tage vergehen, ehe wir Vater begegneten.« Wieder schüttelt sie den Kopf. »Er muss so einsam gewesen sein. Meine Brüder und ich, wir suchten die Gegenwart der jeweils anderen, als würden wir sonst auseinanderfallen, und Synnda Pánn kümmerte sich um uns drei, ob wir wollten oder nicht. Aber mein Vater hatte so gut wie niemanden. Zernteyb kam sehr oft in unser Haus, und er war der Einzige, der sich noch ins Atelier wagte. Aber sonst war da nur noch Juffgam.«

»Ah …«, macht Richard Shelton und nichts weiter. Myn lächelt bitter, aber er sieht es nicht.

»Juffgam Nuggr war ein alter Freund meines Vaters. Seltsam wirklich, dass die beiden überhaupt Freundschaft geschlossen hatten, und dann auch noch eine so enge. Mein Vater war der geborene Ästhet, kultiviert bis zur Absurdität, und Juffgam war … von einfachem Gemüt. Was nicht unbedingt etwas Schlechtes ist, und vielleicht war es genau das, was mein Vater als so … angenehm empfand: Juffgams Unkompliziertheit. Er erregte sich über einfache Dinge und freute sich an einfachen Dingen: Wein, Weiber und Gesang, wenn du so willst. Und auch seine freundschaftliche Treue war unkompliziert. Er war einer der wenigen, die meinen Vater und seine Familie nach Mutters Tod nicht schnitten; im Gegenteil, er war mehr als je zuvor für meinen Vater da – und für seine Kinder auch, auf seine gutmütige, unbeholfene, onkelhafte Art und Weise. Er hatte Jahre zuvor seine Frau verloren, die am Biss eine Kachta gestorben war, und war allein mit seinem kleinen Sohn; vielleicht konnte er deshalb unseren Verlust so gut nachempfinden. Und dieses Mitleid war stärker als die Furcht vor Nembdr-Kontamination. Aber wahrscheinlich war es mehr als das. Juffgam war ein gutherziger Kerl. Dass er auch kleingeistig war, war vermutlich nicht einmal seine Schuld.«

»Das klingt für mich so, als wärt ihr alle isoliert gewesen, nicht nur dein Vater.«

Myn nickt ihre Zustimmung. »Meine kleine Familie hatte zum Ärger meines Großvaters nie wirklich intensiv am gesellschaftlichen Leben auf Singis teilgenommen – mit Ausnahme des Wahlkampfs natürlich –, aber das war eine bewusste Entscheidung gewesen. Die gesellschaftliche Isolierung nach dem Tod meiner Mutter, das war Zwang – und sie war umfassend. Große Einheit, das erste Jahr über wurden wir behandelt wie Aussätzige. Ich weiß nicht genau, wie es den Jungs in der Schule ging; wir redeten nie wirklich darüber. Ich für meinen Teil beschloss nach drei Lchnattau, überhaupt nicht mehr in die Mädchenschule zu gehen. Es könnte sein, dass es das erste Mal war, dass ich meinen Vater nach Mutters Tod direkt ansprach, als ich ihn um die Erlaubnis bat, die Schule zu verlassen, und er gab sie, ohne eine Miene zu verziehen. Dieses ›Bildungsinstitut‹ war ohnehin nichts anderes als eine Anstalt, um perfekte, kleine Ehefrauen heranzuziehen, und die drei Tage die Nysda, die ich dort war, konnte ich getrost mein Gehirn auf Standby schalten. Und nach dem Tod meiner Mutter …« Sie beißt sich auf die Unterlippe. »Nein, darüber will ich nicht reden. Du hast wahrscheinlich keine Vorstellung davon, zu welchem Grad an Boshaftigkeit heranwachsende Große Damen fähig sind, und die Lehrer dort beobachteten mich wie jagende Frnai, als erwarteten sie, ich könnte jeden Moment etwas ›Widernatürliches‹ tun. Was wussten die schon! Ich hatte schon vor Jahren gelernt, in der Mädchenschule meinen Mund zu halten, um nicht aus Versehen das Wissen erahnen zu lassen, das Vairrynn mir vermittelt hatte.«

»Unterrichtete er dich auch zu dieser Zeit noch?«

»Aber natürlich. Ich glaube, manchmal hielt uns nur dieses gemeinsame Lernen bei Verstand. Inzwischen taten wir es sogar ganz offen zu Hause; vermutlich war Vairrynn zu diesem Zeitpunkt ganz egal, was Vater sagen würde – oder er wollte ihn sogar provozieren. Trotzdem ritten wir noch oft zusammen zum Gonn-Memnáh; das versteckte Tal war der Ort, der allein uns gehörte, und ich war so süchtig danach wie eh und je. Die Mnegau dort wurden dann umso wertvoller, als Synnda Pánn nach einem halben Jahr nach Yallchá zurückkehrte. Von da an waren wir allein. Vairrynn und ich taten unser Bestes, uns um Mud zu kümmern. Es mag ein wenig absurd klingen, da ich nur ein Jahr älter bin als mein kleiner Bruder. Aber Mud war damals noch ein Kind. Und ich war das nicht.«

»Du warst dreizehn«, sagt Richard Shelton leise. »Natürlich warst du noch ein Kind.«

Sie wendet ihm den Kopf zu. »Du weißt genau, dass Singis-Jahre länger sind als terranische. Nach eurer Zeit war ich damals siebzehn.«

Auch er dreht sich ihr zu und erwidert ihren Blick. »Und du weißt genau, dass die Umrechnung nicht eins-zu-eins funktioniert, wenn es um Lebensalter geht. Du warst noch ein Kind.«

Sie blinzelt ihn an und protestiert nicht. Er blinzelt zurück und spürt ihren Widerspruch so deutlich, als hätte sie ihn ausgesprochen.

»Hätte Synnda Pánn nicht noch länger bleiben können?«, fragt er, vielleicht deswegen oder auch nicht. Er empfindet fast irrationalen Ärger auf diese Fremde, der Myn nicht verborgen bleibt.

»Sie war ohnehin länger geblieben, als sie willkommen war«, meint sie sanft. »Die Neolys mögen es nicht, wenn sich jemand, der nicht zur Familie gehört, in ihre Angelegenheiten mischt.«

Er runzelt die Stirn. »Aber Synnda Pánn ist doch deine Großmutter.«

Myn seufzt. »Das verbindet sie mit mir, mit den Kindern ihrer Tochter. Aber nicht mit den Neolys.« Seine Stirn glättet sich nicht, und sie lächelt ein wenig, weil sie ihm Dinge erklären muss, die für sie selbstverständlich sind. »Singisische Familienbeziehungen sind sehr kompliziert. Sie bestehen aus Blutsbanden und Loyalitätsbanden, wobei sich die Letzteren dadurch von den Ersteren unterscheiden, dass sie gelöst werden können. Wenn eine Frau heiratet, zum Beispiel, können die Blutsbande zu ihrer Familie natürlich nicht gelöst werden, und sie knüpft auch keine zu ihrer neuen Familie, mit Ausnahme ihrer eigenen Kinder. Die Loyalitätsbande zu ihrer Ursprungsfamilie jedoch lösen sich völlig und bestehen nur noch zu der neuen.«

Seine Miene klärt sich ein wenig, aber nicht sonderlich viel. »Blutsbande sind also biologisch und Loyalitätsbande rechtlich?«

»Nein, nicht ganz. Mein Vater und der alte Neoly schworen zum Beispiel den Blutsschwur, als sie Vairrynn in die Familie aufnahmen. Sie hätten auch nur den Loyalitätsschwur leisten können, aber das haben sie nicht getan. Und als der alte Neoly meinem Onkel Quescnarm mit dem Familienausschluss drohte – du erinnerst dich? – sprach er nur von der Lösung der Loyalitätsbande; Blutsbande lassen sich heutzutage nur mit DNA-Test lösen, das heißt, wenn auch wirklich nachweislich keine Blutsverwandtschaft besteht. Und Blutsschwüre …« Sie zuckt mit den Schultern.

Richard Shelton schüttelt konsterniert den Kopf. »Singisen und ihre Familienbande! … Gilt das strenge Inzestverbot dann nur für die Blutsgebundenen?«

»Nein. Das gilt für alle. Man kann ja keine Frevelei riskieren!«

Trotz allem muss Richard Shelton lachen. Das lernt er von ihr: zu lachen, wo andere es absurd finden würden. Eine Weile liegen die beiden schweigend nebeneinander und blicken in das Blätterdach, das nicht mehr grün ist, sondern ein Baldachin bewegter Schatten.

»Es ist seltsam«, sagt Myn schließlich. »Das Leben fand einfach einen neuen Rhythmus. Einen anderen, wahrscheinlich keinen besseren, aber einen Rhythmus, der sehr schnell Gewohnheit wurde. Es ging einfach weiter.«

»Das hast du schon gesagt«, entgegnet er, und er glaubt ihr dieses zweite Mal nicht mehr als das erste, »dass die Welt nach dem Tod deiner Mutter nicht stehenblieb.«

»Das meine ich nicht. Ich meine das Andere: Das Leben im Reich verlief einfach mehr oder weniger in seinen gewohnten Bahnen – selbst nachdem Ktorram Asnuor zwei Nysdau nach der Verbrennung der Baummörderin zum Vorsteher des Reiches gewählt wurde. Er verstärkte die militärische Präsenz an der Grenze zu den U. P., führte durch, was er eine ›Reform der Verteidigungskräfte‹ nannte, und ließ eine neu eingerichtete Gruppe, die sogenannten ›Streiter des Wy‹, nach weiteren Mitgliedern der Organisation fahnden. Doch die Töchter der Lchnadra hatten sich nach Mutters Tod zurückgezogen, und die Streiter fanden nichts. Freundinnen meiner Mutter standen eine Zeitlang unter Beobachtung, aber wie gesagt: Sie verhielten sich still. Und das war’s – zumindest sah es so aus.«

Darauf weiß Richard Shelton einen Moment lang nichts zu sagen. Natürlich kennt er das Datum, an dem Ktorram Asnuor zum Vorsteher des Singisischen Reiches wurde. Auf einmal hielt dieser fanatische Priester, den bis zu diesem Zeitpunkt keiner als Politiker ernstgenommen hatte, den höchsten Regierungsposten im Memnáh inne – ein Mann, der Tage zuvor erst eine Frau verbrannt hatte. Eine regelrechte Paranoia hatte die Vereinten Planeten ergriffen; die Mehrheit schien jeden Moment mit einem Angriff der Singisen auf das Territorium der U. P. zu rechnen. Umso größer war die Überraschung, als sich der Fanatiker als kluger, wenn auch harter Verhandlungspartner erwies, mit dem man, wenn alle ehrlich waren, vernünftiger reden konnte als mit dem jovialen, aber inkonsequenten Nessran Nygfén.

»Du glaubst, Asnuor hatte alles geplant«, sagt er.

»Nein. Ich glaube es nicht, ich weiß es.«

Darauf bleibt ihm nichts zu entgegnen. Was auch? Nygfén mochte damals bei der Wahl zum Reichsvorsteher eine Chance gehabt haben gegen den Obersten Priester des Wy – aber nicht gegen den Mann, der die Baummörderin aus der Welt gebrannt hatte. Das ist ihm klar. Plötzlich fühlt Richard Shelton die Kühle und die Dunkelheit.

»Lass uns aufbrechen«, meint er. »Der Park wird ohnehin bald schließen.«

Myn bezeigt ihre Zustimmung, indem sie aufspringt und versucht, Richard von der Picknickdecke zu schütteln. Hastig steht er auf und nimmt ihr die Decke aus den Händen. Gefaltet legt er sie im Picknickkorb neben die fest verschraubte Thermoskanne, in der nur noch ein winziger Schluck Kaffee zu finden wäre, würde einer der beiden nachsehen.

»Es ist sehr schön hier«, kommentiert Myn ihren Nachmittag und den Ort, an dem sie ihn verbracht haben. »Ein wirklich guter Platz, um sich zu verstecken.«

Es dauert einen langen, langen Moment, bis er begreift, wovon sie redet. Sein Lachen perlt frei in den Abend, und sie wünscht sich, sie könnte es mit nach Hause nehmen.

»Nein, Myn, der Name des Parks hat nichts mit sich verstecken zu tun. Außerdem sind wir technisch gesehen schon wieder in einem anderen Garten.«

Sie schüttelt den Kopf über das Übermaß an Parks, die diese Stadt durchziehen, aber es gefällt ihr. Stumm will sie ihm den Korb aus der Hand nehmen, aber er weigert sich, ihn herzugeben. Sie streiten ein wenig darüber, bis sie übereinkommen, dass ihre Beweggründe auf gleichermaßen unvertretbaren kulturellen Voreingenommenheiten basieren. Myn schnappt sich den Picknickkorb, als Richard gerade nicht hinsieht, und er wirft die Hände gen Himmel. Ich folge ihnen noch eine Zeitlang, dann aber gehe ich mich im Park und im Abend verstecken. Es wartet Arbeit auf mich.


Mudmal Neoly saß am Pier des Alten Hafens von Naharmbra und ließ die Beine über die Mauer baumeln. Es war Ebbe, und die Wellen schlugen träge an die Mole. Mudmal betrachtete das frühe Blütezeitlicht, wie es leichtherzige Spiele auf der glatten Meeresoberfläche trieb, und dachte an gar nichts, während er an seiner fettigen Nammsa kaute. Er hatte sie sich in einem der schäbigen, aber vielbesuchten Läden gekauft, welche den Alten Hafen säumten. Sie war billig gewesen, und so schmeckte sie auch; wahrscheinlich hätte das Gebäck dem Großteil seiner Familie den Magen verdorben. Doch angesichts der Tatsache, dass er sich ganz eindeutig auf der falschen Seite der Stadt befand, war Mudmal die fehlende Angemessenheit seines Nachmittagssnacks mehr als egal, und im Moment hätte er sich nichts Besseres vorstellen können als die fetttriefende, heiße Nammsa, die ihm den Mund zusammenklebte. Er musste unbedingt daran denken, seinen Freunden später eine Runde Gebäck auszugeben – es war nicht so, dass sich Mudmal ihre Gesellschaft erkaufen musste, aber es bereitete ihm eine diebische Freude, Neoly’sche Wertsteine für einen Haufen Tunichtgute auszugeben, die seine Vettern und Onkel auf der Straße nicht einmal wahrgenommen hätten.

Der hochfahrende Standesdünkel der Neolys, den Mudmal mehr hasste als irgendetwas sonst an seiner Familie, hatte sich nur noch verstärkt, seit Lys Pánn Neoly den Tod auf dem Scheiterhaufen gefunden hatte. Niemand muss ehrbarer sein als der Bastard eines ehrbaren Mannes, hatte Mudmal irgendwo einmal gelesen, und anscheinend traf dasselbe auf die Große Familie einer Nembdr und Baummörderin zu. Er bezweifelte, dass es momentan eine Adelsfamilie im Reich gab, die sich strenger an den ungeschriebenen Benimmcode der Großen Alten hielt als die seine. Diese verbissene Konformität erfüllte ihn mit einem vagen Gefühl der Verachtung, mit mehr aber auch nicht. Es verstörte ihn manchmal ein wenig, dass er es nicht fertigbrachte, das gleiche Ausmaß an Ingrimm den Neolys gegenüber zu empfinden wie seine Geschwister; ab und zu kam ihm das sogar wie Verrat vor. Ja, zu Anfang war Mudmal genauso entsetzt und wütend gewesen über die kollektive Weigerung der Neolys, seiner Mutter den Gnadentod zu geben, wie Vairrynn und Myn; in einem Anfall klassischen Neoly’schen Jähzorns hatte er eine Handvoll seiner Vettern zur Rede gestellt und die verschämte Antwort erhalten, sie hätten angenommen, dass die Oberhäupter der Familie diese Verantwortung schultern würden. Mit verächtlich gekräuselten Lippen hatte er verkündet, dass ihnen allesamt die grundlegende Anständigkeit fehlte, jenen, die der Verurteilten am nächsten standen, diese Bürde zu ersparen. Doch damit war es getan. Begraben und, wenn schon nicht vergessen, so doch erledigt. Mudmal war nicht gut darin, jemandem über lange Zeit zu grollen – eine Eigenschaft, die ihn offenbar von allen anderen Bewohnern des Küstenhauses unterschied. Dazu kam, dass er die positive Kehrseite des dynastischen Neoly-Stolzes am eigenen Leib erfahren hatte.

Es waren kaum zwei Nysdau nach dem Tod seiner Mutter vergangen – zwei Nysdau, in denen er sich fühlte wie ein kleines Beutetier unter einem Rudel jagender Frnai – als der alte Neoly seine beiden Enkel aus der Schule am nördlichen Stadtrand nahm, die Vairrynn und Mudmal bis dahin besucht hatten, und sie in das Bildungsinstitut im Zentrum Naharmbras einschrieb, auf das auch alle jungen Neolys aus der Trutzburg gingen. Zum ersten Mal in seinem Leben machte Mudmal dort Bekanntschaft mit dem Bollwerk, das eine Große Alte Familie sein konnte. Auch in seiner neuen Schule entging er, der Nembdr-Sohn, der Ächtung nicht völlig; doch einen Neoly anzugreifen, bedeutete, sie alle anzugreifen. Schulter an Schulter traten die Neolys jedem entgegen, der es wagen wollte, die stille Verachtung in Worte zu fassen oder gar in physische Aktion umzusetzen. Ihm wurde nie auch nur auf die Ohrenspitze geblasen. Es war eine neue Erfahrung für ihn.

Vairrynn dagegen schaffte es, sich abseits von diesem Neoly-Kollektiv zu halten, ohne sich ganz von der Familie abzuschotten. Aus irgendeinem Grund wurde er in der neuen Schule nicht als ›Neoly‹ tituliert und auch nicht als ›Nembdr-Sohn‹ – obwohl natürlich selbst dem Begriffsstutzigsten klar sein musste, wer er war – sondern schlicht und einfach als ›der Nordler‹. Und so stand Vairrynn zwischen allen Fronten und schien’s zufrieden. Manchmal, wenn er darüber nachdachte, fragte sich Mudmal, ob das nicht das erste Anzeichen dafür war, dass Vairrynn begann, von der Familie wegzudriften. Doch er konnte es nie über sich bringen, den Schutz des Neoly’schen Bollwerks aufzugeben und sich zu seinem Bruder zu gesellen, und er bezweifelte auch, dass Vairrynn das von ihm erwartete. Dennoch war Mudmal fast erleichtert, als sein großer Bruder eineinhalb Jahre später die Schule abschloss und er seinerseits endlich das Gefühl los war, dass er sich eigentlich zwischen Vairrynn und dem Rest der Familie entscheiden hätte müssen.

Vairrynn selbst schüttelte den Staub der Schule von den Füßen, ohne sich umzusehen, verbrachte einen Gutteil seiner freien Zeit mit Ftonim und noch mehr mit Myn und begann einige Lchnattau später ein zweijähriges Studium an der Naturwissenschaftlichen Akademie Naharmbras. Jedermann war überrascht. Im Stillen hatte die Familie wohl erwartet, dass Vairrynn Naharmbra bei der ersten Gelegenheit den Rücken kehren und sich auf das Tygdul-Gut zurückziehen würde, das er von seinen leiblichen Eltern geerbt hatte. Mudmal, natürlich, kannte seinen Bruder besser. Doch Vairrynns Wahl überraschte ihn nichtsdestoweniger; warum sollte jemand, der Geschichte aufsog wie Regen und sich in fremden Sprachen zurechtfand, als sei er dort zu Hause, ein Studium der Naturwissenschaften wählen? Es war ihm ein Rätsel. Und noch etwas: Was immer auch der Grund für Vairrynns Entscheidung sein mochte – Mudmal, der stets der Meinung gewesen war, dass ihm sein Talent für alles Technische garantierte, zumindest in einem Bereich besser zu sein als sein großer Bruder, störte sich daran auf eine fundamentale Weise, über deren kleingeistige Natur er sich keine Illusionen machte. Vielleicht war das irgendwie, auf eine seltsam verquere Weise, die Mudmal selbst nicht ganz verstand, sogar der Grund dafür, dass er sich an den meisten Tagen davonstahl und sich zur anderen Seite der Stadt aufmachte, wo wohl schon seit der Gründung Naharmbras all die Leute lebten, welche die täglichen Dienste verrichteten, die der Aristokratie ihr komfortables Leben ermöglichten – und diejenigen, die auf weniger durchsichtige Art und Weise die Vorteile der alten Adelsstadt zu nutzen wussten. Nach und nach versammelte er eine mit allen Wassern gewaschene Gruppe von jungen Burschen um sich – oder vielleicht hatten sie ihn auch einer um den anderen als eine Art Maskottchen adoptiert, Mudmal war sich nie ganz sicher, welche Version, die seine oder die ihre, den Tatsachen eher entsprach.

Nachdenklich wischte Mudmal seine Nammsa-fetten Finger an seinen Hosen ab und begann, mit dem Neoly-Siegelring am mittleren Finger seiner linken Hand zu spielen. Vom ersten Tag an, da es ihn zum Alten Hafen getrieben hatte, hatte er sich immer wieder gefragt, ob er den Ring nicht besser in seiner Brusttasche verschwinden lassen sollte, solange er sich in diesem Teil der Stadt befand; genug Blicke zog das Wappen jedenfalls auf sich, zumindest zu Anfang. Inzwischen jedoch hatten sich die alteingesessenen Anwohner des Hafendistrikts an den naseweisen Aristokratenjungen gewöhnt, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, sich in ihrem Revier herumzutreiben; und keiner war dumm genug, einem Sohn der Großen Alten ans Leder zu wollen. Außerdem hätte Mudmal auch ohne Siegelring nur schwer seine Identität und ganz sicher nicht seine Herkunft verbergen können. Also versuchte er es erst gar nicht. Keiner seiner Freunde hatte ihn je nach dem Grund seines Auftauchens im Hafenviertel gefragt oder ihn auf seine Familie angesprochen. Sie nannten ihn jedoch ohne Ausnahme »Neo« – eine Respektlosigkeit, die Mudmal dieselbe diebische Freude bereitete, wie die Tagediebe mit Großem Alten Geld zechfrei zu halten.

Die Sonne über dem spiegelglatten Inneren Ozean stand inzwischen etwas tiefer als sie sollte, und Mudmal blickte seufzend auf den Alleskönner, der wie ein Reif um seinen Unterarm lag, und tippte ihn an, um ein aktuelles Zeithologramm aufzurufen. Die letzten zwei Jahre hatte er lernen müssen, dass Zeit im Hafenviertel nicht ernster genommen wurde als von den Aristokraten, und grundsätzlich hatte er kaum Probleme damit. Aber heute war ein wichtiger Tag, und wenn Nott und seine Kumpane noch lange auf sich warten ließen, würden sie auf das Gebäck verzichten müssen, das Mudmal geplant hatte, ihnen auszugeben. Da das aber noch lange kein Grund war, warum er selbst sich mit nur einer Nammsa zufrieden geben sollte, sprang er auf und schlenderte von der Mole in Richtung der Bäckerei, die Hände in den Hosentaschen. Der Nachmittag war viel zu still und friedlich, um sich schnell zu bewegen, und Mudmal genoss dieses Gefühl, wohlwissend um seine Vergänglichkeit. Allerdings hätte er nicht gedacht, dass seine Idylle derart flüchtig war, dass sie ihr Ende fand, noch ehe er die Bäckerei erreicht hatte.

»Sieh mal einer an, Nembdrrynn Neoly«, riss ihn eine Stimme aus seiner belanglosen Versunkenheit, die er nicht mehr gehört hatte seit dem Tag, da sein Großvater Vairrynn und ihn aus ihrer alten Schule genommen hatte. Mudmal wandte sich um mit einem Ausdruck im Gesicht, als wäre er in etwas ausgesprochen Unappetitliches getreten. Und tatsächlich: Im Schatten eines alten, hölzernen Bootes, das entweder als irgendein Denkmal hier aufgestellt oder einfach vor Äonen im Alten Hafen vergessen worden war, lehnte die vierschrötige Gestalt von Gynl Hnell, Fluch von Mudmals Kindheit und Feigling sondergleichen.

Der Gebrauch des Schimpfnamens ›Nembdr-Sohn‹, der damals, vor ach so langer Zeit, ein todsicheres Mittel gewesen war, ihn die Beherrschung verlieren zu lassen, fiel Mudmal jetzt nicht einmal sonderlich auf. Er war schlicht und einfach angewidert, dass Gynl in sein ureigenes Territorium eindrang. Es gab nur einen offensichtlichen Grund, aus dem Männer von Gynls Stand – Mudmal weigerte sich in einem Anflug echten Neoly’schen Familienstolzes, jemanden aus einer derart niedrigrangigen Dynastie als Gleichgestellten zu betrachten – sich ins Hafenviertel begeben würden, und seine Abscheu für Adlige, die die Suche nach frischem (oder nicht so frischem) Fleisch auf die andere Seite der Stadt verschlug, kannte keine Grenzen. Gynls Gesicht verdüsterte sich, als er Mudmals angeekelter Miene gewahr wurde.

»Was treibt dich hier in diese verrufene Gegend, Kleiner?«, fragte er. »Und das auch noch ohne deine treudoofen Babysitter! Na, wo sind denn die beiden Hübschlinge? Haben sie dich für ihr kleines Techtelmechtel dir selbst überlassen?«

Mudmal rollte nur mit den Augen. Über die enge Freundschaft seines Bruders mit Ftonim Sar hatte er sich schon so lange Anzüglichkeiten anhören müssen, wie er sie auch nur ansatzweise verstanden hatte, doch jeglichen ernsthaften Spekulationen hatte stets Vairrynns Ruf unter seinen Mitschülern und Ftoms bei den Frauen einen Riegel vorgeschoben. Mudmal musste dem jungen Sar unbedingt von Gynls erbärmlichem Versuch in geistreicher Häme erzählen, und sei es nur, um dessen zungenfertigen Kommentar zu hören. Oder doch lieber nicht, denn dann war es unvermeidbar, dass auch Vairrynn davon erfuhr, und der würde sich wahrscheinlich aus Prinzip verpflichtet fühlen, Gynl aufzustöbern und ihm eine Abreibung zu verpassen, weil er die Unverfrorenheit besessen hatte, Mudmal zu belästigen. Dieser seufzte; sein großer Bruder täte gut daran, ein wenig lockerer zu werden. Vairrynn war in letzter Zeit so angespannt wie eine Bogensehne.

»Was ist, Neoly? Hat es dir die Sprache verschlagen?«

Mudmal rollte wieder mit den Augen. »Ja, Gynl, genau: Deine Scharfzüngigkeit und -sichtigkeit haben mich jeglicher Artikulationsfähigkeit beraubt. Du hast uns alle durchschaut: Wir feiern jeden Tag wilde Orgien, und was wir nachts treiben, kann ich deinen unschuldigen Ohren wirklich nicht zumuten.«

Gynls Augen verengten sich, und sein Gesicht lief gefährlich dunkel an. »Du bist eine Schande, Neoly. Das seid ihr alle.«

»Ja, aber sicher«, entgegnete Mudmal ungerührt und wandte sich zum Gehen. Er wusste schlicht und ergreifend Besseres mit seiner Zeit anzufangen, als sie an Gynl Hnell zu verschwenden, und Beleidigungen zu überhören, hatte er in den vergangenen beiden Jahren gelernt.

»Ich wette, das gilt auch für deine Schwester!«

Mudmal konnte das laszive Grinsen in Gynls Stimme hören und erstarrte mitten in der Bewegung.

»Ich hab sie neulich erst zusammen mit diesem Frachtschiff Rymmdla Byndall im Hakk-Park gesehen. Also, ich muss schon sagen, da würde mir die Auswahl nicht schwerfallen! Wer hätte gedacht, dass sich dieses knochige, kleine Ding so auswachsen würde. Und du weißt, was sie über Nembdr-Töchter sagen, nicht wahr, Neoly? Ich hätte sicher nichts dagegen, die Unersättlichkeit deiner Schwester auf die Probe zu stellen!«

Gynl hatte die Lektionen, die er als Schulhoftyrann gelernt hatte, nicht vergessen, und wusste genau, welche Knöpfchen er bei anderen drücken musste, um sie die Beherrschung verlieren zu lassen. Aber er hatte nicht bedacht, dass sich Leute ändern. Mudmal Neoly war nicht länger der schmächtige kleine Junge, dessen Wagemut größer war als seine Beherrschung und als seine Körperkraft, und Gynl hatte den Fehler gemacht, ihn in seinem eigenen Revier zu stellen, wo er Neo war, der sich von nichts und niemandem etwas vormachen ließ. Das letzte Wort hatte Gynls Mund noch nicht verlassen, da fuhr Mudmal herum, das blitzende Messer in der Hand, das er in seinem Gürtel verborgen trug und das einen Lidschlag später zwischen Gynls Beinen im Holz des Denkmalbootes steckte. Einen Moment lang starrte Gynl verdattert zwischen dem ungehörigen Wurfgeschoss, das sich gefährlich nahe an essenziellen Teilen seiner Anatomie befand, und Mudmal, der schon sein zweites Messer gezogen hatte, hin und her, als würde sich sein Hirn weigern, die Verbindung zwischen beidem zu ziehen. Dann sog er mit einem erstickenden Geräusch die Luft ein.

»Ngdra, hast du sie noch alle, Neoly?!«

Mudmal antwortete nicht, ging nur in eine bessere Kampfstellung, für den Fall, dass Gynl auf die Idee kommen sollte, das Messer aus dem Boot oder den Kschurr aus dem Gürtel zu ziehen.

»Hey, Neo, macht dir der Kerl Schwierigkeiten?«, fragte da eine Stimme hinter Mudmal, und der junge Neoly konnte ein Grinsen nicht verkneifen, als sich Nott und zwei weitere Gestalten demonstrativ neben ihm aufbauten. Gynl ließ seinen Blick von einem zum anderen schweifen und sah entschieden käsig aus. Mudmals Grinsen verbreitete sich, und er machte einen Schritt auf Gynl zu, dann noch einen. Sein Kindheitspeiniger presste sich an die hölzerne Bootswand, und Mudmal konnte seinen Kehlkopf hüpfen sehen. Einen Augenblick ließ er Gynl noch schmoren – und im Moment konnte er sich an nichts erinnern, das süßer gewesen wäre – dann griff er nach unten und zog sein Messer aus dem Holz.

»Aber nein, Jungs, hier gibt es nichts, was unserer Aufmerksamkeit wert wäre.«

Mit einem letzten Grinsen in Gynls Gesicht wandte er sich ab, und das zusammengewürfelte Häufchen seiner Freunde folgte ihm wie ein Mann. Sie waren einige Schritt weit gekommen, als Gynl seine Stimme wiederfand: »Du bist ein Schandfleck für die Großen Alten und für das wahre Singisentum, Neoly! Deine ganze Familie ist ein Schandfleck!«

»Fick dich selbst, Gynl«, sagte Mudmal ungerührt und ohne sich umzudrehen. »Es wird sonst niemand tun.«

Das Gelächter seiner Freunde umgab ihn, als sie zu viert hinüber zur Bäckerei stromerten, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen. Mudmal hätte gern geglaubt, dass er die Konfrontation auf diese Weise beendet hatte, weil er nicht wollte, dass Nott und die anderen dafür in Schwierigkeiten gerieten. Die Wahrheit jedoch war, dass er aus den Augenwinkeln die Gruppe von Wystreitern gesehen hatte, die irgendwann während seiner Auseinandersetzung mit Gynl auf dem Pier aufgetaucht war, und Mudmal konnte sich nichts Dümmeres vorstellen, als mit diesen Wchlachai Asnuors zusammenzugeraten, wenn man den Namen Neoly trug.

Sie hatten einen weiten Bogen um die Wystreiter gemacht, als sie die Bäckerei wieder verließen, und schafften es so, jeder Art von Ärger aus dem Weg zu gehen. Bei den Streitern des Wy konnte man nie so genau wissen, welche Agenda sie gerade hatten, und einen Trupp zu vermeiden, hieß, auf Nummer sicher zu gehen.

Ursprünglich war die Gruppe vom neuen Vorsteher des Reiches eingesetzt worden, um weitere Nembdrai aufzuspüren – Töchter der Lchnadra, aber auch andere widernatürliche Frauen. Sie hatten jedoch so gut wie keine Erfolge aufzuweisen. Die Verbrennung Lys Neolys hatte der Organisation offenbar den Todesstoß versetzt, und die Töchter der Lchnadra schienen sich einfach in Luft aufgelöst zu haben. Überall im Reich wurden verdächtige Frauen befragt, aber keiner konnte Widernatürlichkeit in einem Ausmaß nachgewiesen werden, das einen weiteren Scheiterhaufen gerechtfertigt hätte. Stattdessen wurden eine Reihe der Verdächtigen in Erziehungsanstalten des Wyordens geschickt – eine Maßnahme, die die Öffentlichkeit deutlich begrüßte. Doch die Streiter des Wy mit all ihrem Nembdrai-Eifer wurden schnell zu lächerlichen Figuren. Die Singisen wollten glauben, dass der Frevel des Baummordes ein Einzelfall gewesen war und Lys Neoly eine abscheuliche Abnormität. Sie wollten nicht glauben, dass ihre eigenen Frauen und Töchter Ausgeburten des Bösen waren, die die Vernichtung verdienten.

Asnuor schien diese Haltung seines Volkes sehr schnell zu erspüren und stellte die großflächige, systematische Nembdrai-Fahndung ein. Das hinderte überzeugte Monowyisten und andere Übereifrige zwar nicht daran, jede Frau in ihrer Umgebung mit Frn-Augen zu beobachten und zweifelhaftes Verhalten zur Anzeige zu bringen; doch zum Großteil blieb es ruhig, und die Singisen waren zufrieden. Asnuor warnte seine Nchrynnai davor, die Augen vor dem Bösen zu verschließen, das in ihrer Mitte brütete, denn diese Haltung habe auch zu dem furchtbaren Baummord geführt, und kommandierte die Streiter des Wy dazu ab, die Sicherheitskräfte zu unterstützen und die Einhaltung der neuen, strengeren Bestimmungen zu überwachen, die die Vorsteherschaft des Obersten Priesters mit sich gebracht hatte. Der Alltag kehrte in das Memnáh zurück, und kaum jemanden außer den unvermeidlichen liberalen Unruhegeistern schien es zu stören, dass es ein Alltag mit härteren Sicherheitsverordnungen und erhöhter Polizeipräsenz war und dass Frauen fast keinen eigenständigen Schritt mehr tun konnten, ohne sich verdächtig zu machen. Es waren eben böse Zeiten, und böse Zeiten verlangten Opfer und Wachsamkeit.

Wenn Mudmal angenommen hatte, unter den Bewohnern des Naharmbraner Hafenviertels eine andere Haltung vorzufinden, sah er sich enttäuscht. Die Erwartungen, was eine Frau zu tun und zu lassen hatte, mochten sich von denen unterscheiden, die ihm vertraut waren, aber auf ihre Weise waren sie nicht weniger streng – strenger sogar, wie er manchmal den Eindruck hatte. Gedankenverloren spielte er mit den beiden Armbändern aus Tigeraugen in seiner Brusttasche, die Notts Schwester angefertigt hatte, und fand es immer noch lächerlich, dass er sie nicht selber hatte aufsuchen dürfen, um das Schmuckstück abzuholen und ihr seine Anerkennung für ihre vortreffliche Arbeit auszusprechen. Er hatte gelernt, dass die kleinen Leute, wenn sie ehrbar waren, scharfäugiger über ihre Töchter wachten, als es den Großen Alten jemals in den Sinn kommen würde – und das mochte etwas heißen.

Dennoch war es nicht die Ehre von Notts Schwester, über die Mudmal nachdachte, während er vom Alten Hafen nach Hause trabte, sondern die seiner eigenen. Was Gynl gesagt hatte, nagte an ihm mit unerfreulicher Hartnäckigkeit, und er wunderte sich über den Zufall, dass er ausgerechnet am heutigen Tag das erste Mal jemanden so über seine Schwester sprechen hörte. Sie war seine Schwester, um der Einheit Willen! Natürlich begutachtete man die Mädchen und kommentierte ihre Attribute, wenn auch nicht mit der gleichen boshaften Absicht wie Gynl, aber wie konnte irgendjemand Myn so ansehen, die seine Schwester war und schon immer ein kleines Mädchen gewesen war … Aber das war es eben, nicht wahr? Mudmals Hand krampfte sich um die Tigeraugenarmbänder, und einen Moment lang überkam ihn der irrationale Impuls, die Dinger aus seiner Brusttasche zu reißen und in den Rinnstein zu werfen. Myn war kein kleines Mädchen mehr, und er selbst war wahrscheinlich der Letzte, der es gemerkt hatte.

Als hätten Gynls Bemerkungen eine Art Achten Sinn für Brüder aktiviert, musste Mudmal plötzlich an Ftonims letzten Besuch im Hause Eftnek Neolys denken. Er hatte Vairrynn, Myn und vermutlich auch Mudmal Auf Wiedersehen sagen wollen, bevor er zu einem seiner Trips in die Vereinten Planeten aufgebrochen war; Myn hatte Ftonim umarmt, um ihm eine gute Reise zu wünschen, und Ftonim hatte sie einen Moment zu lange festgehalten und sie dann von Kopf bis Fuß angesehen mit einem Glitzern in den Augen, für das Mudmal ihn jetzt im Nachhinein gerne geschlagen hätte.

Keuchend blieb der junge Neoly stehen und versuchte, die Hände auf die Knie gestützt, den ererbten Jähzorn wieder in die Kiste in seinem Innern zurückzustopfen, in die er gehörte. Er mochte Ftom, ganz ehrlich, aber er wollte nicht, dass jemand wie er seine Schwester so ansah. Seit er denken konnte, war Ftonim Sar bei seinen Kusinen und Tanten ›der Glanzjunge‹ gewesen, und zu dieser Bezeichnung gehörte grundsätzlich ein kecker Augenaufschlag und ein wissendes Lächeln. Unter der jungen männlichen Bevölkerung Naharmbras wiederum ging ihm der Ruf voraus, mit seinem Charme selbst eine Lchnadra-Dienerin dazu bringen zu können, dass sie die Roben lüpfte, und für die Entjungferung der Hälfte der zukünftigen Großen Damen der Stadt verantwortlich zu sein. Natürlich waren die Berichte über Ftonims Eroberungen heillos übertrieben – und ausgesprochen unwahrscheinlich, bedachte man, dass die Großen Alten ihre Töchter hüteten wie ihre Augäpfel. Aber völlig aus der Luft gegriffen waren die Gerüchte dann doch nicht. Jemand mit Ftonims Renommee war ganz sicher kein Umgang für seine Schwester, sinnierte Mudmal ärgerlich, und fragte sich, ob Vairrynn denn nie bedacht hatte, wem er da so unbekümmert Zugang zu Mynrichwy Neoly verschaffte. Die Vorstellung, Ftonim könnte im Stillen ähnliche Gedanken hegen wie Gynl, machte es Mudmal schwer, den Deckel der psychischen Kiste zu schließen, die seinen Jähzorn halten sollte.

»Verdammt nochmal, Neo, jetzt reiß dich zusammen!«, schrie er sich selbst an und zog die irritierten Blicke einiger Passanten auf sich. Toll. Das fehlte gerade noch, dass sich in Naharmbra herumsprach, dass der junge Neoly den Verstand verlor. Es genügte vollauf, wenn er selbst es wusste. Was war überhaupt mit ihm los? Gynl! Das war die Erklärung! Viermal verdammt sei diese Platzverschwendung in singisischer Form, dass er immer noch im Stande war, ihn derart aus der Bahn zu werfen!

Mudmal holte noch einige Male tief Atem, und es gelang ihm endlich, die Kiste in seinem Innern zu verschließen. Ruhig, ruhig. Heute war nicht die Zeit für so etwas. Heute war Myns Tag. Und er kam zu spät. Entschlossen trabte er wieder los in Richtung seines Vaterhauses. Wie es Mudmals Natur war, war der schwarze Zorn auf Ftonim Sar bereits zu dem vagen Entschluss verkommen, in Zukunft dafür zu sorgen, dass bei Begegnungen zwischen dem jungen Raumfahrer und seiner Schwester ein gewisses Maß an Schicklichkeit eingehalten wurde. Und selbst dieser fiel in sich zusammen, als er zu Hause anlangte und Myn auf einem Baum im Garten sitzend vorfand. Jedwede Hoffnung, seine Schwester zu etwas Schicklichkeit oder wenigstens Dekorum anzuhalten, war sowieso und ganz und gar vergebens.

Kopfschüttelnd starrte Mudmal zu dem Mädchen hinauf und fragte sich, ob Myn jemals etwas so tun würde, wie man es von ihr erwartete. Er wollte seine Schwester gar nicht anders haben als sie war, aber manchmal wäre es schlicht und ergreifend einfacher gewesen, sie wäre es doch. Da saß sie, auf dem untersten Ast eines Jonnka-Baumes, der die frisch-grünen Blätter in den Himmel strecke und winzige Knospen trug, während jedes andere weibliche Wesen, das er kannte, bei dem alleinigen Gedanken in Panik ausgebrochen wäre, entweder sie selbst oder ihre Garderobe könnte bei solch einem gewagten Manöver zu Schaden kommen. Allerdings trug Mynrichwy auch nicht, wie es dem heutigen Tag angemessen gewesen wäre, ein erlesenes Kleid aus gelbem Rplsamt oder weißer Mrbaseide, sondern ihre dunkelbraunen, weiten Leinenhosen, die sie gewöhnlich zum Reiten anlegte, und ein naturleinernes Top mit einer Reihe kleiner, runder, dunkelbrauner Knöpfe auf der rechten Seite. Mudmal wünschte, er könnte sie so auf die Straße schicken; wahrscheinlich würde sie kein Mann überhaupt bemerken in diesem Aufzug. Dann aber sah er genauer hin, und er musste sich eingestehen: vermutlich doch. Das ärmellose Top war eng genug geknöpft, um sich an ihre Kurven zu legen, und entblößte ihre Arme, während das Braun ihrer Hosen zu den dunkleren Strähnen ihres rotbraunen Haares passte, das sich bis auf den Ast, auf dem sie saß, hinabwellte. Die tiefe Sonne stand Mynrichwy im Rücken und verwandelte sie in ein Wesen aus Kupfer und Bronze. Das Bild erinnerte Mudmal an die Geschichten über Drachenfrauen, die neuerdings im gesamten Reich die Runde machten, und er seufzte schwer. Warum nur konnte seine Schwester nicht einfach aussehen wie Rymmdla Byndall?

»Sag mal, solltest du da oben sein?«, fragte er in den Baum hinauf.

»Wahrscheinlich nicht«, entgegnete sie gleichmütig. Mudmal schüttelte wieder den Kopf, aber diesmal lächelte er. Wortlos fischte er die Tigeraugenarmbänder aus seiner Brusttasche und reichte sie in das Geäst hinauf. Myns zartfingrige Hand kam ihm entgegen und schnappte sich die Schmuckstücke, die das Mädchen mit einem leisen Lächeln im Gesicht betrachtete.

»Mynrichwy!«, rief da jemand. »Komm!«

Sowohl Mudmal als auch seine Schwester wandten sich um und sahen Rymmdla durch das achteckige Fenster des Familienzimmers winken, das mit dichten, hellroten Sorrn-Blättern umrankt war. Myn stieß ein kurzes, gurgelndes Lachen aus und landete neben ihrem Bruder auf der Erde. Halbschweren Herzens blickte Mudmal ihr nach, wie sie Richtung Haus und Richtung Rymmdla lief. Mud fragte sich, ob ihre Nachbarin, einige Lchnattau älter als Mynrichwy, gekommen war, um ihr am heutigen Tag ein paar Worte unverzichtbarer weiblicher Weisheit mit auf den Weg zu geben.

»Hey, Myn!«, rief Mudmal seiner Schwester nach, ehe sie im Haus verschwinden konnte; da gab es noch etwas, das er loswerden musste. Sie drehte sich um und hob eine fast spöttisch fragende Augenbraue. Mud lächelte ein wenig zittrig.

»Alles Gute zum fünfzehnten Geburtstag, große Schwester.«

Frevlersbrut

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