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IWIEN, NUR DU ALLEIN

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IN SEINEM KÖRPER VEREINTE Michael Knutkovsky das alte Ostpreußen, aus dem die Weltgeschichte und somit mehrere irre Männer inzwischen Kaliningrad gemacht hatten, und Wiener Blut, das auch einmal einen Stammbaum gehabt hatte und in einer Vorzeit, die noch nicht besonders grau war, dem Führer nach Berlin gefolgt war. Knutkovsky hätte gerade dort, in Berlin, dem buntesten Hund Europas, selbstverständlich auch das »von« im Namen führen können, verzichtete aber darauf und ließ sich »Mike« nennen; er fand, dass das würdige Tragen von Polohemden mit Krokodilchen drauf und der ab und zu notwendige Griff zur Krawatte genügten, obwohl die Welt ja immer lockerer wurde und Mike mit ihr. Dass er wusste, wann Hemd und Krawatte angesagt waren und wann man sich erlauben konnte, offenen Kragen zu tragen, wann Polo: das war sein Adel. Und obwohl er in einer Branche arbeitete, in der die Krokodile nicht nur nett am Leibchen hingen, machte er meistens sein Wahlkreuz bei der SPD, ganz wider jegliche Küchensoziologie.

So. Und dann war ihm das passiert.

Er war (zumindest seinem Gefühl nach) aus Deutschland rausgeschmissen worden, nachdem sich eine gewisse Simone, die einen leichten Unterbiss – an Keira Knightley hatte sie ihn erinnert, aber so schön war selbst die nicht, bei genauerer Betrachtung –, nachdem sich also Praktikantin Simone – so viel Schneid hätte er sich gewünscht mit Anfang zwanzig – bei der Geschäftsleitung eines marktführenden Businessberatungskonzerns über seine, Mikes, »Übergriffe« beschwert hatte: Seitdem hingen die Worte »Unterbiss« und »Übergriff« in seinem Kopf zusammen wie in der Hölle Pech und Schwefel. Dabei hatte er diese Simone hofiert, sanft mit ihr geschäkert, ihr die Türen aufgehalten, sie zum Essen eingeladen und schließlich ins Kino, wo er sich daran erinnert hatte, dass er keine fünfzehn mehr war und Simone nicht vierzig; er hatte ihre hinter der Popcorntüte höflich verborgene Langeweile gespürt (warum schleppt man auch eine Fünfundzwanzigjährige mit Bachelor in Gender Studies und Politikwissenschaft in ein Superhelden-Abenteuer?) Es war ihm nichts anderes übrig geblieben, als die Peinlichkeit mit einem aktiveren Vorstoß in zwischenmenschliche Gefilde zu übertünchen, er wollte ja nicht als Loser dastehen, und dann hatte er den Salat gehabt. »Knutschkovsky« hatten sie ihn genannt, überall in Deutschland, wo er Fuß zu fassen versuchte. Die Branche kannte ihn, leider.

»Knutschkovsky, sei mir nicht böse, aber die Sache hat zu viel Staub aufgewirbelt. In einem Jahr vielleicht …«

Jetzt war er eben in Wien, wo deutsche Zeitungen nicht einmal online gelesen wurden; Tante Betti, eine Tochter der einzigen Person aus dem Clan, die während der Hitlerei standhaft geblieben (und aus Mauthausen zurückgekommen) war, hatte hilflos die Hände gehoben, gesagt, dass sie die jungen Frauen auch nicht mehr verstehe, und ihm einen Job bei der SPÖ vermittelt.

Als er das Universum aufsperrte, stieg ihm wie immer der Geruch in die Nase, der aus dem letzten Jahrhundert aufzusteigen schien, eine Mischung aus Altmetall, Staub und – natürlich – Kapuzinergruft. Was klar war: Das ist nun mal der Duft einer ehemaligen Eisenwarenhandlung, die das Inhaberpärchen (InhaberInnenpärchen) bei der Pensionierung mulmig in die Zukunft, ins aktuelle Jahrtausend entlassen hat. Wissend, dass der Einzelhandel keine Chance mehr hat. Dass große, alte Verkaufslokale in Erdgeschoßen dazu verdammt sind, Sportwettlokale zu werden oder zu verrotten. Nicht mit mir, hatte die Bezirksvorsteherin gesagt und einem in Österreich noch nicht abgehalfterten Communication expert aus Deutschland den Raum als zu gestaltenden Theaterraum angeboten/umgehängt; »a bissl a Förderung«, hatte sie gesagt, werde sie schon aufstellen … sie war eine Du-Freundin von Tante Betti. Immerhin war Mike Knutkovsky dezidiert zur Imagepflege der großen Mutterpartei angeheuert worden und konnte selbiges auch auf Bezirksebene tun – »Sichtbarkeit, Mike! Sichtbarkeit! Auch für die kleinen Leut!«, der Partei gehörte selbstredend die Bezirksvorsteherin an, und so griff eine gepflegte Hand in die andere. Zuhause notierte er sich derart erschöpft, dass er nicht einmal die Lust auf ein Bier hinbekam, diesen unreinen Reim in ein bis auf Doodles völlig leeres Notizbuch: Sichtbarkeit. Auch für die kleinen Leut.

»Mögest du in interessanten Zeiten leben«, jaja, der chinesische Fluch; aber, so Mikes Gedankengang, solange er in einem Miniaturstaat interessante Zeiten erlebte, konnte man eigentlich nicht von einem Fluch sprechen. Das kleine Österreich, dieses angebissene Schnitzel inmitten Europas, dieser deutsche Wurmfortsatz mit dem niedlichen Dialekt, stand nämlich nach einem verfilmungswürdigen Bundespräsidentschaftswahlkampf mit Einspruch und Neuwahl und Kopf-an-Kopf und Aufregung, als ginge es um den Erzengel Raphael gegen Luzifer (man stelle sich vor, dachte Mike mit einer Mischung von Wehmut und Ärger, die Wichtigkeit eines Postens wie diesem, Präsident eines Schnitzels …) – kurz, nach diesem Hofburg-Trara stand das Land nun vor dem nächsten Match, der Nationalratswahl: Und da war ein schmalbrüstiger, slimfittragender Junge, der sich noch vor wenigen Jahren mit einem »Geilomobil« gleichzeitig lächerlich und wichtig gemacht hatte, knapp davor, die Grand Old Party, die seit Jahrzehnten in der Koalition vertreten war, umzukrempeln. Alle, die ihre Hoffnungen an den Jüngling gehängt hatten wie den Jesus an die Wand, erwarteten sich wohl, dass bei diesem Wendeakt aus einem Trachtenjanker ein Armani-Sakko würde.

Der österreichische Wahnsinn ließ sich schon allein an dem irrwitzigen Namen ablesen, den die Leser der Bezirkszeitung in einem Mehrheitsvotum der verschrotteten Eisenhandlung verpasst hatten; und die Bezirksvorsteherin, ließ Mike bei sich Revue passieren, hatte verzückt in ihre beringten Hände geklatscht und »Universum« auch noch supertoll gefunden.

»Sicher manikürte Nägel«, sagte später die Tiwald, »ganz konservativ kirschrot. Oder French nails, bei denen die knallweißen Ränder so seltsam wegstehen, dass man ein bisschen nach Alien aussieht. Ich hab ja keine schönen Nägel. Die sind so mini. Deswegen kommt da auch nie Farbe rauf. Wie würd das ausschauen, kleine bunte Fleckchen auf Wurstelfingern? Ich kann blind tippen, ich muss mir bei der Arbeit meine Nägel nicht einmal anschauen.«

Inmitten der Testosterongefilde, als die sich die österreichische Politik darstellte, waren ironischerweise eine Menge Frauen in Mikes Leben getreten, obwohl der Parteichef natürlich ein Mann war, genauso wie ein Großteil seiner Entourage. Da war zunächst die bereits erzählte Vorsteherin des Bezirks, in dem er abgestiegen war, Tante Bettis Freundin.

Diese Dame, ein, wie Mike sie gegenüber deutschen Freunden beschrieb, Schlachtross mit Stahlfrisur, hatte ihm nicht nur angetragen, das Universum zu übernehmen, das neue Aushängeschild des Bezirks – »ein Veranstaltungsort erster Sahne«, sagte Mike ironisch zu seinen Freunden –, sondern ihm auch eine weitere Dame ans Herz gelegt, und zwar eine schreibende.

»Nimm«, hatte sie gesagt, »die Tiwald. Die wohnt auch im Bezirk. Der Urbanek kennt sie. Hör dir an, was sie für Ideen hat. Wir wollen keine hirnlosen Wirtshauskomödien und nichts, wo alle über fünfundzwanzig geistig aussteigen. Ein elegantes Dazwischen. Am Puls der Zeit. Der Urbanek hat einmal irgendwas von ihr im Bunker aufgeführt. Mit Schülern. Neu. Heutig. Die grüne Bezirksrätin hat gesagt, das war nicht schlecht. Frag sie!«

Also hatte er die Tiwald getroffen, eine nicht unschöne Frau, die seinem Alter deutlich näher war als der Unterbiss aus München, zwar mit einem Hintern ausgestattet, der, dachte Mike in einem ersten Anflug, fast ein schwarzer Hintern war, aber er verbiss sich den Gedanken, und nicht einmal seine Freunde, die er über das Schlachtross informiert hatte, bekamen ihn jemals zu hören. Die Tiwald hatte irgendeine Verbindung zum, ja, das lief so in Wien, Direktor des Bezirksmuseums, einem gewissen Urbanek, und das fand Mike so witzig in Wien: Dem Urbanen wird immer was Neckisches angehängt.

Den Urbanek hatte er auch schon einmal getroffen. Im Bunker. Der Urbanek hielt nämlich einen aus dem Zweiten Weltkrieg stammenden Bunker instand, er hatte dort ein Museum eingerichtet und Mike auch bald hinabgezogen in dieses kalte Memento mori. Hätte Mike Nein sagen können? Nein. Man ist nicht quasi links und gibt dann zu, klaustrophobisch zu sein, wenn man einen Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg besichtigen soll.

Obwohl Mike als hartgesottener Kommunikationsexperte mit geisteswissenschaftlichem Migrationshintergrund wirklich einiges gesehen hatte, ging ihm für Stunden nach seinem Auftauchen aus der Unterwelt ein Foto nicht mehr aus dem Kopf, das in der Bunkerfeuchte gleich bei den Stufen gehangen war: Aus dem Ersten Weltkrieg, ein lebender Mann, und der Unterkiefer fehlte einfach, fehlte. En face. Im Profil. Ein Loch, wo Mensch war.

Über die knappe Dreiviertelstunde, die der Urbanek ihn unter der Erde gehalten hatte, rettete Mike sich durch die gedankliche Hingabe an das Weltkriegsthema und die Frage, warum ihn dieses Foto so verstörte: Es war, so schloss er, der überlebt Habende, der nicht wie im Film Niedergemetzelte, nein, es war der, der lebte und noch lange lebte, in einem Zustand, der nicht sein darf.

Die Tiwald war aber die Sorte Frau, die Mike nach einer Stunde angeregten Gesprächs wie nebenbei die Tür zum leichten Geständnis aufgemacht hatte. Die war so. Die schaute einen durch vertrauenserweckende Brillengläser mit ihren blauen Äuglein an – Riesenaugen, nur durch die Gläser zu kleinen Äuglein geschrumpft –, und zack, man erzählte ihr Sachen. Einfach so. Im Wissen, dass sie eine Schreiberin war. Und wie ein Korken aus dem Flaschenhals ploppt, wenn die Kohlensäure zu sehr drängt, gab Mike zu, dass er sich nur gegen den Widerstand grauenhafter Klaustrophobie zur Bunkerbesichtigung hatte drängen lassen. Plopp, es war heraußen, und die Tiwald lächelte und tätschelte ihm den Unterarm, aber so, dass es gut war. Wie eine Krankenschwester. Eine sympathische Krankenschwester, der man sich anvertrauen möchte. Fast sexy. Sexy Anvertrauen.

Leider war die Tiwald aus von Mike noch nicht erforschten Gründen seit über einem Jahrzehnt mit einem Mann zusammen, der fast genau zwanzig Jahre älter war als sie selbst, und die beiden schienen zusammenzuhalten wie Unterbiss und Übergriff, aber gut, auch dieser Gedanke war wieder in sich übergriffig, und so edierte Mike: Die hielten zusammen wie Pech und Schwefel, die Tiwald und ihr Typ.

Alfred hieß der.

»Der mit den Elfen redet«, sagte die Tiwald und lächelte.

Da war kein Keil hineinzutreiben.

Die Tiwald war auf den ersten Blick eines Communication experts irgendwie ein gescheitertes Exemplar Mensch; sie schrieb zwar ab und zu eine Rezension für eine große Tageszeitung, hie und da lief ein Text von ihr auf Ö1; sie hatte eine Anzahl von Stücken geschrieben, die allerdings nie über Kleinbühnen hinausgekommen waren, ihr bisher einziger Roman war in einem Verlag erschienen, der keine Romane mehr verlegte, weil sich das alles mit Büchern nicht mehr lohnte, dafür war der Verlag das größte Medienhaus Österreichs, aber das hatte der Tiwald auch nichts gebracht. Mike war sich sicher, dass nur eine Handvoll Menschen, die nicht mit ihr verwandt oder befreundet waren, jemals etwas von der Tiwald gehört hatten. »Um das geht’s nicht«, hatte die Tiwald gesagt und sicher nicht wirklich so gemeint, als er sie darauf angesprochen hatte, aber gut. Ihre neue Idee war auf jeden Fall aufregend genug, um sie für eine Inszenierung durchzudenken. Und Mike Knutkovsky beriet ja auch nur die Hinterbänkler in der Partei und keineswegs den Vorsitzenden.

Macbeth Melania

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