Читать книгу Eine Tasse Tee - Kathrin Groß-Striffler - Страница 5
avernakø
ОглавлениеEr ist auf der Insel angepflockt wie eine Ziege am Pfosten. Die Insel ist nur sechs Quadratkilometer groß. Und auf der hat er immer gelebt. Er will nicht fort, und er kann nicht fort. Er akzeptiert das Seil, das ihn festhält, es besingt es und verdammt es, er zerrt daran und lässt sich halten. Segen ist sie, die Insel, und Fluch zugleich.
Er geht in das Stück Garten, das er für die Hühner abgegrenzt hat. Eins hat einen nackten Arsch, keine Ahnung, warum. Sie scharen sich flatternd und gackernd um ihn, weil er einen Eimer mit Getreide dabeihat. Er fasst mit der Hand hinein und spürt die kühlen Körner, die einen leicht modrigen Duft verströmen. In diesem Jahr steht der Weizen hoch, aber es kann ihm egal sein. Er ist kein Bauer mehr. Seine Scheune ist vor sechs Jahren abgebrannt und hat seine gesamte Ernte vernichtet. Da hat er aufgegeben und sein Land verpachtet. Sein Nachbar, der neue Pächter, hat ihm auf die Schulter geklopft. Vielleicht kann ich jetzt überleben, hat er gesagt. Kriegst ja kaum was für das Getreide. Er hat sorgenvoll den Kopf geschüttelt. Und wie geht’s jetzt bei dir weiter? Niels hat die Achseln gezuckt. Ich mach’ mich nützlich, hat er gesagt. Viel brauchen wir ja nicht, meine Mutter und ich.
Er langt in die Nester und sammelt die noch warmen Eier ein. Am Nachmittag muss er ein paar öffentliche Rasenflächen mähen und den Lieferwagen für den nächsten Tag fertigmachen. Montags und donnerstags holt er frische Lebensmittel von Fünen herüber, für den kleinen Kaufladen. Die Fahrzeit auf der Fähre beträgt eine Stunde. Eine Stunde, die ihnen allen hier Stille garantiert und Gleichmaß. Man könnte auch sagen, Langeweile und Einsamkeit. Hundert Einwohner sind sie auf Avernakø. Touristen verirren sich nicht zu ihnen. Was sollen sie hier auch machen. Im Meer baden, gut, einmal um die Insel radeln. Viele der ehemaligen Bauern arbeiten in Fåborg in den Fabriken. Also ist es tagsüber noch stiller als still. Nur der Wind fährt durch die Pappeln. Vereinzelt hört man eine Kettensäge oder eine Fräse oder einen Hund oder das Maunzen einer Möwe. Er seufzt. Er hat das Gefühl, dass seine Haut an ihm herabhängt wie ein zu großer Mantel. Seine Schritte hallen im dunklen Flur. Er stößt die Tür zur Küche auf und stellt den Korb mit den Eiern auf den Tisch. Mach die Tür zu, es zieht, sagt seine Mutter. Sie schnuffelt. Du weißt doch, dass mir Zug nicht bekommt. Wortlos schließt er die Tür. Das Fenster ist beschlagen vom Dampf, der aus einem der Töpfe aufsteigt. Er geht hinters Haus und jätet das Unkraut im Kartoffelacker. Zahme Feldhasen sehen ihm dabei zu.
Seine Mutter sagt beim Mittagessen: Bring morgen Fisch mit, und er nickt. Wässrige rotgeränderte Augen schauen aus einem von Falten völlig zerknitterten Gesicht. Er denkt: Wenn sie tot ist, bin ich ganz allein. Diesen Gedanken hat er in der letzten Zeit öfter, weil sie langsam vor seinen Augen verlischt. Als er in Fåborg auf die Hauptschule ging, hat er immer mal wieder ein Mädchen gehabt. Was, du bist von Avernakø? Das war das Ende. Meine Güte, wie lange das her ist. Sein Vater war in dem Alter, in dem er jetzt ist – achtundfünfzig – schon tot. Selbst durch das geschlossene Fenster hört man das unwirsche Rufen eines Fasans. Seine Mutter ist ihr gesamtes Leben nie übergesetzt, sie wird auf dem kleinen Friedhof neben ihrem Mann liegen, wenn es soweit ist. Dem Friedhof, dessen Kieswege er harkt. Mädchen für alles ist er, es ist ein Jammer, aber immer noch besser als Fabrik. Er sieht doch, was die Fabrik aus den anderen macht. Kettenraucher und Trinker, Männer und Frauen, die auf der Fähre schon die Bierdosen in der Hand haben, die den Rauch so gierig inhalieren, als hinge ihr Leben davon ab. Oder das, was davon übrig ist, und das ist nicht viel.
Am nächsten Morgen nimmt er mit ihnen die erste Fähre früh um sieben. Die meisten legen ihre Arme auf die Tische und den Kopf darauf und schlafen noch ein Stündchen. Er hat sein Buch dabei, das er in der Bücherei in Fåborg ausgeliehen hat und zurückbringen muss, einen historischen Roman über Karl den Großen. Er glaubt, er ist der Einzige, der auf Avernakø Bücher liest. Er wäre gern weiter zur Schule gegangen, aber er wurde auf dem Hof gebraucht. Das Buch riecht nach Staub, die Seiten sind vergilbt. Er lauscht dem Brummen des Schiffsmotors, bevor er zu lesen anfängt, fühlt das leichte Schaukeln, der Wind hat noch zugelegt über Nacht, die Sonne scheint hell und weiß. In der Nacht hat eine Kuh des Nachbarn gekalbt, er ist von ihrem Schreien aufgewacht und hat lange nicht mehr einschlafen können. Auf der Insel gibt es nur kleine Herden, er selber hatte fünf Kühe, die den Sommer lang auf der Weide grasten. Vorbei, alles vorbei.
In Fåborg besorgt er frische Lebensmittel und Fisch und lädt alles in den Lieferwagen. Als er langsam durch die Straßen läuft und Paare sieht und Kinder, verwünscht er die Tatsache, dass er auch noch dankbar sein muss für diesen Job. Er geht dicht an einer Schaufensterscheibe vorbei. Ja, das ist er, dieser kleine gedrungene Mann mit den schlohweißen Locken, die er selber schneidet, den zu kurzen Cordhosen, den abgetretenen Schuhen. Die Hose ist zu weit hochgezogen. Auf der Insel ist ihm das egal. Aber hier … Hier ist es, als wäre ein Vergrößerungsglas auf ihn und sein dummes Leben gerichtet. Das geht so weit, dass er stottert, als er sich später in einer kleinen Kneipe ein Bier bestellt. Er sieht auf die Uhr. Die Fähre geht in einer halben Stunde, gottlob, der Tag wird bald vorüber sein.
Er hat seinen Lieferwagen im Schiffsbauch geparkt, die Handbremse fest angezogen, ist nach oben aufs Deck. Die Sonne scheint immer noch, nur ist ihr Licht jetzt wärmer, beinah honigfarben, bescheint die vielen kleinen Inseln, die unbewohnt sind, der Sand leuchtet golden auf. Die Arbeiter sitzen in einer Gruppe zusammen um einen Tisch, sie trinken und rauchen, und er grüßt sie freundlich. Unten wird die Rampe hochgefahren, die Fähre legt ab, nimmt Fahrt auf, er schaut über das türkisgrüne Wasser, vom Wind zu kleinen Kämmen geriffelt, langsam, aber stetig entfernen sie sich von der Stadt, von dem Lärm, von den Menschen, von dem Gefühl des Scheiterns, von den Hirngespinsten, was hätte sein können oder hätte sein sollen, jetzt ist wieder alles so, wie es eben ist. Er kehrt heim. Er lehnt sich zurück, spürt die Sonne auf Kopf, Nacken und Schultern, da öffnet sich die Tür, und eine Frau tritt blinzelnd auf das Deck. Er hat sie noch nie gesehen, sie gehört nicht auf die Insel. Ihre kurzen dunklen Haare sind mit grauen Strähnen durchsetzt, sie muss in seinem Alter sein. Sie trägt Jeans und eine weit fallende, dunkelblaue Bluse. Ihr Blick geht über das Grüppchen der Arbeiter, fällt dann auf ihn, schweift weiter, kehrt zurück, sie schaut, fragend erst und dann nicht mehr fragend, eher so, als ob sie ihn kennte, ihre Mundwinkel heben sich zu einem schwachen Lächeln, und sie zittern, die Mundwinkel, und meine Güte, was ist er verwirrt. Verwirrt und gleichzeitig ganz ruhig. Er schaut zurück, und auch er lächelt. Einen Augenblick lang, grade den Moment zwischen dem Schlag der Wimpern, steht die Welt still, verrinnt keine Zeit. Dann wendet sie sich ab, geht zur Reling, legt ihre Arme darauf. Er nimmt die Biegung ihres Rückens wahr, an dem nichts Abweisendes ist, es müsste schön sein, mit der Fingerkuppe über die einzelnen Wirbel zu fahren. Er schließt die Augen und öffnet sie wieder. Nein, er hat nicht geträumt, sie ist noch da. Was will sie auf der Insel? Will sie dort Urlaub machen, hat sie sich ein Zimmer gemietet? Er wüsste niemanden, der Gäste aufnimmt. Auf jeden Fall bleibt sie über Nacht, sie sind auf der letzten Fähre. Sie wendet sich um, wieder treffen sich ihre Blicke, wieder lächeln beide. Steh auf, du Depp, sagt er sich, geh hin, sprich sie an. Doch er hat Angst, den Zauber zu zerstören. Auch er glaubt, dass er sie kennt, von vor ganz langer Zeit. Es gibt keine Fremdheit zwischen ihnen. Sie hat sich mittlerweile wieder abgewendet, läuft langsam über das Deck, schaut hierhin und dorthin, dann drückt sie auf den Knopf, der die Tür zum Innern des Schiffes öffnet, und verschwindet, vielleicht holt sie sich einen Kaffee, und immer noch sitzt er da und rührt sich nicht. Er hat das Gefühl, ganz viel Zeit zu haben. Er wird ihr die Insel zeigen, den feinen Sandstrand am Ende, die Stelle, wo sie so schmal wird, dass das Meer von beiden Seiten bis an die Straße heranreicht, er wird sagen: Nicht tief einatmen, hier stinkt das Wasser; er wird sagen: Wir haben nichts hier außer Stille, Wasser und Wind; und sie wird nicken und ihn verstehen. Er hat gar nicht gemerkt, dass die Überfahrt ihrem Ende zugeht, und fährt zusammen, als eine Frauenstimme aus dem Lautsprecher die Passagiere auffordert, zu ihren Autos zurückzukehren. Unten im Schiffsbauch steht sie neben ihrem Fahrrad, da, wo die Rampe heruntergefahren werden wird, und er, der der Erste in Fåborg war, wird nun der Letzte sein, der die Fähre verlässt, aber er kann nicht hin zu ihr und sagen: Warten Sie, oder: Wohin fahren Sie?, oder: Bleiben Sie, er kann einfach nicht, er ist wie gelähmt. Er hat zu viel Angst, dass die Luftblase aus Glück zerplatzt, dass er sich geirrt hat, dass alles Einbildung war, so etwas gibt es doch nicht, dass sich zwei Menschen kennen, die sich noch nie gesehen haben, also muss er zusehen, wie sie sich auf ihr Fahrrad schwingt und davonradelt, fest in die Pedale tritt, und diesmal drückt ihr Rücken etwas anderes aus. Enttäuschung. Ungeduldig wartet er, bis ein Wagen nach dem anderen an Land gefahren ist, aber als er dann endlich die schmale Straße zum Kaufladen hinter zockelt, ist sie verschwunden. Lars hilft ihm beim Ausladen, eine Zigarette zwischen den Lippen. Niels fragt: Gibt es seit neuestem jemanden auf der Insel, der Zimmer vermietet?, lässt seine Stimme beiläufig klingen. Na, die Madsens, soweit ich weiß, sagt Lars. Den Lieferwagen lässt Niels stehen, er gehört dem Laden. Er könnte jetzt heimgehen, sein Fahrrad holen, zu jenem Haus fahren, unauffällig mit den Madsens ins Gespräch kommen, sie ein bisschen ausfragen über die Frau, woher sie kommt, warum ausgerechnet Avernakø, und dann tut er es doch nicht, er verschiebt es auf den nächsten Tag, wo er den Müll einsammeln muss, er wird da zwangsläufig an jenem Haus vorbeikommen, ja, gut, er ist ein Feigling, aber es steht zu viel auf dem Spiel, im Grunde steht alles auf dem Spiel, also setzt er sich zu seiner Mutter an den Küchentisch, wartet, bis der Fisch fertig gebraten ist, ihr fällt es nicht auf, wenn er nichts sagt, sie reden nie viel. Danach holt er sich einen Stuhl und hockt sich in den Garten und weiß sie ganz in der Nähe, sie, die Fremde, sie schaut wie er den Mond an, der langsam über dem Meer aufgeht, hört wie er die Fasane rufen; und als dann die ersten Fledermäuse durch die Luft schwirren, ist er wieder froh. Wer verbietet ihm, am nächsten Morgen mit jenem Haus anzufangen, die Tour verkehrtherum zu machen? Er ist ja schließlich ein freier Mann! Er legt sich ins Bett und wagt kaum, sich zu sehnen, wagt sich kaum einzugestehen, dass seine Sehnsucht nun ein Gesicht hat, dass all die einsamen Nächte zu dieser Nacht geführt und somit einen Sinn bekommen haben. Der Schlaf will nicht kommen, aber wer braucht schon Schlaf!
Das Haus der Madsens liegt an der hinteren Spitze der Insel, direkt am Meer und an drei Seiten von Wald umgeben. Ein Schotterweg führt hin. Er hat seinen Anhänger an den Traktor gekoppelt und holpert auf das Haus zu, das von hier aus nicht zu sehen ist. Sein Herz rumpelt in seiner Brust. In der Regel bringen die Bewohner ihre zugebundenen Müllsäcke bis vor an Straße oder Weg, aber heute liegt noch kein Sack da, wahrscheinlich rechnen sie erst später mit ihm. Er lässt den Motor laufen und steigt ab, froh über das laute Rattern, das ihm Schützenhilfe gibt. Er klappt das Brett des Anhängers herunter, legt sich die Worte zurecht, wenn sie lächelt, wird alles ein Leichtes sein, wenn nicht, wird er sich lächerlich machen mit seinem Gestammel, wie auch immer, es muss sein, er gibt sich einen Ruck und dreht sich um. Und dann geht alles so schnell, wie es auf der Fähre langsam gegangen ist, wo er noch glaubte, Zeit zu haben, wo er noch glaubte, auch für ihn könne es so etwas wie Glück geben, einen zaghaften, herrlichen Augenblick lang, der sich für immer in sein Herz eingegraben hat, von dem er wird zehren müssen, sollte er jemals in der Lage sein, ihr das zu vergeben, was sie ihm jetzt antut: sie kommt auf ihn zu, ein hochgewachsener Mann ist an ihrer Seite, ein Wagen mit deutschem Kennzeichen steht vor dem Haus, sie stockt, sieht ihn, sieht den Anhänger mit den paar Müllsäcken, die er auf dem Weg hierher eingesammelt hat, schiebt demonstrativ ihren Arm unter den des Mannes und lächelt Niels an. Es ist ein anderes Lächeln als auf dem Schiff. Es ist von oben herab, und es macht ihn kleiner, als er ohnehin ist, es ist fremd, grausam und demütigend. Es misst ihn, es urteilt ihn ab. Mit einem fröhlichen Hi! gehen beide an ihm vorüber. Und wieder ist es ihr Rücken, auf den er starrt, den er hassen würde, wenn er nur könnte, allein die Selbstachtung gebietet es schon, aber vernichtet, wie er ist, ist er nicht fähig zu Hass, auch deswegen, weil er noch etwas anderes in ihrem Gesicht erkannt hat, in ihren grauen Augen, die er zum ersten Mal aus der Nähe gesehen hat, die einen kleinen goldenen Stern in der Mitte haben, die weit aufgerissen waren, Augen, die der Spiegel der Seele sind, wie man sagt, und die seine kurz trafen: Angst.