Читать книгу Eine Tasse Tee - Kathrin Groß-Striffler - Страница 6
meine mutter und ich
ОглавлениеMeine Mutter und ich, wir sind die letzten unserer Art. Wenn sie tot ist, wenn ich tot bin, kommt keiner mehr.
Im Haus meiner Mutter gibt es keine weichen Teppiche. Dafür ein paar verschlissene Läufer, mit Fransen. Unter den hohen Stuckdecken, in den dunklen Winkeln, lastet das Schweigen. Das Haus ist vollgestopft bis unters Dach, vollgestopft mit all dem, was sie nicht wegwerfen kann. Vasen. Krüge. Möbel, die seit dem Tod meines Vaters nicht mehr gebraucht werden. Seine Wäsche, seine Mäntel. Seine Bücher. Sein Schreibtisch. Das kalte Licht der Lampen leuchtet jeden Winkel aus. Sammeltassen stapeln sich, alte Schuhe, sauber in die Kartons verpackt, in denen sie gekauft wurden. Meine Mutter hortet. Warum hast du den Putzlumpen weggeworfen, Margarete, sagt sie anklagend, er war doch noch gut. Nein, sage ich, er war dünn und verschlissen, und er hatte Löcher. Du schmeißt alles weg, sagt sie im Ton des Vorwurfs. Ich sage, wir kaufen einen neuen. Sie sagt, kommt nicht in Frage. Dafür gebe ich mein Geld nicht aus. Schau, dass du ihn wiederfindest. Die Müllabfuhr war noch nicht da.
Im Haus meiner Mutter weht kein frischer Wind. Nie öffnet sie die Fenster. Das Schweigen und die abgestandene Luft und der Staub hängen in den Räumen. Bei einem meiner letzten Besuche habe ich gesagt, Mutter, es riecht seltsam. Da hat sie schnell den Kopf geschüttelt. Das ist die Waschlauge, hat sie gesagt. Ich habe heute Morgen Kleider eingeweicht. Warum benutzt du nicht die Waschmaschine?, frage ich. Strom ist teuer, sagt sie.
Draußen ist es dunkel, und der Zug, der mich zu meiner Mutter bringt, gleitet fast geräuschlos durch die Nacht. Hin und wieder blitzen Lichter auf, Städte, Dörfer, Menschen sehe ich an Fenstern sitzen, ganz kurz nur, dann saugt die Bahn das Licht in sich auf, gleitet weiter durch Felder und Hügel, die schwarz liegen wie das Meer bei Nacht. Sie, meine Mutter, ist im Krankenhaus. Auf allen Vieren ist sie aus dem Garten die Treppe hoch zum Telefon gekrochen, hat mich angerufen mit einer Stimme, die mich ins Mark erschreckt hat, so von weit her klang sie, als hätte meine Mutter schon den Tod gesehen. Sie ist einundneunzig, meine Mutter. Sie hat die Fliesen der großen Terrasse hinter ihrem Haus tagelang mit einer Wurzelbürste bearbeitet. Sie hat Eimer mit Tonfarbe gekauft und ins Haus geschleppt, mit der sie die Fliesen streichen wollte. Und ist zusammengebrochen. Ich habe veranlasst, dass ein Rettungswagen sie ins Krankenhaus bringt. Vor kurzer Zeit noch hätte ich das Flugzeug nehmen müssen, um zu ihr zu gelangen. Habe ich doch immer weit weg gelebt. Amerika. Japan. Doch jetzt bin ich zurück. Ich habe keine Geschwister. Und keine Kinder. Mein Vater ist seit langem tot. Wir müssen das nun zu Ende bringen, sie und ich.
Im Gepäck habe ich Plastikdosen. Jede Menge Plastikdosen. Denn sie gibt mir jedes Mal, wenn ich sie besuche, Eingewecktes mit: Apfelkompott, eingelegte Tomaten, Erdbeerkonfitüre. Manchmal auch Fleisch, das sie als Sonderangebot erstanden und für mich vorgekocht und eingefroren hat. Oder rohe Milch. Unmengen von Milch. Sie behauptet, nur in ihrem Dorf gebe es gute gesunde Milch. Wie oft schon sind mir die Kannen im Auto umgefallen, und es hat nach Käse gestunken, wochenlang. Daheim koche ich die Milch ab und fülle sie in Flaschen. Die Kannen und Dosen spüle ich sorgsam aus. Sie zählt sie, wenn ich abreise, und sie zählt sie, wenn ich zurückkomme. Sie wird im Krankenhaus danach fragen. Ich kenne meine Mutter. Meine Mutter ist in meinem Organismus. Ihr Blut läuft durch meine Adern, ihre Gedanken sind in meinem Kopf. Ich sehe nach draußen, und mein Spiegelbild bleckt mir die Zähne. Ich sehe ihr ähnlich. Ich sehe viel älter aus, als ich bin. Ich habe dieselben grauen wirren Locken, dieselbe gerade Nase, dieselben großen Zähne, dieselbe harte steile Falte über der Nasenwurzel. Aber einen Unterschied gibt es: sie ist zäher als ich. Sie ist nicht totzukriegen. Sie wird jahrelang sterben. Sie bezieht ihre Kraft aus meiner Substanz. Saugt mich aus wie ein Blutegel. Ich habe Rückenprobleme; sie nicht. Sie steht kerzengerade; ich stehe gebückt. Sie lässt sich mein Rückenmark auf der Zunge zergehen.
Dann, vor ein paar Wochen, habe ich die Klinke zu ihrem Schlafzimmer heruntergedrückt. Meine Mutter war im Keller. Es stank nach Urin. Sie muss inkontinent sein. Ich habe Berge von Wäsche ins Badezimmer gebracht. Ich habe zehn Ladungen gewaschen. Mit der Maschine. Aus der Maschine kommt ein Schlauch, den man über den Rand der Badewanne hängen muss. Dazu muss man die Maschine bewegen, weil der Schlauch zu kurz ist, und sie ist sehr schwer. Deswegen also wäscht sie mit der Hand. Nicht nur wegen dem hohen Strompreis. Offenbar schämt sie sich. Meine Mutter schämt sich vor mir. Das ist neu. Aber ich bin zu müde, um darüber nachzudenken. Klobrille gibt es auch keine mehr. Ich sage, wir kaufen eine neue. Sie sagt, es geht auch ohne. Auf dem Klorand sind Urinflecken, gelblich, einzelne Haare hängen darin.
Die Abteiltür wird aufgeschoben. Eine junge Mutter und ein kleines Mädchen kommen herein. Ist hier noch frei?, fragt die Mutter, und ich nicke höflich. Sie verstauen ihr Gepäck im Netz und setzen sich hin, mir gegenüber. Das Kind legt seinen Kopf an die Schulter der Mutter und schließt die Augen. Ich sehe es an. Es schläft. Die Mutter sitzt still, ganz still. Ich merke, dass ich mit den Zähnen knirsche. Nachts tue ich das auch, im Schlaf. Und ich werfe meinen Kopf hin und her. Ranschen nannte das meine Mutter. Junge Katzen treten gegen die Brust ihrer Mutter, dass Milch kommt. Ich ransche mit dem Kopf.
Ich bin höflich. Immer wieder sagt man, wie höflich Margarete ist. Höflich und korrekt. Ich bin mit meiner Mutter in der Straßenbahn, und sie schreit den Fahrer an. Dass er zu ruckartig fahre. Aller Augen sehen nach vom. Ich möchte im Boden versinken. Sie ruft, da zahlt man einen so hohen Fahrpreis und dann das. Ohne Rücksicht auf Verluste. So ist die heutige Jugend. Warten Sie mal, bis Sie älter sind. Der Fahrer schüttelt den Kopf.
Der Tag besteht aus Pflichten. Aufgaben, die man abarbeiten muss. Teppiche klopfen. Wäsche waschen. Bett beziehen. Einkaufen gehen. Aber nur das Nötigste. Sonderangebote. Obst und Gemüse liefert ihr Garten. Abends: Strümpfe stopfen. Sie kneift die Augen zu Schlitzen zusammen, und ich sage, du verdirbst dir die Augen. Da sitzt sie unter der lächerlichen Stehlampe und stopft mit zusammengebissenen Zähnen. Das Deckenlicht ist aus. Sie sitzt in dem matten runden Lichtkegel und führt mit zitternden Fingern den Faden durch das Nadelöhr.
Einmal im Schlafzimmer, habe ich alle Türen des mächtigen Einbauschranks aufgemacht. Meine Eltern haben ihn nach ihrer Hochzeit angeschafft. Möbel kauft man fürs Leben. Ich finde Unterwäsche. Ausgeleierte, unsäglich formlose Schlüpfer, die muffig riechen. Handtücher, die dünn und hart sind wie Sperrholz. Verblichene Bettwäsche mit Karomuster. Sauber, Kante auf Kante, geordnet. Mottenkugeln fallen mir entgegen. Daneben hängen ihre Kittelschürzen auf Kleiderbügeln. Und ihre zwei Faltenröcke. Einer dunkelblau, für gewöhnliche Anlässe. Einer schwarz, für besondere. Ein paar vergilbte Blusen. Ich öffne eine weitere Tür: alte Schurwollbettdecken mit gelbbraunen Flecken. All das werde ich ausmisten müssen, wenn sie tot ist. Wochen werde ich brauchen. Mein Mann wird sagen: Lass einen Container kommen und wirf alles rein.
Meinen Mann mag sie nicht. Sie hat gesagt: Er ist nur angeheiratet, er gehört nicht zur Familie. Sie redet nicht mit ihm. Tut, als sei er nicht da. Dabei ist er groß und nicht zu übersehen. Er ist Chemiker. Sehr erfolgreich. Er sagt, warum rennst du immer hin zu ihr, sie hat es nicht verdient. Ich sage: Aber sie ist meine Mutter. Ich weine. Er sagt: Ich finde es falsch, dass du dich so reinstresst. Bleib bei mir, da gehörst du hin. Mein Mann ist keiner von den Zärtlichen. Das liegt ihm nicht. Er hat vor dreißig Jahren gesagt: Du und ich, wir bauen was auf. Dazu steht er. Er steht zu allem, was er einmal beschlossen hat. Da wird nichts mehr in Frage gestellt. Mir kann’s recht sein. Auch ich bin keine von den Zärtlichen. Das ist mir nicht wichtig. Wir passen zusammen. Nur Söhne hätte er gern gehabt.
Wie meine Mutter mich früh geweckt hat, als ich noch klein war: Kam ins Zimmer, zog ratsch, rasselnd und mit einem Ruck den Rollladen hoch. Ich saß aufrecht und erschrocken im Bett. Blinzelte ins Tageslicht, das kalt war und hell. Ich fror. Auch im Sommer fror ich. In der Küche gab es blutfarbenen Tee. Und Haferflocken, schnell, schnell, du musst in die Schule. Die Mutter war schon bei der Arbeit. Stand in ihrer Kittelschürze am Herd, schnitt Kohl aus dem Garten. Wie ich Kohlsuppe verabscheute. Aber was auf den Teller kam, wurde gegessen. Wenn die Zucchinis reif waren, aßen wir wochenlang nichts anderes.
Das kleine Mädchen ist weich gegen die Mutter gesunken, und sie legt seinen Kopf auf ihren Schoß. Das kleine Mädchen murmelt im Schlaf, und die Mutter lächelt. Der Zug bremst, und es riecht nach verbranntem Gummi. Das wäre was: ein Zugunglück. Die Tochter stirbt vor der Mutter. Da hätte sie niemanden mehr, den sie herumkommandieren kann. Sie hat im Dorf keine Bekannten. Sie lebt ganz für sich, in ihrem großen Haus. Mein Mann sagt: Sie hat sich nie um Kontakte gekümmert, und jetzt hängt alles an dir. Sie hätte dafür sorgen sollen, dass sie im Alter nicht allein ist. Hätte sie, sage ich, hat sie aber nicht. Und nun? Soll ich sie allein lassen? Mein Mann sagt: Tu sie in ein Pflegeheim. Sie weigert sich, sage ich ruhig. Wenn du nicht mehr hinrennst, sagt mein Mann, wird ihr nichts anderes übrigbleiben. Das kann ich nicht, sage ich und weine. Verstehst du das nicht? Nein, sagt mein Mann. Das verstehe ich nicht. Und er sagt: Bleib bloß nicht zu lange dort. Du hast eine Ehe zu führen.
Mein Vater war groß und schweigsam. Er starb, als ich vier war. Hat sich davongemacht. Er hat mich mit ihr allein gelassen. Einmal saß ich auf seinem Schoß, hatte Buntstifte in der Hand, und malte. Malte große schwarze runde Augen. Immer nur Augen. Mal einen Mund hin, der lächelt, hat er gesagt. Aber ich wollte nicht. Mach du’s, habe ich gesagt. Er hat meine Hand mit dem Stift in seine Hand genommen und gesagt: Punkt, Punkt, Komma, Strich, und fertig ist das Mondgesicht. Aber auch dieser Mund hat nicht gelächelt. Da haben wir es aufgegeben. Er hat mich auf den Boden gestellt und: Geh spielen, gesagt. Kurz darauf ist er gestorben. Magenkrebs. Er hat zu viel in sich hineingefressen, nehme ich an.
Man hat ihr einen Herzschrittmacher eingesetzt. Sie wird die Schwestern herumscheuchen. Und ich kann es dann wieder gradbiegen, kann Trinkgelder verteilen, beruhigende Worte finden. Meine Mutter ist krank. Meine Mutter war ihr Leben lang nie krank. Das wird sie uns spüren lassen. Ich überlege kurz, wähle die Nummer ihres Zimmers. Ich werde leise sprechen, dass das kleine Mädchen nicht aufwacht. Eine Schwester nimmt ab. Wie geht es ihr, frage ich, ich bin die Tochter. Die Schwester seufzt. Sie darf nicht aufs Klo. Aber sie weigert sich, die Bettpfanne zu benutzen. Und nun?, frage ich. Wir warten, bis sie platzt, sagt die Schwester. Nehmen Sie mir’s nicht übel. So eine hatten wir noch nie. Eine harte Nuss. Eine wirklich harte Nuss. Ich weiß, sage ich besänftigend. Ich weiß, wiederhole ich. Was soll ich auch sagen? Sie schimpft wie ein Rohrspatz, sagt die Schwester. Als wäre es unsere Schuld. Wir haben sie fixieren müssen, sagt die Schwester. Ich hoffe, Sie haben Verständnis. Habe ich, sage ich eilfertig. Ich habe volles Vertrauen zu Ihnen. Ich bin in ein paar Stunden da, ich sitze im Zug. Was sagt der Arzt? Sie wird nicht mehr die, die sie mal war, sagt die Schwester. Soviel ist klar. Das denke ich auch, sage ich. Ich danke Ihnen. Und lege auf.
Sie wird nicht mehr die, die sie mal war. Ich habe Magenschmerzen. Immer wenn es schlimm wird, schlägt es mir auf den Magen. Das habe ich von meinem Vater. Ich zwinge mich, ruhig zu denken. Ins Pflegeheim will sie nicht. Nachhause gehen kann sie nicht. Bleibt nur eine Möglichkeit: Sie muss zu uns. Nein, hat mein Mann gesagt, das kommt nicht in Frage. Sie oder ich. Wenn du sie holst, bin ich weg. Ich weiß, dass er es ernst meint. Also was? Wenn ich eine Pflegerin organisiere, die täglich ins Haus kommt? Keine wird lange bleiben. Keine wird es bei ihr aushalten.
Und immer sagt sie, die anderen haben Schuld. Sie ist bitter. Sie ist eine zu kurz Gekommene. Sie war ein uneheliches Kind von einem belgischen Kriegsgefangenen, den sie nie gesehen hat. Die Grippe-Epidemie wütete. Das war 1918, und sie war ein Baby. Auch sie erkrankte und schlief vier Wochen lang. Hinterher sagte man: Ach, wärst du nur gestorben. Ihre Mutter bekam noch ein Kind, ein eheliches diesmal. Sie selber lernte Hauswirtschaft und ging in Stellung. Als sie den ersten Lohn bekam, erschien ihr Bruder. Deine Leute brauchen das Geld für die Sau, die krank ist. Die Opernsängerin, bei der sie arbeitete, hat gesagt: Aber neue Schuhe könntest du dir anschaffen. Es wird bald kalt. Doch das Geld war weg. Für die Sau. So war das, Margarete, sagt sie bitter. Du weißt gar nicht, wie gut du es hast. Ich schlucke und fühle mich schuldig.
Das kleine Mädchen wacht auf und schaut mit großen Augen um sich. Es fragt, ob es die kleine Leuchte über dem Sitz anmachen darf, und die Mutter nickt. Sie lächelt mich an. Ganz weich und ohne Arg. Das Mädchen krabbelt auf ihren Schoß, und sie legt die Arme um den kleinen Körper. Geborgen schmiegt es sich an die Brust der Mutter. Ich kann meinen Blick kaum von beiden wenden. So etwas gibt es also, denke ich. Für mich ist das eine Offenbarung, nichts mehr und nichts weniger. Ich habe das seltsame Gefühl, dass sich meine Konturen auflösen. Dass ich zu Luft werde. Gottseidank nur kurz, einen schwebenden Augenblick lang. Jetzt bin ich wieder ich selber, und ich schaue aus dem Fenster, bemühe mich, nicht das Spiegelbild der beiden zu sehen, sondern die dunkle Landschaft draußen, über der nun die schmale Sichel des Mondes hängt. Ich versuche, an etwas zu denken, das meiner Mutter Freude gemacht hat. Der Himmel, fällt mir ein. Sie hat gern den Himmel angesehen. Die tintigen Wolken vor einem Gewitter, das endlose Blau an einem Sommertag. Das besonders. Sie hat den Kopf in den Nacken gelegt. Das ist schön, hat sie gesagt. Man denkt, man kann fliegen. Doch sie war schnell wieder auf dem Boden. Hat gesagt, der Garten ist voller Unkraut, ich muss mich ans Werk machen.
Ich sehe auf die Uhr. Da läutet das Telefon. Meine Mutter weint. Hol mich hier raus, flüstert sie. Ich sage: Du musst durchhalten, Mutter. Es wird dir bald besser gehen, und dann kannst du wieder nach Hause. Ich muss in den Garten, sagt sie. Keiner macht die Arbeit, wenn ich weg bin! Daran darfst du jetzt nicht denken, sage ich. Aber natürlich hört sie mir nicht zu. Nie kommt die Schwester, wenn man sie ruft, sagt sie anklagend. Ich klingle dauernd, und meinst du, sie halten es für nötig und kommen? Sie sitzen sicher in der Küche und trinken Tee. Und ich muss auf die Toilette. Du musst die Bettpfanne benutzen, sage ich. Niemals!, ruft sie. Ich kann aufs Klo! Nun fall du mir auch noch in den Rücken! Der Arzt sagt, du darfst noch nicht aufstehen, sage ich besänftigend. Immer höflich, immer verständnisvoll. Papperlapapp!, sagt sie. Ich frage mich, ob ich jemals gegen sie aufbegehrt habe. In der Pubertät? Nein. Ich habe immer nach Kompromissen gesucht. Mein Mann sagt, du lässt dir auf dem Kopf rumtrampeln. Ich bin bald bei dir, sage ich tröstend. Meine Mutter schweigt. Mutter? Ich habe nie Mama gesagt. Das fand sie primitiv. Und sie sagte nie Gretl. Oder Grete. Auch mein Mann sagt immer Margarete. Hat mein Schätzchen Hunger?, sagt die Mutter zu dem kleinen Mädchen. Es schaut mich auf eine Art an, dass ich wegsehen muss. So unverwandt, so tief in meine Seele hinein. Schau da nicht hin, denke ich. Da ist nichts. Meine Mutter hat aufgelegt.
Die Frau hat zwei Brötchen ausgepackt, und die beiden essen. Nachhause kann meine Mutter nicht. Ins Pflegeheim will sie nicht. Im Krankenhaus bleiben für immer wird sie nicht. Sie muss zu uns. In meinem Kopf dreht sich ein Mühlstein. Sie muss zu uns nachhause. Aber das will mein Mann nicht. Sie oder ich, sagt er. Ich sehe auf die Uhr. Noch zehn Minuten. Das kleine Mädchen kaut. Draußen blitzen Lichter, und es werden immer mehr. Nachhause kann sie nicht. Ins Pflegeheim will sie nicht. Zu uns darf sie nicht. Mein Mann hat recht. Hat mein Mann recht? Sie wird nicht wieder gesund. Schnell sterben wird sie nicht. Ich kenne sie. Sie ist zäh. Da fällt mir ein: Sie hat vergessen, nach meiner Katze zu fragen. Es scheint ihr wirklich schlecht zu gehen.
Draußen: ein Lichtermeer. Der Zug wird langsamer, und die Mutter packt das Papier weg, steht auf, holt das Gepäck aus dem Netz. Wenn sie alt ist, was wird dann sein? Wird das kleine Mädchen sich um sie kümmern? Wird es einen Mann haben, der sagt, sie oder ich? Auch ich erhebe mich langsam. Streiche meinen Rock gerade. Meinen Faltenrock, dunkelblau. Im Fenster sehe ich, wie gebückt ich dastehe. Ich versuche, die Schultern zu straffen, aber wie von allein sacken sie wieder nach vom. Ich bin fünfundfünfzig. Kein Alter. Und ich habe keine Tochter. Aber ich habe einen Mann, der mich im Pflegeheim besuchen wird. Zumindest ist das anzunehmen. Das ist doch ein Trost, oder nicht?
Der Zug fährt mit quietschenden Bremsen in den Bahnhof ein. Ich sehe Plakattafeln, Bänke, einen Kiosk. Ob es dort schwarzen Kaffee gibt? Ich stelle mir vor, wie das heiße Getränk durch meine Kehle rinnt. Ich nehme mein Handy und stelle es ab. Langsam steige ich aus. Langsam gehe ich auf den Kiosk zu. Der Kaffee ist heiß und süß und gut. Ich sehe auf die Uhr, dann auf die Tafel, wo die Züge angekündigt werden. Die Zahlen verschwimmen vor meinem Blick, werden wieder klar. In einer halben Stunde fährt ein Zug dahin, woher ich gekommen bin. Ich habe noch etwas Zeit, und ich kaufe mir ein Brötchen und esse es, und die Sauce rinnt an meinem Kinn herunter. Dann fahre ich mit der Rolltreppe in die Unterführung, laufe durch den dunklen Gang, in dem es nach Urin riecht, wie im Haus meiner Mutter, dem großen, stillen, leeren Haus, fahre eine andere Rolltreppe wieder hoch. Die Tüte mit den Plastikdosen werfe ich in den Müll. Der Zug wartet schon. Warm ist es im Abteil, sehr angenehm, und der Sitz aus rotem Plüsch ist weich. Der Zug fährt mit einem Ruck los, einem Ruck, der durch mich hindurchgeht. Ich sehe auf die Uhr. Noch vier Stunden. Vier Stunden, die mir gehören. Nur mir allein.