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Kapitel 1 Montag, 09.03.2020 – morgens

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8:59 Uhr

Katharina von Hagemann blickte angespannt in die Augen ihres Vorgesetzten Hauptkommissar Benjamin Rehder. Er lächelte ihr aufmunternd zu, doch sah er dabei alles andere als locker aus. Er hatte seine Hände tief in den Hosentaschen vergraben, während Katharina nervös mit dem Zeigefinger an der empfindlichen Haut ihres Daumens knibbelte. Wie gern hätte sie sich in diesem Moment eine Zigarette angesteckt. Vielleicht würde dann der dicke Kloß verschwinden, der sich seit etwa 20 Minuten in ihrem Hals immer breiter machte.

»Er ist im Anmarsch«, wisperte es von der Bürotür her. Es kam von Vivien Rimkus, die an der halb geöffneten Tür stand und den Kopf hinaus auf den Gang gesteckt hatte. Jetzt zog sie ihn zurück und drückte die Tür sachte zu. Die junge Kommissarin, mit der Katharina bis heute nicht richtig warm geworden war, hatte Tobi nach seinem schweren Unfall vor etwa drei Jahren in ihrem Dezernat ersetzt. Erst gestern Abend, kurz vor Feierabend, hatte sie sichtlich widerstrebend ihren Schreibtisch, der zuvor Tobis gewesen war, freigeräumt und war an einen eigens für sie in das Gemeinschaftsbüro gestellten neuen Schreibtisch umgezogen. Katharina ihrerseits hatte ihren Tisch mit der Stirnseite an Tobis alten herangeschoben, sodass sie ihm direkt gegenübersitzen würde. Zudem hatten sie das Büro mit einer Girlande, auf der »Herzlich Willkommen« stand, geschmückt. Heute Morgen hatte sie dann noch schnell vom Godehus, das in der Nähe des Bahnhofs Am Schützenplatz lag, jede Menge Franzbrötchen besorgt. Das Godehus befand sich zwar überhaupt nicht auf ihrem Weg zum Kommissariat, aber sie hatte den erheblichen Schlenker in den Bioladen gern in Kauf genommen. Franzbrötchen waren ihr und Tobis Lieblingsgebäck, und sie hoffte, er würde sich über die Geste freuen, denn er war es, der heute wieder seinen alten Platz im Kommissariat einnehmen würde, und sie wollte ihm einen schönen Wiedereinstieg bescheren.

Bis vor einer Woche hatte Katharina noch gebangt, ob ihr Kollege Tobias Schneider überhaupt je wieder irgendwann soweit auf dem Damm war, um eingegliedert werden zu können. Die Zeit des Wartens und Hoffens war ihr zäh vorgekommen. Als Ben sie dann letzte Woche informiert hatte, dass Tobi heute endlich wiederkommen würde, war plötzlich alles ganz schnell gegangen. Und spätestens seit diesem Morgen war die Zeit wie im Flug an Katharina vorbeigedüst.

Obwohl sie gestern spät im Bett gewesen war, hatte sie in der Nacht kaum schlafen können und sich eher hin und her gewälzt, bis sie dann um 5.45 Uhr aus dem Bett gekrochen war. Sie hatte ihre Joggingklamotten angezogen und war eine Runde gelaufen, um sich den Kopf durchpusten zu lassen. Es hatte nicht viel gebracht, sie war nach wie vor nervös wie ein Teenager vor seinem ersten Date gewesen. Wieder zu Hause war sie nicht wie sonst unter die Dusche gesprungen, sondern hatte ein ausgiebiges Bad genommen. Trotz der ätherischen Öle, die sie reichlich ins Wasser gegossen hatte, war die Entspannung nicht eingetreten. Irgendwann war Bene verschlafen im Bad erschienen. Er hatte nur einen kurzen Blick auf sie geworfen und war wieder verschwunden, um kurz darauf mit einem Pfefferminztee in der Hand wiederzukommen. Dankbar hatte sie ihn entgegengenommen. Bene wusste einfach, was ihr guttat. Sie waren inzwischen nach einigen Irrungen und Wirrungen knapp sieben Jahre zusammen und seit etwas über zwei Jahren lebten sie miteinander. Das allerdings auch nicht so wie normale Paare, sondern Tür an Tür oder besser Wohnung an Wohnung. Sie hatten lange nach einem Heim für sie beide gesucht, waren sich jedoch selbst bei den schönsten Wohnungen nicht einig gewesen, bis Katharina plötzlich gewusst hatte, woran dies lag. Die Erkenntnis war ihr an Tobis Krankenbett gekommen. Sie erinnerte sich noch gut an die Situation. Damals war Tobi gerade erst ein paar Wochen aus seinem Koma erwacht. Sie hatte ihm etwas aus der Zeitung vorgelesen, doch dann war er weggedämmert, und sie hatte ihren Gedanken nachgehangen. Sie hatte, wie so häufig in dieser Zeit, überlegt, wie schnell das Leben vorüber sein konnte. Von jetzt auf gleich. Und dass man jede einzelne Sekunde möglichst auskosten und so gestalten sollte, als wäre es die letzte. Später hatte sie Bene getroffen und ihm gesagt, dass sie nicht mit ihm zusammenziehen würde. Sie hatte ihm erklärt, sie wolle sich jeden Morgen beim Augenaufschlagen neu für ihn entscheiden, ohne, dass der Alltag in einer gemeinsamen Wohnung sie »auffräße«, ja, sie hatte von Auffressen gesprochen.

Bene hatte sie in seine Arme gezogen und nichts weiter dazu gesagt als »ist gut«. Sie war erleichtert gewesen und hatte sich gleichzeitig gewundert, dass er keine Grundsatzdiskussion über ihre Partnerschaft anfing. Im Gegenteil war er auf sie eingegangen und hatte nach kurzer Überlegung den Vorschlag gemacht, nach zwei freien Wohnungen in einem Haus zu suchen. Tatsächlich waren sie einigermaßen schnell fündig geworden, und ihre Beziehung war seitdem besser als je zuvor. Obwohl in beiden Wohnungen ein Schlafzimmer war, verbrachten sie die Nächte bis auf wenige Ausnahmen gemeinsam – in der Regel bei Katharina. Sowieso waren sie meist bei ihr in der Wohnung. Nur wenn Bene für sich allein Saxofon spielen wollte oder sie wegen eines schwierigen Falles Zeit für sich brauchte und mal wieder »in ihrem Kopf« ihre Arbeit mit nach Hause brachte, wie Bene es nannte, ging er zu sich hinüber. Und genauso fühlte sich das Zusammenleben für Katharina gut an: Ihr reichte es, die Möglichkeit zu haben, sich zurückziehen zu können, ganz nach dem Motto: nichts müssen, nur wollen. Es war ein bisschen wie mit dem Meer. Sie fand den Gedanken schön, hier in Lüneburg in der Nähe von Nord- und Ostsee zu leben, dennoch fuhr sie nur selten hin.

An der Tür klopfte es. Wieder sah Katharina zu Ben, der nur mit den Schultern zuckte. Sie wussten beide, dass es Tobi war, der da hinter der Tür stand. Früher wäre ihr Kollege einfach ohne Klopfen in ihr gemeinsames Büro hineingeschneit, aber in der Zwischenzeit war viel geschehen, vor allem für ihn …

Ben räusperte sich, straffte seine Schultern und dann sagte er: »Komm rein!«

Katharina wandte sich der Tür zu und beobachtete verkrampft, wie langsam – es kam ihr vor wie in Zeitlupe – die Türklinke heruntergedrückt wurde. Sie hatte sich ihre Begrüßungsworte in den letzten Tagen so schön zurechtgelegt, doch auf einmal kamen sie ihr hohl vor. Sie überlegte fieberhaft, was sie stattdessen zu Tobi sagen sollte, doch dann ging plötzlich alles ganz schnell. Bevor sie einen Entschluss gefasst hatte, stand Tobi in der geöffneten Tür und grinste schief in den Raum hinein. Er schien genauso verlegen und auch berührt wie sie und Ben. Der fing sich als Erster, trat auf Tobi zu, nahm ihn in den Arm, klopfte ihm auf die Schulter und meinte: »Hi, Kollege, du hast uns hier gefehlt!«

»Und ihr mir erst«, erwiderte Tobias Schneider langsam. Er hatte sich aus Bens Umarmung gelöst und trat jetzt auf die Kommissarin zu. Katharina musste die aufkommenden Tränen unterdrücken. Sie war sich nicht sicher, ob sie vor Rührung, Glück oder Traurigkeit in ihr hochstiegen. Wahrscheinlich war es alles zusammen. Obwohl sie diesen Moment so sehr herbeigesehnt und sich immer wieder vorgestellt hatte, überrollte er sie jetzt. Tobi war endlich wieder da! Hier im Kommissariat, das er heute zum ersten Mal nach seinem schlimmen Unfall wieder betrat. Nachdem er damals aus dem Krankenhaus entlassen worden war und die Reha hinter sich gebracht hatte, hatten Ben und sie ihn immer wieder gefragt, ob er nicht einfach mal so vorbeikommen wolle. Doch Tobi hatte sich geweigert. »Ich werde erst zum Arbeiten wiederkommen, Kaffeetrinken können wir woanders«, hatte er dazu dann stets gesagt, und irgendwann hatten sie es gelassen, ihn zu fragen, und seine Antwort akzeptiert.

Sie hatten ihn trotzdem regelmäßig getroffen. Nicht jedes Mal gemeinsam, sondern auch jeder für sich. Am Anfang war Jana, Tobis Freundin und Mutter seiner Tochter Mia, häufig dabei gewesen, doch gerade in letzter Zeit hatte diese die Treffen der Kollegen untereinander genutzt, um anderen Dingen nachzugehen. Natürlich lag das vor allem daran, dass es Tobi inzwischen deutlich besser ging und er wieder allein zurechtkam. Lange Zeit hatte das anders ausgesehen. Nach seinem Unfall war es noch nicht einmal klar gewesen, ob er überleben würde. Er war allein in seinem Wagen unterwegs gewesen und von einem anderen Auto angefahren worden, sodass sich seines überschlagen hatte. Sein Unfallgegner hatte Fahrerflucht begangen und Tobi einfach sich selbst überlassen. Erst Monate später hatten sie ihn und seine Begleiter durch einen Zufall stellen können, doch das half Tobi in jenem Moment herzlich wenig. Er hatte, direkt, nachdem er sich aus seinem zerquetschten Wagen befreien konnte, das Bewusstsein verloren und war für eine lange Zeit ins Koma gefallen. Und auch nachdem er wieder daraus erwacht war, stand nicht gleich fest, ob er vielleicht den Rest seines Lebens ein Pflegefall bleiben würde. Doch er hatte fleißig seine Therapien absolviert und sich tatsächlich soweit berappelt, dass er seine Motorik wieder im Griff hatte. Dennoch würde er nie wieder der Alte sein. Das wussten sie alle. Vor allem sein Sprachzentrum war durch die vom Unfall hervorgerufene Kopfverletzung in Mitleidenschaft gezogen worden, und noch immer suchte er häufig während eines Gesprächs nach den einfachsten Wörtern, sodass er trotz regelmäßiger logotherapeutischer Behandlung nur langsam sprach.

»Schön, dass du wieder da bist«, flüsterte sie mit rauer Stimme in Tobis Ohr. Er hatte sie eben in den Arm genommen, so wie zuvor Ben ihn.

»So schnell wirst du mich nicht los«, erwiderte Tobi, und nun kullerte doch eine einzelne Träne Katharinas Wange hinunter. Sie schob den Kommissar von sich, murmelte »Ein Glück«, und dann sagte sie laut: »So, bevor es ans Arbeiten geht, wird erst einmal zu deinem Wiedereinstand gebührend gefrühstückt. Wer möchte einen Kaffee?«

Sie wandte sich ab und steuerte auf den büroeigenen Kaffeevollautomaten zu, den sie bereits angestellt hatte, damit das Wasser schon einmal heiß werden konnte.

»Ich bin zum Teetrinker geworden«, sagte Tobi und setzte fast schon entschuldigend hinzu: »Das verträgt sich besser mit meinen Medikamenten.«

»Kein Thema«, sagte die Kommissarin, ohne sich umzudrehen, »ist sowieso gesünder. Allerdings haben wir nur Pfefferminztee hier, ist der okay?«

»Logo«, hörte sie es in ihrem Rücken und musste schmunzeln. Selbst wenn es nur dieses eine Wort war, aber da war er wieder, der alte Tobi, der so unkompliziert war. Wenn sie ihn in den letzten Monaten getroffen hatte, hatte eine Schwermut über ihm gelegen, die ihr manches Mal das Herz zerrissen hatte. Sie war sich sicher, die Arbeit hier mit ihnen im Kommissariat würde ihm guttun. Zwar würde er nur Innendienst machen können, aber er hatte dann wenigstens wieder eine Aufgabe und weniger Zeit zum Trübsal blasen.

»Ich hätte gern einen Cappuccino«, meldete sich nun Ben zu Wort. »Und dann lasst uns doch am besten direkt an den Besprechungstisch gehen.«

»Ich nehme einen Latte Macchiato, aber den kann ich mir selbst machen«, erklang jetzt die Stimme von Vivien, die Tobi bei seinem Eintreten eben nur grüßend zugenickt hatte. Der Ton ihrer Stimme erschien Katharina ungewohnt unsicher. Normalerweise war die junge Kommissarin recht forsch, manchmal zu forsch für Katharinas Geschmack, doch in diesem Moment konnte sie Vivien ihre Zurückhaltung nicht verdenken. Auch für die Kollegin war die Situation sicher nicht einfach. Immerhin war sie trotz der drei Jahre, die inzwischen ins Land gezogen waren, immer noch die Neue in ihrem Team und hatte nie die Lücke füllen können, die Tobi durch seinen Ausfall hinterlassen hatte – absolut nicht, was ihre Arbeit betraf, sondern auf der persönlichen Ebene. Ben sah in Vivien Rimkus einfach nur eine Mitarbeiterin, die ihren Job gut machte und das war’s. Katharina hingegen traute Vivien nicht, was in einem Team, zumal in ihrem Beruf, eigentlich unabdingbar war. Das wusste sie selbst, doch sie konnte nicht dagegen an, obwohl sie sich reichlich Mühe gab und Vivien ihr sogar bereits einige Male in brenzligen Situationen geholfen hatte. Es lag schlicht und ergreifend an ihrem gemeinsamen Start, der recht holperig verlaufen war. Darüber hinaus war Vivien ihnen gegenüber ziemlich verschlossen. Auch Katharina schüttete nicht gleich jedem ihr Herz aus, aber darum ging es ihr auch nicht. Vivien hielt etwas vor ihren Kollegen zurück, was diese wissen sollten, das sagte ihr ihr Gefühl, und dies trog sie selten.

Vivien trat jetzt neben sie, während Ben und Tobi zum Besprechungstisch in Bens Büro gingen, das lediglich durch eine dicke Glaswand vom Gemeinschaftsbüro getrennt wurde. Gleichzeitig war es die Glaswand, an die sie schrieben, wenn sie einen Fall aufzuklären hatten. Heute stand jedoch auch hier, wie auf der Girlande im Gemeinschaftsbüro, in großen Buchstaben »Herzlich Willkommen, Tobi!«.

»Ich kann dir deinen Latte machen, kannst du dafür die Franzbrötchen auf einen Teller legen? Sie sind in meiner Tasche«, sagte Katharina zu Vivien.

»Okay«, antwortete Vivien und machte sich ans Werk.

9:37 Uhr

Die junge Familie – Mutter, Vater, zwei kleine Kinder – stand am Rand des Grundstücks und schaute gebannt den Arbeiten zu. Achim Brenner hatte sie eben kurz begrüßt, bevor er seine Leute eingewiesen hatte und diese losgelegt hatten.

In der letzten Woche hatten sie bereits das Haus von allem befreit, das nicht zur Bausubstanz gehörte, damit sie heute mit den eigentlichen Abrissarbeiten beginnen konnten und diese reibungslos vonstattengingen. Sie hatten das in einen kleinen Hügel hineingebaute Haus entrümpelt, die Heizung, das Bad, die Einbauküche und noch einiges mehr entfernt und fachgerecht entsorgt. Achim tat dies jedes Mal in der Seele weh. Natürlich wollte es jeder modern und vor allem nach seinem eigenen Stil haben, wenn er sich ein Haus kaufte. Das konnte er verstehen, und oft waren das Entrümpeln und Entkernen notwendig, da in den vergangenen Jahrzehnten viele Schadstoffe wie Asbest, Blei und Quecksilber verbaut worden waren. Das war auch bei diesem Haus so gewesen. Dennoch hätte man es anders handhaben können, und er fragte sich, woher die junge Familie das Geld hatte, sich das neue Haus leisten zu können. Zumal auch die Wohngegend hier nicht gerade günstig war. Der Lüneburger Stadtteil Wilschenbruch, in dem die meisten Straßen nach Vogelarten benannt worden waren, war nicht nur mit seinen weniger als 1000 Anwohnern der kleinste, er gehörte vor allem zu einem der nachgefragtesten in der Salz- und Hansestadt. Umsäumt von einem ausgedehnten Wald, in dem auch er manchmal mit seiner Frau spazieren ging und durch das die Ilmenau sich ihren Weg bahnte, hatte man hier alles, was man zum Wohlfühlen brauchte: die Natur direkt vor der Haustür und das Stadtzentrum nur knapp drei Kilometer entfernt. Gut, die meisten Wilschenbruch-Häuser standen auf Erbbaugrundstücken, die der Stadt gehörten, was die Sache etwas günstiger in der Anschaffung machte. Allerdings würde er sich gerade deswegen kein neues Haus hinstellen, sondern versuchen, das alte herzurichten. Schließlich konnte man nie sicher sein, bei einem Verkauf seine Kosten wieder reinzubekommen. Andererseits könnte er sich sowieso niemals einen Neubau leisten und auch kein altes Haus. Schon gar nicht in dieser Gegend. Dabei war er mindestens doppelt so alt wie der junge Kerl, der da hinten mit seiner Familie stand. Aber er wollte nicht neidisch sein, dann hätte er viel zu tun! Immerhin wimmelte Lüneburg inzwischen von jungen Familien, die aus Hamburg hierherzogen, weil sie ihre Kinder nicht in einer Metropole aufwachsen lassen wollten und in der Regel von ihren Eltern ein ordentliches Startkapital zu Verfügung gestellt bekommen oder geerbt hatten.

Achim konzentrierte sich wieder auf das vor ihm liegende Grundstück, auf dem sich ihm das Haus nur noch als Gerippe präsentierte, bereit zum endgültigen Abriss. Das Einzige, was sie heute vorher noch schnell erledigen mussten, war die Entsorgung des Schuppens hinten im Garten. Das hatte ihm die Baufirma, die ihn beauftragt hatte, gestern am späten Nachmittag mitgeteilt. Ursprünglich hatten sie den Schuppen stehen lassen sollen, doch der Bauherr hatte es sich kurzfristig anders überlegt. Natürlich hatte Achim gemosert und angemerkt, dass die Entscheidung etwas spät kam, aber der Kunde war König, und so hatte er sich gefügt, besonders da diese ungeplante Leistung gut bezahlt wurde.

Drei seiner Jungs waren bereits am Schuppen zugange, während der Rest seiner Mannschaft schon einmal die schweren Maschinen für den Hausabriss in Position brachte. Das war aufgrund der Größe des Grundstücks glücklicherweise möglich, sonst hätten sie ein Zeitproblem gehabt. Achim hatte für den kompletten Abriss vier Tage kalkuliert und bereits einen Anschlussauftrag angenommen.

»Moin. Und, läuft alles nach Plan?«, sprach ihn der junge Familienvater von der Seite an. Achim hatte gar nicht bemerkt, dass er neben ihn getreten war. Umständlich kramte der Abrissunternehmer seinen Tabak aus der Innentasche seiner Jacke und begann, sich eine Zigarette zu drehen. Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Gern hätte er diesem jungen Typen etwas von Holterdipolter-Entscheidungen erzählt, doch was würde das schon nützen? Schließlich beglich dieser Jungspund, der da in Fahrradklamotten und mit einem kleinen Ziegenbärtchen im Gesicht abwartend neben ihm stand, am Ende die Mehrkosten. Außerdem hatte Achim Brenner auch keine Lust, sich mit ihm zu unterhalten. Er steckte sich die fertig gedrehte Zigarette zwischen die Lippen, zündete sie an und brummte vielsagend.

»Na, dann ist ja gut«, sagte der junge Mann und lächelte ihn offen an. »Es tut mir übrigens leid, dass wir uns erst jetzt entschlossen haben, den Schuppen auch abzureißen. Wir wollten ihn ursprünglich als Spielhaus für die Kinder stehen lassen, haben uns dann aber doch spontan dagegen entschieden. Ich hätte es ja ganz gut gefunden, aber meine Frau … Na ja, Sie wissen sicher, wie die sein können. Sie möchte einfach alles neu haben, und da ihr Vater uns finanziell ziemlich unterstützt, ist es jetzt halt so.«

Achim brummte ein weiteres Mal, diesmal eher zustimmend. Sie wandten beide ihre Köpfe, als jetzt ein Ruf aus Richtung Schuppen erklang: »Cheeef, komm mal schnell! Oh Mann, das musst du sehen!«

Was war denn jetzt los? Er setzte sich in Bewegung und mit ihm der junge Mann. Aus den Augenwinkeln sah Achim, dass auch die Mutter mit den beiden Kindern auf den Schuppen zusteuerte, von dem nur noch zwei Wände standen. Die hintere und die linke Seitenwand lagen bereits abgetragen und in einzelnen Holzlatten auf dem Rasen.

»Sie wissen, dass ich keine Haftung übernehme, wenn Ihre Kinder hier auf der Baustelle rumspringen?«, stellte er klar.

»Natürlich, wir passen schon auf«, bekam er zur Antwort, und Achim Brenner brummte zum dritten Mal an diesem Morgen.

Beim Schuppen angekommen, blickten sie in das verstörte Gesicht von Ingo – einem Hünen von Mann, der bis zum Hals tätowiert war und sich normalerweise nicht so schnell aus der Ruhe bringen ließ. Er arbeitete schon einige Jahre für Brenner, doch so durch den Wind hatte dieser ihn noch nie gesehen. Neben Ingo standen die anderen zwei Jungs, die er zum ersten Mal angeheuert hatte und die ihre Arbeit bisher gut gemacht hatten. Es waren Brüder, und auch sie waren käseweiß. Seine Männer nannten die beiden Lolek und Bolek, weil sie immer zusammen herumhingen und kaum ein Wort Deutsch sprachen – sie kamen zwar nicht aus Polen, sondern aus Litauen, aber das war für die Namensgebung egal.

»Was ist denn los?«, fragte Brenner.

»Das … ähm … also … guck es dir einfach an …«, stammelte Ingo.

Achim Brenner schwante nichts Gutes, als er jetzt, gefolgt von der Familie, näher an den nur noch halb vorhandenen Schuppen trat. In der Mitte prangte ein größeres Loch im Boden, das er zuvor nicht bemerkt hatte.

»Lolek und Bolek haben die Wände auseinandergenommen, und ich habe die Waschbetonplatten entfernt. Ich hab in der Mitte angefangen, weil hier schon einige lose waren, was mich … was mich jetzt nicht mehr wundert … und … ähm … vielleicht bleiben Sie mit den Kindern besser mal weg«, erklärte Ingo, der sich nicht von seinem Platz gerührt hatte.

»Ja, aber was ist denn da?«, fragte die Mutter, stoppte abrupt mitsamt den Kindern an ihrer Hand, stellte sich hinter ihre Kleinen und legte jedem schützend eine Hand auf die Brust.

Achim Brenner blieb ihr für den Moment eine Antwort schuldig. Stattdessen schluckte er. Dafür erwiderte ihr Mann neugierig: »Das werden wir gleich sehen.«

Er stellte sich neben Achim und senkte ebenfalls seinen Blick in das Loch. »Ach du Scheiße!«, platzte es aus ihm heraus, »Ist es das, was ich glaube?«

»Max, was ist denn da?«, fragte die Frau erneut, doch nach wie vor antwortete ihr niemand.

»Ich schätze schon«, meinte Achim Brenner an den jungen Mann gewandt. »Wir sollten die Polizei rufen.«

»Polizei? Wieso?«, drängelte sich jetzt doch die Frau zwischen die Männer. »Ich möchte jetzt endlich wissen, was da …« Sie stockte mitten in ihrem Satz, dann stieß sie einen kurzen, spitzen Schrei aus, deutete mit einem Finger auf das Loch und stammelte: »Das ist … das ist … eine Hand!«

10:23 Uhr

Das Telefon auf Bens Schreibtisch klingelte. Er erhob sich langsam vom Besprechungstisch und meinte zu den anderen: »Wenn da mal nicht die Arbeit ruft.«

Tobi grinste und sagte: »Ich habe mich schon gewundert. So ruhig war es hier selten.«

»Und es kann auch gern noch eine Weile so bleiben!«, kommentierte Katharina.

»Stimmt«, pflichtete Vivien ihr bei und begann, die leeren Teller und Becher zusammenzuräumen.

»Also ich habe lange genug nichts getan, ich bin nicht hier, um das so weiterzumachen«, meinte Tobi und sah zu Ben, der in diesem Augenblick sagte: »Ja, wir kommen. In 15 Minuten sind wir vor Ort.« Dann legte der Hauptkommissar auf, schaute seinen Kollegen an und erklärte: »Wenn wir Glück haben, sind wir in einer Stunde wieder hier und können weiter klönen, wenn nicht …«

»… dann tun wir mal wieder was für unser Geld«, vervollständigte Katharina seinen Satz und stand auf. »Was ist denn passiert?«

»Bei Bauarbeiten wurde in Wilschenbruch eine Hand gefunden, das heißt, nur noch die Handknochen«, informierte sie der Hauptkommissar. »Mehr weiß ich auch noch nicht.«

Nachdem Ben und Katharina das Büro verlassen hatten, ging Tobi an seinen Schreibtisch. Es war ein merkwürdiges Gefühl, nach all der Zeit wieder hier zu sein. Er hatte sich riesig auf diesen Tag gefreut, doch jetzt fragte er sich, ob sein Wiedereinstieg nicht doch zu früh kam. Noch immer suchte er in seinem Kopf nach den einfachsten Begriffen, wenn er etwas sagen wollte. Dabei wusste er den Inhalt meist ganz genau, doch die Worte wollten dann einfach nicht aus seinem Mund heraus. Natürlich kannte er das schon von früher, vor diesem verflixten Unfall. Wie wohl jedem hatte ihm auch hin und wieder etwas auf der Zunge gelegen, aber jetzt geschah es eben nicht nur manchmal, sondern ziemlich häufig. So hatte er sich immer Alzheimer vorgestellt. Langsam aber sicher verlor man die Worte bis hin zum Gedächtnis und lebte nur noch in frühesten Erinnerungen. Gerade neulich hatte er sich den Film Der seltsame Fall des Benjamin Button angeschaut. Er hatte ihn irgendwann am Anfang der 2000er, als er herauskam, mit seiner damaligen Flamme im Kino angesehen. Mit der Frau verband ihn längst nichts mehr, sie hatten sich nur ein paar Mal getroffen, aber der Film hatte ihn fasziniert – was für eine irre Vorstellung, dass die biologische Uhr rückwärts ticken könnte. Bei ihm war es jedoch sein Geist, der sich durch seine schwere Kopfverletzung erst einmal in 1000 Einzelteile zerlegt hatte und langsam wieder zusammengesetzt werden musste. Von ihm. Ganz allein. Mittlerweile konnte er Sudokus nahezu im Schlaf lösen und las, trotz Netflix, ein Buch innerhalb von drei Tagen aus. Außerdem ging er weite Strecken zu Fuß, denn auch das regte das Gehirn an. Alles Dinge, die er zuvor nicht getan hatte, aber er hatte sich daran gewöhnt. Inzwischen tat er all dies ganz gern – es war ja für einen guten Zweck, wie Jana es einmal lachend gesagt hatte. Was ihm jedoch nach wie vor schwerfiel war seine Ernährungsumstellung. Schon als Kind aß er für sein Leben gern und später dann am liebsten Junkfood. Seit er mit Jana zusammen war, war er nicht mehr zu jeder Mahlzeit in diesen Genuss gekommen, aber vor allem in den Mittagspausen hatte er sich oft eine Currywurst oder ein halbes Hähnchen mit richtig schön vor Fett triefenden Pommes gegönnt. Und die zwei bis drei Teilchen vom Bäcker morgens vor der Arbeit waren für ihn gewesen wie für Katharina der Kaffee, den sie literweise in sich hineinkippte. Dass Katharina vorhin die Franzbrötchen auf den Tisch gezaubert hatte, hatte ihn deswegen ziemlich gefreut. Und dass sie extra Bio-Vollkorn-Franzbrötchen besorgt hatte, hatte er richtig süß von ihr gefunden, denn sie kannte seinen neuen Ernährungsplan. Vor allem Weißmehl war verboten. Ansonsten standen viel Obst, Gemüse, Fisch und Olivenöl auf seinem Speiseplan. Dennoch blieb da dieses Ding mit den Worten.

Zu Hause, bei Jana, war es nicht ganz so schlimm. Sein Therapeut meinte, das läge daran, weil er sich von Jana so angenommen fühlte, wie er war, denn schließlich hätte sein Unfall nicht seinen Charakter verändert. Tobi war sich da allerdings nicht sicher. Natürlich, anderen außer Jana gegenüber hatte er immer schon den Kasper gespielt. Na ja, am Anfang ihrer Beziehung ebenfalls vor Jana, und gespielt war auch irgendwie nicht richtig. Er hatte einfach stets das Glas mindestens halb voll gesehen und war grundsätzlich gut drauf gewesen. Der Unfall hatte das geändert. Seitdem hatte er sich mit Anflügen von Depressionen herumzuschlagen. Das war auch der Grund, weswegen er bereits jetzt schon in den Beruf zurückgekehrt war. Die Ärzte hätten ihn auch weiterhin lieber daheim gelassen oder gar berufsunfähig geschrieben. Doch das hatte er absolut nicht gewollt. Zu Hause fiel ihm die Decke auf den Kopf, zumal Jana voll arbeitete, seit er nicht mehr so pflegebedürftig war. Natürlich war da seine süße Mia. Seine Tochter war letzten Monat fünf Jahre alt geworden, aber sie wirkte schon sehr viel älter und reifer. Das war kein Wunder, nach dem, was sie in ihren ersten Lebensjahren zusammen mit ihrer Mutter seinetwegen hatte durchstehen müssen. Mia ging jedoch in den Kindergarten, und so hatte er sich größtenteils allein die Zeit vertreiben müssen – inzwischen hatte er wohl alle Serien, die es auf Netflix & Co gab, durchgeguckt – bis er seine Tochter um 15:30 Uhr wieder abholte. Das würde er auch weiterhin tun, da er vorerst nur in Teilzeit im Kommissariat arbeiten würde.

Eben am Besprechungstisch hatten sie noch einmal darüber gesprochen. Er und Vivien würden sich den Innendienst aufteilen – wobei sie ihm zuarbeiten sollte. Und wenn Katharina im Urlaub oder krank war, sollte Tobi sie vertreten. Das hatte Ben ihnen allen vorhin bei Franzbrötchen und Kaffee so verkündet. Tobi war das unangenehm. Er wusste, dass Vivien während seiner Abwesenheit den Innendienst allein geschmissen hatte und auch manchmal mit draußen gewesen war. Für sie bedeutete die neue Regelung durch seinen Wiedereinstieg eine Degradierung. Ihm war bewusst, dass Ben so entschieden hatte, um ihm zu zeigen, wie wichtig er ihm war. Trotzdem tat Tobi die Kollegin irgendwie leid. Er kannte sie nicht gut, da sie vor seinem Unfall nur hin und wieder in ihrem Kommissariat ausgeholfen hatte. Erst als klar war, dass Tobi für längere Zeit ausfallen würde, hatte Kriminalrat Mausner – wohl auch auf Viviens Wunsch hin, wie Katharina mal hatte durchblicken lassen – ihrem offiziellen Wechsel von der Sitte hin zum Morddezernat zugestimmt.

Tobi schaute von seinem Platz aus zu ihr hinüber. Sie saß ebenfalls an ihrem Schreibtisch und schien ihn die ganze Zeit beobachtet zu haben, denn wie er tat auch sie nichts und sah ihn an. Für einen Moment herrschte Stille, dann fragte sie: »Und, wie fühlt es sich an, wieder hier zu sein?«

»Weiß noch nicht«, gab er ehrlich zu. »Irgendwie vertraut und dann doch wieder nicht.«

»Hm«, machte Vivien, und er merkte mehr an ihrer Körperhaltung als an ihrem »hm«, dass auch für sie die Situation mit ihm im Büro komisch war.

»Ich denke, wir werden das Kind schon schaukeln, oder?«, meinte er entgegenkommend und setzte noch ein »gemeinsam« hinzu.

»Das hoffe ich«, erwiderte Vivien, aber es klang nicht zickig, sondern eher frustriert.

»Wie meinst du das?«, fragte er nach und stellte eine Vermutung an: »Hast du Angst um deinen Platz hier?«

»Na ja«, sagte sie langsam. Dann gab sie zu: »Etwas schon. Immerhin bist du jetzt wieder da, und ich habe dich nur so lange ersetzt, bis du wieder arbeiten kannst. Das wurde mir von Anfang an gesagt.«

Tobi lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, dann sagte er bedächtig: »Ich glaube nicht, dass du dir Sorgen machen musst. Also ich mache dir auf keinen Fall deinen Platz hier im Team streitig. Außerdem waren wir schon zu meiner Zeit immer zu wenige. Das wirst du sicher in den letzten Jahren gemerkt haben und schon davor. Nicht umsonst haben wir uns dich damals aus deinem Ex-Kommissariat ausgeliehen. … Okay, ich weiß auch, dass Ben lieber ein kleines festes Team hat. Das war schon immer so. Obwohl das ja nicht gerade üblich ist, aber irgendwie hat er damals, als er die Leitung vom Morddezernat übernommen hat, unseren Kriminalrat überzeugen können. Außerdem ist Ben der fairste Typ, den ich kenne. Wenn er dich nicht mehr im Team haben wollen würde, hätte er es dir in dem Moment gesagt, als klar war, dass ich wiederkomme. Und mal so ganz nebenbei: Du hast dich doch hier ganz gut bewährt, soweit ich weiß …«

»Hat Ben das gesagt?«, wollte Vivien, mit einem Mal nicht mehr ganz so mutlos, wissen.

»Ja, der auch, aber eher Katharina.«

»Katharina?«, war die junge Kommissarin überrascht.

Tobi nickte: »Sie scheint große Stücke auf dich zu halten. Schon allein deshalb würde Ben dich nicht vor unsere Kommissariatstür setzen. Er vertraut Katharina sehr.«

»Das hätte ich nicht gedacht«, meinte Vivien gedankenvoll.

»Dass Ben auf Katharinas Urteil hört?«

»Nein, dass sie … dass sie mich, also meine Arbeit, schätzt.«

»Echt nicht«, wunderte Tobi sich laut. Gestand dann jedoch ein: »Okay, Katharina ist nicht gerade jemand, der mit Lob um sich schmeißt, aber doch, sie hat es mir gegenüber ein paar Mal erwähnt.«

Plötzlich wirkte Viviens Gesicht viel entspannter als zuvor und auch etwas glücklicher, wenn er sich nicht täuschte und der Kommissar beschloss, das Thema nun ruhen zu lassen. Mit den Worten: »So, und jetzt lass mal etwas arbeiten, du weißt ja, um 15 Uhr ist hier Abflug für mich und bis dahin sollten wir was geschafft haben«, schaltete er seinen Computer an, und als der Bildschirm daraufhin den blauen Desktop zeigte, spürte auch Tobi so etwas wie Glück. Mannomann, was hatte er seine Arbeit vermisst.

Vivien tat es ihm gleich, merkte jedoch an: »In den letzten Tagen war es relativ ruhig. Ich hatte sogar Zeit, alle Protokolle zu schreiben, die anlagen, deswegen haben wir eigentlich momentan nichts zu tun.«

»Dann sollten wir uns darauf vorbereiten, was Ben und Katharina vielleicht nachher für uns haben, und selbst, wenn es kein Fall ist, vertreiben wir uns dadurch die Zeit mit Sinnvollem«, antwortete er voll Elan, denn ihm war ein Gedanke gekommen.

»Und wie?«, fragte Vivien.

»Du fragst jetzt mal bei Katharina an, wo genau die im Wilschenbruch sind, um dann zu recherchieren, wer dort wann alles gelebt hat, und ich suche mir mal eine alte Akte raus.«

»Okay, mach ich. Aber in was für eine Akte willst du gucken?«

»Wenn ich mich recht entsinne, wurde vor ein paar Jahren ein Totenschädel in der Ilmenau gefunden. Wer weiß, vielleicht gehören die Handknochen dazu.«

Heideopfer

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