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Kapitel 2 Montag, 09.03.2020 –
Vormittag bis zum Abend

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10:36 Uhr

Kurz nachdem Katharina von Hagemann und Benjamin Rehder in den Dienstwagen eingestiegen waren, war der Kommissarin eingefallen, dass die Rechtsmedizinerin Frauke Bostel sicher auch nach Wilschenbruch gerufen worden war. Die beiden Frauen waren befreundet, von daher wusste sie, dass Frauke Bostel derzeit in ihrer Mobilität eingeschränkt war – die Rechtsmedizinerin hatte sich beim Skilaufen den Meniskus verletzt und einen Kreuzbandriss zugezogen. Sie war zwar schon vor einiger Zeit operiert worden, war aber noch nicht soweit wieder hergestellt, dass sie Fahrrad oder wenigstens Auto fahren konnte, zumal dies keine Automatik besaß. Natürlich würde Frauke sich ein Taxi rufen können, dennoch hatte Katharina ihrer Freundin und Kollegin kurzerhand eine Nachricht geschickt und gefragt, ob Ben und sie sie einsammeln sollten. Eben gerade hatte Frauke ihr mit einem »Daumen hoch« geantwortet.

»Ben, machst du bitte noch einen Schlenker zur Rechtsmedizin«, bat Katharina deshalb nun ihren Chef, der am Steuer saß.

»Um Frauke abzuholen?«

»Du hast eine hervorragende Kombinationsgabe, dein Beruf passt perfekt zu dir«, lachte Katharina auf.

Auch Ben grinste. Er fragte: »Wie lange ist sie denn noch lahmgelegt?«

»Keine Ahnung, sicherlich noch ein paar Wochen. Sie kann ihr Knie noch nicht richtig anwinkeln.«

»Gehst du jetzt immer alleine zum Sport?« Es war allgemein bekannt, dass die beiden Kolleginnen zusammen diverse Kurse in einem Fitnessklub besuchten. Unlängst hatten sie ihn sogar gewechselt und waren jetzt im Olympic Fitness. Das Olympic, wie es die Lüneburger kurz nannten, lag zwar nicht so zentral in der Stadt wie ihr vorheriger Klub, dafür bot er eine enorm große Auswahl an Kursen, war ziemlich modern und dabei vor allem günstig. Gerade neulich hatte Katharina lachend zu ihrem Freund Bene gesagt: »Falls ich mir meine Wasserrechnung nicht mehr leisten kann, dann gehe ich jeden Tag einfach im Olympic duschen. Da ist das Wasser im Mitgliedspreis inbegriffen.«

»Ich war in der letzten Zeit nur ein paar Mal im Klub. Ohne Frauke macht das dort nur halb so viel Spaß. Dafür jogge ich jetzt wieder regelmäßig. Am Wochenende übrigens auch gern mal im Wilschenbruch«, sagte sie jetzt zu Ben und musterte ihn von der Seite. Er war Bene wie aus dem Gesicht geschnitten, was kein Wunder war, da die beiden eineiige Zwillinge waren.

»Oh, dann sag mal Bescheid, ich wollte auch wieder mit Joggen anfangen, ich habe meine Fitness in der letzten Zeit etwas vernachlässigt«, meinte nun Ben, der gerade bei der Rechtsmedizin vorfuhr, wo Frauke bereits auf sie wartete, sodass Katharina einer Antwort entbunden wurde. Dass ihr Kollege seit einigen Monaten nichts für seinen Körper getan hatte, war unübersehbar – sein Bauchansatz sprach da Bände, und gerade neulich hatte Katharina gedacht, dass er im Gegensatz zu früher recht grau im Gesicht war. Joggen täte ihm also sicher gut, und sie hatte im Grunde nichts dagegen, mit ihm gemeinsam zu joggen. Allerdings fragte sie sich, wie Bene darauf reagieren würde, der wegen seines Rückens nicht joggte und seit einiger Zeit nicht besonders gut auf seinen Zwillingsbruder zu sprechen war, zumindest nicht im Zusammenhang mit Katharina. Bene zeigte plötzlich heftige Anwandlungen von Eifersucht gegenüber Ben und glaubte, sein Bruder hätte ein Auge auf sie geworfen. Auf die Frage, wie er auf so eine an den Haaren herbeigezogene Idee käme, hatte er Katharina vor ein paar Wochen geantwortet, dass er es ziemlich verdächtig fände, dass Ben keine feste Freundin mehr gehabt hatte, seit er mit Katharina zusammenarbeitete, was immerhin schon ein paar Jahre mehr der Fall war. »Außerdem guckt er dich immer heimlich an, wenn er denkt, das bekäme keiner mit. Und er fragt dich ständig, ob ihr nach dem Job noch was trinken gehen wollt, obwohl ihr schon den ganzen Tag zusammen rumhängt.« Katharina hatte ihren Freund für verrückt erklärt und sie hatten sich etwas gezofft. Dennoch hatten Benes Worte sie ins Grübeln gebracht. Es hatte nämlich tatsächlich eine Zeit gegeben, da hatte sie gedacht, dass Benjamin Rehder mehr in ihr sah als nur seine Teampartnerin. Und auch sie hatte sich damals, doch das war Jahre her, zu ihm hingezogen gefühlt, obwohl sie bereits mit Bene zusammen war. Nicht, weil die beiden Brüder sich so ähnlich sahen, obwohl das sicherlich mitgeschwungen hatte. Nein, es war etwas anderes gewesen. Es war schlicht und ergreifend Bens verbindliche, aufrichtige und altruistische Art, die wiederum so anders war als die von Bene, der deutlich selbstbezogener durch die Gegend ging und mit Menschen umsprang. Da machte er bei ihr keine Ausnahme.

Wenn Katharina ehrlich zu sich war, dann war das Gefühl des Hingezogenseins zu Ben bis heute nicht ganz verschwunden, sie verbot es sich lediglich selbst. Er war ihr Chef und dann auch noch der Bruder ihres Lebensgefährten – eine tiefere Empfindung als Freundschaft war da einfach nicht angebracht. Basta. Deswegen wollte sie auch gar nicht daran denken, wie Ben möglicherweise zu ihr stand. Und das hatte sie bisher auch mehr oder minder erfolgreich geschafft – bis zu diesem Tag, an dem Bene ihr seine Vermutung präsentiert hatte. Seitdem fragte sie sich jedes Mal, ob mehr dahintersteckte, wenn Ben privat Zeit mit ihr verbringen wollte. Selbst, wenn es nur eine gemeinsame Mittagpause war. Das war ziemlich blöd, denn es hemmte sie, locker mit ihm umzugehen.

Und jetzt hatte er eine gemeinsame Laufrunde vorgeschlagen. So ein Mist aber auch, denn Lust dazu hätte sie schon. Sie lief gern zu zweit. Na ja, sie konnte ja noch einmal darüber nachdenken, jetzt stieg Frauke erst einmal ein …

Sie fuhren über die Amselbrücke, die über die Ilmenau und deren Auen nach Wilschenbruch führte und diesen Stadtteil vom Trubel der lebhaften Hansestadt trennte. Kurz darauf bogen sie auch schon in den Spechtsweg ein und hielten vor dem Grundstück, auf dem die skelettierte Hand entdeckt worden war. Eben hatte Vivien angerufen und nach der Adresse gefragt. Die Kollegin wollte diese haben, damit sie und Tobi schon einmal parallel recherchieren konnten. Was genau hatte Vivien nicht gesagt und Katharina fragte sich, was in diesem Stadium eine Recherche möglich machen sollte, aber sie würde sich überraschen lassen.

Als Ben, Frauke und sie nun ausstiegen, trat ihnen ein uniformierter Kollege entgegen, der auf dem Fußweg vor dem Grundstück anscheinend bereits auf sie gewartet hatte. Der Polizist, den Katharina vom Sehen kannte, grüßte die beiden Frauen und wendete sich dann an Ben: »Kommissar Rehder? Polizeimeister Gehrcken. Sie wissen Bescheid?«

»Nicht im Detail, aber wenn sie die gefundene Hand meinen, dann schon«, antwortete Ben, worauf der Polizeimeister beflissen fortfuhr: »Der Fundort ist da hinten am Ende des Gartens. Hinter dem zum Teil bereits abgetragenen Haupthaus. Wir haben ihn schon großzügig abgesperrt, und wie es scheint, ist auch noch nichts durch die durchgeführten Arbeiten … ähm … zerstört worden. Also die Hand, meine ich. Die sieht noch ziemlich intakt aus, wenn ich das mal so sagen darf.«

»Ist die Spurensicherung informiert?«, fragte Benjamin Rehder.

»Die Spurensicherung?«, fragte der noch recht jung aussehende Uniformierte zurück und lief dabei rot an, was ihn noch jünger erscheinen ließ. »Nein, die … ähm, mein Kollege und ich dachten, das ist nicht notwendig, weil das doch … also, weil das ein …«

»… alter Knochen ist, der gefunden wurde?«, schaltete sich jetzt die Rechtsmedizinerin ein.

»Ja, genau, darum haben wir nur die Rechtsmedizin informiert. Sind Sie Doktor Bostel?«, nickte Gehrcken.

»Ja, bin ich. Moin. Die Spurensicherung muss dennoch kommen. Sie hätten Sie als Erste informieren müssen. So, wie immer«, erklärte Frauke Bostel. »Keiner weiß, wie schnell die Verwesung hier vonstattengegangen ist. Es kann ziemlich lange her sein, muss aber nicht. Das kommt ganz auf die Bodenbeschaffenheit an und wie tief Leichenteile vergraben wurden. Außerdem haben wir bisher nur eine Hand, wenn ich das richtig verstanden habe. Was ist, wenn daran nicht der ganze Leichnam hängt, sondern der vielleicht in der Gegend verteilt worden ist?« Sie machte eine ausladende Handbewegung, die das gesamte Grundstück umfasste. »Hinzu kommt …«

»Ist ja schon gut«, unterbrach Katharina die Rechtsmedizinerin. Der junge Polizist tat ihr leid, er wirkte deutlich überfordert. »Ich denke, der Kollege hat verstanden und ruft jetzt mal schleunigst die Spusi.«

»Ja«, brachte der Uniformierte eilig heraus, drehte sich weg und zückte dabei schon sein Handy.

Die drei Kollegen setzten sich wieder in Gang, die Rechtsmedizinerin auf Krücken, und steuerten die mit Flatterband abgesperrte Fundstelle an.

Dort empfing sie ein weiterer Uniformierter, der ähnlich jung wie sein Kollege war, eine Familie mit zwei kleinen Kindern, von denen eines weinte, drei Arbeiter und ein Mann mit langen schwarzen, zum Pferdeschwanz gebundenen Haaren.

Ben wies sich aus: »Kriminalhauptkommissar Rehder. Das sind meine Kolleginnen Kriminaloberkommissarin von Hagemann und unsere Rechtsmedizinerin Doktor Bostel.«

»Ich bin Achim Brenner, ich leite hier die Abrissarbeiten. Meine Männer waren gerade dabei, den Schuppen abzutragen, als sie die Hand gefunden haben. Wir haben die Arbeiten sofort gestoppt und Sie informiert«, sagte der Mann mit dem Zopf.

»Das war genau richtig so«, erwiderte Ben. »Ich möchte Sie alle bitten, vor Ort zu bleiben. Wir werden sicher gleich ein paar Fragen an Sie haben, doch vorher werden wir uns den Fundort einmal ansehen.«

Kaum hatte Ben geendet, fuhr ein Bagger auf das Grundstück, der ordentlich dröhnte und neben einem Schutthügel beim Haupthaus zum Stehen kam. Dies veranlasste Ben zu sagen: »Bitte stellen Sie auch alle anderen Arbeiten vorerst ein.«

»Aber …«, setzte Achim Brenner an, der scheinbar dagegen protestieren wollte, sich dann jedoch besann und sagte: »Ja, ich werde das gleich veranlassen. Können Sie mir denn in etwa sagen, wann wir hier weiterarbeiten können?«

»Leider nein«, antwortete Ben und wandte sich der jungen Familie zu, die das Gespräch aufmerksam verfolgt hatte: »Sind Sie die Bauherren?«

»Ja, das ist richtig.« Der Vater trat vor. »Max Reimann, guten Tag. Das sind meine Frau Lisa und meine beiden Kinder.«

»Auch Sie muss ich bitten, uns zur Verfügung zu stehen. Ihre Frau sollte allerdings mit den Kindern besser nach Hause gehen, unsere Arbeiten sind in der Regel nichts für Kinderaugen«, sagte Ben.

»Ja, natürlich«, nickte der junge Mann, und seine Frau nahm bereits die Kinder an die Hand, um den Platz zu verlassen. Reimann ging die zwei Schritte zu ihnen, gab seiner Frau einen Kuss und meinte: »Ich ruf dich an.« Auch sie nickte jetzt und machte sich daraufhin mit ihren beiden Kleinen auf in Richtung Straße.

»Na, dann wollen wir mal«, ließ sich Frauke Bostel vernehmen und humpelte bereits auf das Flatterband zu. Mit einer ihrer Krücken hob sie es an und hüpfte dann auf einem Bein gekonnt drunter durch. Ben und Katharina, die Fraukes Arbeitstasche trug, folgten ihr. Vor einem Loch im ehemaligen Schuppen blieben die drei stehen und schauten hinein. Da sie bereits wussten, was sie erwartete, waren sie nicht überrascht, als sie nun die Knochen einer Hand aus der Erde herausragen sahen.

»Ich komme mir vor wie in einem Horrorstreifen von Steven King«, meinte Katharina und ging in die Knie, um die Hand genauer zu betrachten.

»Und gleich greifen die Klauen nach dir und ziehen dich in ihr Grab«, sagte Ben und verstellte dabei seine Stimme, sodass sie tief und rau klang.

Frauke hingegen blieb sachlich und sagte: »Mit meinem Bein ist das echt lästig. Ich kann es nicht beugen. Wenn ich die Hand genauer begutachten will, muss ich mich auf den Bauch legen.«

»Mach doch«, antwortete Katharina, »brauchst du dabei Hilfe?«

»Nee, lass mal«, wiegelte die Rechtsmedizinerin ab. »Ich warte auf die Spusi. Die können mir das Teil da schön vorsichtig ausbuddeln, und dann untersuche ich es im Institut.«

Als hätte sie ihn mit ihren Worten herbeigerufen, hörten sie plötzlich die Stimme von Patrick Peters hinter sich: »Habe ich da Spusi gehört? Wir sind eben angekommen. Was gibt es hier?«

Ben machte ihm Platz, sodass auch der Leiter der Spurensicherung in das Loch blicken konnte.

»Oh, alles klar, dann weiß ich Bescheid. Sieht ja nicht mehr ganz so frisch aus. Wisst ihr, ob da noch etwas dranhängt?«, fragte Peters, der noch nicht lange seinen Posten in Lüneburg innehatte, durch seine offene Art jedoch bereits bei allen bekannt und als Kollege beliebt war.

»Das herauszufinden, überlassen wir dir und deinem Team. Ich für meinen Teil werde jetzt einen der jungen Kollegen bitten, mich zurückzubringen, und dann lege ich die Beine hoch, bis ihr mir was bringt. Dieses Rumgestehe ist gerade nicht wirklich angenehm«, sagte Frauke.

»Okay«, erwiderte der Spusi-Mann, während sein Blick auf der Orthese an ihrem Bein ruhte. »Meniskus?«.

»Unter anderem. Nimm noch einen Kreuzbandriss und Knorpelschaden dazu, dann ist es komplett«, antwortete Frauke und verzog ihr Gesicht.

»Oh Mann, da möchte ich nicht mit dir tauschen. Skiunfall?«

»Und was für einer! Jetzt will ich aber nicht mehr darüber reden, denn selbst das tut weh. Wir sehen uns, haltet mich auf dem Laufenden«, antwortete die Rechtsmedizinerin und hüpfte auf ihren Krücken davon.

»Und wir befragen mal die Leute hier, dann stehen wir euch auch nicht im Weg herum«, entschied Ben.

11:57 Uhr

»Ha, da hab ich’s«, rief Tobi freudig in den Raum.

»Was hast du?«, fragte Vivien. Sie und Tobi hatten nach ihrem kurzen Gespräch am frühen Vormittag kaum mehr ein Wort miteinander gewechselt. Beide hatten sich jeweils auf ihre Computer konzentriert, um zu recherchieren, ob es irgendetwas gab, das sie im Fall des Knochenfunds im Wilschenbruch weiterbringen könnte. Ob es tatsächlich ein Fall war, würden sie jedoch erst wissen, wenn Katharina und Ben zurück im Büro waren.

»Na, diese Sache mit dem Schädel in der Ilmenau. Wahnsinn, das war schon 2014, ich hatte gedacht, es sei später gewesen«, sagte Tobi, ohne seinen Blick vom Computerbildschirm abzuwenden.

»Erzähl mal genau«, forderte Vivien ihn gespannt auf.

»Also, die Ilmenau, oder nein, ihr Flussbett, wird ja jedes Jahr gesäubert«, begann Tobi und Vivien machte ein zustimmendes »hmhm« als Zeichen, dass sie dies auch als Zugezogene aus Kassel wusste.

Tobi fuhr fort: »Ja, und da haben die damals im Abschnitt zwischen Abts- und Ratsmühle, das heißt irgendwo an der Altenbrückertorstraße, einen menschlichen Schädel im Schlick gefunden.«

»Schädel, nein, es wurde eine Hand gefunden, ob da auch ein Schädel dranhängt, wissen wir noch nicht«, unterbrach die Stimme von Katharina den Kommissar. Sie und Ben waren eben eingetreten.

»Hi, das ging aber schnell, ich hätte gedacht, ihr seid länger weg«, begrüßte Tobi die beiden Kollegen.

»Na, immerhin hattest du knapp eineinhalb Stunden Ruhe von uns«, neckte Katharina ihn.

»Zeit genug, um ein bisschen was herauszufinden«, sagte Tobi.

»Dann seid ihr besser als wir«, schaltete sich jetzt Ben ein. »Wie gesagt, wir wissen noch nichts Genaues über den Fund. Patrick ist mit seinen Leuten im Moment vor Ort und spielt den Archäologen. Mal sehen, was die zutage fördern. Vielleicht bleibt es nur bei der Hand, vielleicht nicht.«

»Patrick?«, hakte Tobi nach.

»Patrick Peters. Entschuldige, ich hab vergessen, dass du ihn noch nicht kennst. Er ist der neue Leiter der Spurensicherung. Guter Mann«, informierte Benjamin Rehder ihn.

»Stimmt, ich glaube, ihr habt ihn einmal erwähnt«, antwortete Tobi. Dann fuhr er fort: »Erinnert ihr euch noch an den Schädelfund in der Ilmenau vor ein paar Jahren? Ich habe gerade Vivien davon erzählt.«

»Ja, jetzt, wo du es sagst … Wir wurden doch auch dorthin gerufen, aber dann hat ein anderes Dezernat den Fall übernommen, oder?«, erinnerte sich Katharina, und auch Ben nickte.

»Ja, stimmt. Die Kollegen haben damals in der Nähe des Schädels noch irgendeine Klamotte gefunden, was für eine, das stand nicht in den Akten, und sie konnte auch dem Schädel nicht zugeordnet werden. Na ja, ihr wisst ja, was die sonst auch noch jedes Jahr bei der Aktion in unserem schönen Flüsschen finden. Fahrräder oder auch Kühlschränke sind da keine Seltenheit. Darum sind die Kollegen seinerzeit wohl auch nicht näher auf das gefundene Kleidungsstück eingegangen. Sie haben auch noch andere Knochenfragmente gefunden. Die waren jedoch von Tieren. Der Schädel war aber eindeutig menschlich. Wer weiß, vielleicht gehört er ja zu der Hand aus Wilschenbruch. Auf jeden Fall konnte nicht geklärt werden, zu wem er gehört. Es war auch kein Vermisstenfall bekannt, zu dem der Fund passte, abgesehen davon, dass auch nicht herausgefunden werden konnte, ob der Schädel zu einer Frau oder einem Mann gehört hatte. Genauso war auch nicht klar, ob ein Verbrechen oder Suizid vorlag, denn der Schädel hatte keine Verletzungen. Einige vermuteten sogar in ihm eine Theaterrequisite, oder dass Schüler das gute Stück aus dem Biologieunterricht mitgehen ließen und in der Ilmenau versenkt haben, wobei hier in der Gegend wohl kein echter Schädel irgendwo fehlte. Meistens sind die ja auch sowieso nachgemacht … Die Aufräumarbeiten haben allerdings um Halloween stattgefunden. Darum hielt sich das Gerücht, dass sich einfach jemand einen üblen Scherz erlaubt und den Schädel kurz zuvor ins Wasser geworfen hatte.« Puh, so viel am Stück hatte Tobi lange nicht mehr gesprochen, aber zu seiner eigenen Überraschung war es ganz gut gegangen, und er war gar nicht so häufig ins Stocken geraten.

»Ach, die Diskussion wegen Halloween und dass er auch aus irgendeinem Fundus stammen könnte, habe ich damals gar nicht mitbekommen«, sagte Katharina interessiert. »Ich frag Frauke da mal, die wird ja ihre Unterlagen dazu noch haben.«

»Da bin ich mir nicht so sicher«, legte Tobi seine Stirn zweifelnd in Falten. »Die rechtsmedizinischen Untersuchungen sind damals in Hamburg gemacht worden. Ich schätze mal, weil unsere Frau Doktor keine Kapazität mehr hatte und das Institut für Rechtsmedizin in Hamburg ja sowieso für unseren Kreis zuständig und unsere Lüneburger Rechtsmedizin nur eine kleine Außenstelle ist.«

»Na, das mit dem klein lass mal Frauke nicht hören«, griente Ben, und auch Tobi musste grinsen, denn sein Chef hatte recht: die Lüneburger Rechtsmedizinerin fand es seit jeher überflüssig, dass das Institut in Hamburg ihr vorgesetzt war, da sie sowieso eigenständig arbeitete. Dies wiederum lag nicht zuletzt an der Tatsache, dass man ihren Fähigkeiten in Hamburg mehr als vertraute, und so hatte sie im Grunde alle Freiheiten, die sie sich auch nahm. Nichtsdestotrotz musste sie regelmäßig an die Hamburger berichten.

»Aber du hast recht, Katharina, frag Frauke trotzdem. Vielleicht kann sie ja in Hamburg mal nach deren Unterlagen fragen. Unsere Kollegen haben den Fall damals zumindest schnell zu den Akten gelegt, wenn ich mich richtig entsinne.«

»Gute Vorarbeit, Tobi, danke. Wer weiß, vielleicht hat ja tatsächlich das eine mit dem anderen zu tun, wir werden sehen«, lobte Ben und ging einen Schritt in Richtung seines Büros, doch Tobi hielt ihn auf: »Warte noch, Ben. Ich glaube, Vivien hat auch was für euch, oder?« Zwar hatte Vivien ihm eben nichts dazu gesagt, aber sie hatte wie er ebenfalls die ganze Zeit an ihrem Computer gesessen und sich zwischendurch immer wieder Notizen gemacht. Natürlich hätte sie sich auch von allein zu Wort melden können, aber er wollte ihr und auch Ben und Katharina zeigen, dass er Viviens Arbeit ernst nahm und sie nicht in Konkurrenz zueinander standen, sondern Hand in Hand arbeiteten.

»Ja, ich hab etwas«, meinte Vivien und warf Tobi einen herzlichen Blick zu. »Ich hab mal recherchiert, wer so in den letzten Jahrzehnten in dem Haus gewohnt hat beziehungsweise wem es gehört, aber vielleicht wisst ihr das ja schon?«

»Ja«, bestätigte Katharina, »die neuen Hausbesitzer waren heute durch Zufall vor Ort. Ein junges Ehepaar mit zwei Kindern. Reimann heißen die. Sie wollten ein bisschen beim Abriss zuschauen, und dann kam die böse Überraschung mit der Hand. Das Haus gehört der Frau, die dann jedoch mit den kleinen Kindern weggegangen ist, als die Spusi ihre Arbeit aufgenommen hat. Ihr Mann hat uns dann den Namen der ehemaligen Besitzerin genannt, eine Frau … Moment …«

Katharina zückte ihr kleines Notizbüchlein, blätterte es auf und meinte dann: »Frau Adler, Evelyn Adler. Mehr wissen wir noch nicht.«

»Das deckt sich mit meinen Informationen«, bestätigte Vivien und wollte gerade weiterreden, als Ben sagte: »Lasst uns doch bitte an den Besprechungstisch gehen, dann muss ich hier nicht so herumstehen. Und wie es scheint, habt ihr uns ja so einiges zu berichten. Wie gesagt haben Katharina und ich noch nicht so viel. Die Befragungen der Anwesenden vor Ort haben bisher nichts ergeben. Wir müssen einfach mehr über die Hand wissen und erst einmal die Ergebnisse der Spusi und Rechtsmedizin abwarten.«

Keine zwei Minuten später am Besprechungstisch versammelt, forderte Ben Vivien auf, weiter zu berichten, vorab fragte diese jedoch in die Runde: »Ich mache das chronologisch und fange von hinten an, ist das okay für euch?«

»Ja, sicher, leg einfach los«, antwortete Katharina für sich und ihre beiden männlichen Kollegen.

»Gut, vorweg noch eines: Die Grundstücke in Wilschenbruch sind größtenteils Erbbaugrundstücke. Unseres im Spechtsweg auch. Darum habe ich zum einen eine Liste der Hausbesitzer und zum anderen eine der Pachtzahler angelegt, wobei die sich nur in einem Fall unterscheiden, aber vielleicht ist das ja mal wichtig für uns.«

»Soll ich an der Glaswand mitschreiben, dann haben wir die Namen alle vor Augen?«, bot Katharina an.

»Ich denke, das brauchst du nicht, so viele Personen habe ich gar nicht, aber klar, wenn du möchtest«, antwortete Vivien.

»Kann ja nicht schaden«, erwiderte Katharina, erhob sich und stellte sich mit gezücktem Stift, den sie sich vorher von Bens Schreibtisch gegriffen hatte, an die Wand.

»Gut«, sagte Vivien und begann: »Ich überspringe mal den historischen Teil über Wilschenbruch und insbesondere den Spechtsweg, in dem 1920 die ersten Häuser errichtet wurden, aber ich denke mal, so lange müssen wir auch nicht zurückgehen.«

»Wahrscheinlich nicht«, gab Benjamin Rehder ihr mit einem zustimmenden Lächeln recht.

»Für das besagte Grundstück im Spechtsweg hatten wir übrigens Glück«, fuhr Vivien fort, »hier ist die Stadt Lüneburg Erbbaurechtgeber. Es gibt auch private Erbbaurechtsgeber in Wilschenbruch, und dann hätte es sicher länger gedauert, bis ich Informationen bekommen hätte.«

»War das immer schon so mit diesen Erbbaugrundstücken?«, wollte Katharina wissen.

»Nicht immer, aber in den letzten 60 Jahren«, antwortete Vivien »und die bin ich ungefähr auch zurückgegangen. Damals gehörte das Haus Jürgen Kruse, der im Übrigen auch als Pachtzahler gelistet ist.«

Katharina schrieb an die Glaswand »Hausbesitzer« und daneben »Pachtzahler«. Unter beides schrieb sie den Namen, den Vivien genannt hatte und jeweils in Klammern »ab ca. 1960«. So verfuhr sie auch mit dem nächsten Namen, den Vivien nannte, Marianne Kruse. »Sie war die Witwe des 1974 verstorbenen Jürgen Kruse, das habe ich aus dem Register«, ergänzte Vivien ihre Auskunft und fuhr fort: »Auf Marianne Kruse folgte dann auch schon ab 1993 Evelyn Adler als Besitzerin. Also die aktuelle Hausverkäuferin, deren Namen ihr bereits genannt bekommen habt. Interessant ist hier, dass Evelyn Adler bereits ab August 1991 das Pachtgeld entrichtet hat.«

»Sie hat also bereits die Pacht gezahlt, als ihr das Haus noch nicht gehörte, das heißt wohl, dass sie im Haus gelebt und Marianne Kruse es an sie vermietet hat«, schloss Tobi.

»Könnte so sein«, meinte Ben.

»Das ist aber noch nicht alles«, ergriff Vivien erneut das Wort.

»Sagtest du nicht, Pachtzahler und Hausbesitzer würden nur in einem Fall nicht identisch sein?«, unterbrach Katharina sie jedoch.

»Entschuldigt, dann hab ich mich wohl blöd ausgedrückt, es gibt nämlich noch einen Pachtzahler, aber der war nie Hausbesitzer. Und das wollte ich euch auch gerade sagen.«

»Ach«, entfuhr es Tobi.

»Genau, das habe ich mir auch gedacht. Der Mann heißt Peter Kruse. Er hat die Pacht von Januar 1986 an bis einschließlich Juni 1991 gezahlt. Im Juli ist sie wieder von Marianne Kruse gezahlt worden und danach, schon einen Monat später, wie gesagt von Evelyn Adler. Kruse ist zwar nicht gerade ein seltener Name, aber ich nehme an, dass zwischen Marianne und Peter ein Verwandtschaftsverhältnis besteht, vielleicht ist er ihr Sohn, Neffe oder auch der Bruder ihres verstorbenen Mannes. Ich habe es noch nicht geschafft, das herauszufinden. Das wollte ich gerade machen, als ihr zurückgekommen seid.«

»Das kannst du später machen. Warten wir erst einmal ab, was die Spusi zutage fördert«, sagte Ben und rückte seinen Stuhl vom Tisch ab, um aufzustehen. »Jetzt sollten wir erst einmal Mittag machen, denn ich für meinen Teil habe Hunger.«

14:03 Uhr

Als die Nachricht sie erreichte, war sie gerade beim Mittagessen gewesen. Jetzt stand das Rumpsteak mit Kartoffeln seit einer halben Stunde halb aufgegessen vor ihr, und ihr war schlecht. Sie brachte keinen Happen mehr herunter, zumal sie ihr Steak, so wie sie es mochte, nur angebraten hatte und es nun in einem blutigen Bratensaft vor ihr auf dem Teller lag. Das Tierblut hatte bereits die Pellkartoffeln erreicht und färbte sie langsam bräunlich ein, was ein lang verdrängtes Bild in ihr wieder hochkommen ließ. Sie hätte den Teller auch einfach abräumen und das Essen in den Müll kippen können, doch sie war kaum in der Lage, sich zu regen. Warum war sie bloß ans Telefon gegangen? Andererseits hätte sie es früher oder später sowieso erfahren. Er war wieder aufgetaucht. Und mit ihm all die schrecklichen Erinnerungen. Allerdings waren die nicht so schlimm wie das, was jetzt höchstwahrscheinlich auf sie zukommen würde. Sie stützte ihre Arme auf die Tischplatte und vergrub den Kopf in den Händen. Aus ihren geschlossenen Augen quollen die Tränen. Was sollte sie jetzt nur machen? In ihrem Körper schrie alles nach Flucht. Einfach nur weglaufen, dann konnte er ihr nichts mehr anhaben. Aber was, wenn sie trotzdem gefunden wurde? Dann würde alles nur noch schlimmer sein. Außerdem wusste sie gar nicht, wohin.

Reiß dich zusammen, du bist ihm schon einmal entkommen, meldete sich eine Stimme in ihr. Du musst nur ruhig bleiben. So wie damals, dann kann dir nichts passieren! Stimmte das? Konnte er ihr nichts mehr anhaben? Sie war sich da nicht so sicher. Vielleicht hätte sie damals schon reden sollen, aber nun war es zu spät, und er war wieder aufgetaucht.

Ein Ruck ging durch ihren Körper. Sie öffnete die Augen, setzte sich aufrecht hin, wischte sich mit dem Handrücken grob die Tränen aus dem Gesicht, erhob sich, griff nach ihrem Teller, machte die Schranktür unter der Spüle auf und ließ ihr Essen, ohne es noch einmal anzusehen, in den Müll gleiten. Dann ging sie zur Garderobe, zog sich Schuhe und eine leichte Jacke an und verließ die Wohnung, um ihren täglichen Spaziergang zu machen. Ja, er war wieder da, und er würde sie sicher demnächst heimsuchen, doch bis dahin wollte sie ihr Leben so leben, wie sie es immer tat. Dennoch begann sie, leise vor sich hinzusummen. So wurde das beklemmende Gefühl hoffentlich nicht zu übermächtig.

Heideopfer

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