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2. Zur Inszenierung des „Machens“

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„Ein Gedicht entsteht überhaupt nur selten – ein Gedicht wird gemacht.“1

In diesem Zitat zementiert Gottfried Benn die Lyrik als Kunstprodukt und die Relevanz der Verfertigung derselben. Dabei geht er auf Autoren ein, denen er gar ein weitaus grösseres Interesse an der Gestaltung eines Werks unterstellt als am Werk selbst. Mehr noch, Benn konstatiert: „Die modernen Lyriker bieten uns geradezu eine Philosophie der Komposition und eine Systematik des Schöpferischen.“2

In Bezug auf Tove Janssons Schaffen scheint ein solcher Ausgangspunkt vor allem aus zwei Gründen vielversprechend. Erstens lenkt die Tatsache, dass Janssons Bilderbücher von der Forschung unisono als Artefakte gelobt werden, den Blick unweigerlich ebenfalls auf deren Genese. Dabei ist die Frage leitend, inwiefern sich neben der (Bilder)Buchästhetik, die Jansson zugeschrieben wird, in den Vorarbeiten ebenfalls eine Produktionsästhetik nachweisen lässt. Damit wird der Fokus im Sinne Benns auf das Kreieren von Kunst als künstlerischen Akt gerichtet. Dies wiederum bedeutet, dass ebenfalls Vorarbeiten unterschiedlichster Art bereits als Kunst zu betrachten sind. Denn die Produktion, die Poesis, bildet laut Hans Jauss neben Aisthesis und Katharsis eine der drei Funktionen, in denen sich ästhetisch geniessendes Verhalten vollziehen kann. Diese drei Kategorien stehen allerdings in keinem hierarchischen Verhältnis, sondern seien als „ein Zusammenhang von selbständigen Funktionen zu denken […].“, die jedoch in einem „Folgeverhältnis“ stehen. Was die Rolle des Künstlers betrifft, äussert er sich folgendermassen: „Der schaffende Künstler kann seinem eigenen Werk gegenüber in die Rolle des Betrachters oder Lesers eintreten […].“3 Eine Betrachtungsweise dieser Art rückt Jansson nicht als Malerin oder Autorin, sondern dezidiert als Buchkünstlerin in den Fokus.

Damit ist ein Rollenbild verbunden, welches dem marxistischen Verständnis des Produktionsbegriffs entspringt. Nach Karl Marx ist die Wissenschaft Produkt der geistigen Arbeit, und Kunst und Poesie gelten als geistige Produktionszweige.4 „Kunst selbst als Produktion zu betrachten bedeutet demnach, den Künstler nicht so sehr als Schöpfer, sondern vielmehr als Arbeiter zu sehen.“5, oder als Produzenten, wie dies Walter Benjamin in Der Autor als Produzent (1977) postuliert.6 Solche Herangehensweisen stehen für eine negative Haltung gegenüber der formalistischen Werkästhetik, „welche das Kunstwerk als starre, kontextlose und überzeitlich valide Gegebenheit analysiert.“7 Entsprechend wird Jansson als äusserst bibliophile Künstlerin verstanden, die nicht nur das Artefakt in seiner finalen Version hochhält, sondern als eine Künstlerin, wie es Benn definiert, die den Akt der Kreation zelebriert und in Szene setzt, diesen ausserdem gleichzeitig auch funktionalisiert, um ihr Wirken ständig intensiv zu reflektieren.

Zweitens erscheint eine derartige Untersuchung ebenfalls aufgrund Janssons Facettenreichtum als Künstlerin und der turbulenten Werkgeschichte der Muminbücher vielversprechend. An diesen wurde über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahrzehnten immer wieder gearbeitet, weshalb sich die Bücher auch kontinuierlich veränderten, inhaltlich wie auch gestalterisch. Beides lässt ein umfangreiches und spannend kreiertes handschriftliches Material vermuten, anhand dessen Fragestellungen diskutiert werden können, die weit über diejenigen der klassischen Editionsphilologie als „Lehre von der Konstituierung und Kommentierung der (literarischen) Texte“ hinausgehen. Dass Handschriften auf mannigfaltige Weise interpretativ nutzbar gemacht werden können, wurde in der Forschung bereits mehrfach konstatiert. So fragt etwa Klaus Hurlebusch: „[…] Ist sie [die Arbeitsweise] nur als Werkstatt von Texten und Varianten, nicht auch als Ausdrucksmedium eines Autors interessant?“8 Almuth Grésillon behauptet: „Literarische Handschriften sind Orte der ästhetischen Erfindung; ihr Wert besteht im Tun selbst […].“9 Und Hans Enzensberger postuliert gar, das Nachdenken über die Textentstehung sei zu einer zentralen, ja gar zu „der zentralen“, Frage der modernen Ästhetik geworden.10 Entsprechend bildet nachfolgend das handschriftliche Material die Grundlage, um Fragen aufzuwerfen, die etwa das künstlerische Selbstverständnis, Janssons werkkonstituierende Funktion und das vorherrschende Verständnis von Kunst betreffen. Ein derartiger Fokus beinhaltet, was bereits an früherer Stelle als zentrale Innovation des material turn genannt wurde: Die Emanzipation des Begriffs des „Materials“ von dem der „Form“ oder „Idee“. Material wird nicht mehr als etwas Unfertiges, zu Verarbeitendes betrachtet, sondern wird dadurch zum Medium und somit auch selbst zu einem Bedeutungsträger.

Die definierten Fragestellungen machen deutlich, dass bei der Analyse keine klassisch editionsphilologische Herangehensweise angestrebt wird. Die Fragestellungen konturieren weiter, wie der eingangs erwähnte Begriff „Produktionsästhetik“ verwendet wird. Er stellt im hiesigen Kontext einen Sammelbegriff dar, der einerseits der blossen Materialität, der Stofflichkeit der Dokumente, Rechnung trägt und so deren Status erhöhen soll. Andererseits beinhaltet er ebenfalls die angesprochenen poetologischen Fragestellungen, also das Sinnieren über das Machen und die Gemachtheit von Kunst. Dies wiederum offenbart sich nicht nur auf der stofflichen, sondern vor allem auch auf einer abstrakteren Ebene, die durch den stark selbstreferenziellen Charakter der Dokumente entsteht. Das Schreiben beziehungsweise die Handschriften betonen laut Martin Stingelin

[…] das produktionsästhetische Moment des schöpferischen Arbeitsprozesses, der vom Einfall, der Organisation, der Formulierung, der Aufzeichnung, der Überarbeitung und der Korrektur bis zu Veröffentlichung verschiedene Phasen umfasst.[…] Der skizzierte Arbeitsprozess dokumentiert sich in handschriftlichen oder typographischen Spuren wie Vorarbeiten (Exzerpten, Notizen und Fragmenten, Plänen), Entwürfen, verschiedene Fassungen, Arbeitshandschriften und Korrekturfahnen […].11

Somit sind Handschriften Spiegel des künstlerischen Arbeitsprozesses. Das Untersuchungsmaterial besteht aus den handschriftlichen Dokumenten, die sich in der Åbo Akademi im finnischen Åbo befinden. Da diese in der Forschung noch vergleichsweise wenig aufgearbeitet wurden, beginnt die Untersuchung mit der Schilderung der Archivsituation, mit allgemeinen Aussagen das Material betreffend sowie einem Werkstattbericht. Um oben formulierte Fragestellungen zu bearbeiten, werden ausgewählte Dokumente präsentiert, beschrieben und schliesslich im Rahmen einer diskursiven Darstellung zu den erwähnten Problemen in Beziehung gesetzt. Zur Bearbeitung werden die Dokumente in einem ersten Schritt in konzeptionelle Dokumente einerseits, und Dokumente der Textproduktion andererseits, separiert. An dieser Unterteilung orientieren sich die Unterkapitel.

Zur eigentlichen Analyse des ungedruckten Materials bietet die critique génétique geeignete Instrumente. Sie beschäftigt sich mit Handschriften und ist der Idee der Produktion von Literatur „als ein Tun, eine Handlung, eine Bewegung“ verpflichtet.12 Dieser Rahmen ergibt folgende Prioritäten:

[…] die der Produktion gegenüber dem Produkt, des Schreibens gegenüber dem Geschriebenen, der Textualisierung gegenüber dem Text, des Vielfältigen gegenüber dem Einzigartigen, des Möglichen gegenüber dem Abgeschlossenen, des Virtuellen gegenüber dem ne varieteur, des Dynamischen gegenüber dem Statischen, des Vollbringens gegenüber dem Vollbrachten, der Genese gegenüber der Struktur, der Äusserung gegenüber der Aussage, der bewegenden Kraft des Schreibens gegenüber der festgefrorenen Form des Gedruckten.13

Für das vorliegende Kapitel impliziert dies eine Herangehensweise, die dem handschriftlichen Material einen besonders hohen Status zukommen lässt und somit, materialitätstheoretisch gesprochen, ebenfalls dem Material und nicht nur der Form oder Idee eine Relevanz zuspricht.

Die Resultate bilden letztlich auch eine neue Basis für die viel geäusserte Behauptung, die Muminbücher seien Artefakte. Weiter werden die Erkenntnisse als Grundlage für die darauffolgenden Analysekapitel nutzbar gemacht, in denen untersucht wird, inwiefern die Gemachtheit von Literatur und seinem Medium, dem Buch, einerseits im Paratext der gedruckten Version reflektiert wird, andererseits auf inhaltlicher Ebene anhand von Schreib- und Leseszenen.

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