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1.2. Materie – Material – Materialität
ОглавлениеSeit den 1960er-Jahren proklamieren die unterschiedlichen turns (linguistic turn, pictorial turn, medial turn, um bloss einige wenige zu nennen) immer wieder neue Paradigmenwechsel quer durch die verschiedensten Disziplinen.1 Obwohl Karl Pfeiffer noch in den 1980er-Jahren äussert: „Gleichwohl scheint der Begriff Materialität aus herrschenden Wissenschaftsparadigmen ausgesperrt.“2, wurde in diesem Geist in jüngerer Zeit ebenfalls der material turn ausgerufen. Michel Foucault und Jacques Derrida und deren Kritik an der Metaphysik wird dabei ein bedeutender Anteil an der Konjunktur des Begriffs „Materialität“ in den Geistes- und Kulturwissenschaften zugesprochen.3 Martin Schubert definiert in Materialität in der Editionswissenschaft (2010) gleich im ersten Satz, was der material turn beinhaltet:
Das Interesse der Geistes- und Kulturwissenschaften am Material und an Materialität ist in den letzten Jahren stetig gewachsen, und zwar so sehr, dass bereits von einem material turn gesprochen wurde. Aus dem ursprünglichen Bestreben, die in Anthropologie, Geschichtswissenschaften und Kunstgeschichte lange geringgeachtete Materialität der Dinge neu in den Fokus zu rücken, haben sich vielfältige Zugänge entwickelt.4
Der material turn ist also ein umfassender Perspektivenwechsel, durch den der bislang vernachlässigte Aspekt der Materialität neue Beachtung findet. „Turns lenken die Aufmerksamkeit[…] auf interne Bedingungen des ,intellektuellen Feldes.‘“5, postuliert Doris Bachmann-Medick. Christiane Heibach und Carsten Rohde sehen turns gar als die Konsequenz eines Bewusstseins für blinde Flecken der eigenen Wissenschaft und als Ausdruck durchlässiger Grenzen zwischen den Wissenschaften.6 Sie formulieren:
[…] die Wissenschaften nähern sich in ihren jeweiligen materiellen und immateriellen Präferenzen sukzessive einander an und verlassen ihre jeweils angestammten Positionen: Für die Geisteswissenschaften bedeutet das die Hinterfragung der Prämierung des immateriell-hermeneutischen Denkens, für die Naturwissenschaften eine Infragestellung der Konkretheit ihrer Erkenntnisse über materielle Objekte durch die Reflexion auf die immateriellen Bedingungen ihrer Theoriebildung.7
Wie bereits erwähnt, geht es bei turns also um eine Erweiterung der Blickwinkel und nicht um ein neues Themengebiet, wobei sich die Gebiete der unterschiedlichen Disziplinen nicht selten zu überschneiden beginnen. Im Falle des material turn, so betont Andreas Reckwitz, mute besagte Neuausrichtung jedoch durchaus paradox an, da sich Kulturtheorien ja gerade in Opposition zu materialistischen Ansätzen gebildet hätten.8 Gleichzeitig hebt er jedoch hervor, dass die Idee des material turn eine Gemeinsamkeit verschiedenster Disziplinen darstellt:
Theorien der Medientechnologien, Artefakttheorien, Raumtheorien und Affekttheorien […] haben allesamt einen grundsätzlichen Anspruch: darauf hinzuweisen, dass die sozio-kulturelle Welt „immer schon“ durch mediale Technologien, durch Artefaktkonstellationen, durch räumliche Arrangements sowie durch Affiziertheiten und Affizierungen strukturiert ist und nur so ihre Form erhält. Das Argument, das sie alle zusammenhält, ist das eines material turn.9
Die ideologische Grundlage des material turn bildet ein reformiertes Verständnis des Begriffs „Material“. Konkret meint dies die hierarchische Beziehung zwischen den Begriffen „Material“ und „Form“. „Im engeren Sinne bezeichnet Material den Ausgangsstoff jeder künstlerischen Gestaltung“, referiert Monika Wagner im Handbuch Ästhetische Grundbegriffe (2010). Der Begriff „Material“ meint im Unterschied zu „Materie“ „nur solche natürlichen und artifiziellen Stoffe, die zur Weiterverarbeitung vorgesehen sind.“
Eine derartige Definition impliziert ein Verständnis von Material als etwas, das zwingend verarbeitet, erst zu einem Kunstwerk gemacht werden muss. Bereits in der Antike stand „Material“ in einem hierarchischen Verhältnis zu Begriffen wie „Form“ und „Idee“, „den Inbegriffen schöpferischer Gestaltung.“ „Bis um 1800 war Material im Sinne eines physischen Stoffes negativ konnotiert. Es gehörte der niedersten Sphäre des Alltags an, die in der künstlerischen Gestaltung zum Verschwinden gebracht werden sollte.“10 Sigrid Köhler und Martina Wagner-Egelhaaf betonen diesen Aspekt ebenfalls:
Die Perspektivierungen, denen auf diese Weise [durch den material turn] Raum gegeben wird, erlauben es jedoch nicht nur, die kulturellen Kodierungen und Medialisierungen des Materials zu fokussieren, um Hierarchien und Semantiken des Stofflichen zu beschreiben, sondern sie rufen philosophiegeschichtliche Materiekonzepte auf […].11
Nicht nur muss „Material“ weiterverarbeitet werden, es soll ausserdem danach auch nicht mehr zu erkennen sein beziehungsweise die Gemachtheit des Produkts soll nicht mehr zu erkennen sein. Anders der Begriff der Form. „Form ist ein geistiges Prinzip und erscheint gegenüber der Materie als vorrangig und höherwertig.“12 Materie hingegen sei zu verstehen als physikalischer Stoff allein, im Sinne einer materia prima, wie sie Aristoteles denkt. Und Materialität bezeichnet schliesslich das „materielle Ding-Sein der Dinge.“ „Die begriffliche Trias von Materie, Material und Materialität lässt sich in dieser Reihung als Abfolge zunehmender kultureller Konzeptionalisierungen lesen, oder in Gegenrichtung als Reihe wachsender Realisierung.“13 Durch den material turn wird das Material jedoch nicht mehr kaschiert, sondern im Gegenteil inszeniert und explizit ins Blickfeld gerückt. Die beschriebene Hierarchie zwischen Material einerseits und Form andererseits wird aufgelöst.
Entsprechend bezeichnet Thomas Strässle die Befreiung vom „Primat der Form“ als eines von drei methodisch-theoretischen Anliegen in der aktuellen Materialitätsdebatte.14 Die Sichtweise ist gar eine diametrale. Form wird „als variable Grösse und Ergebnis materialer Eigenschaften“ gesehen. „Material“ wird so zu einer „autonomen ästhetischen Kategorie.“15 Es erhält also einen künstlerischen Wert. Durch einen solchen neuen Materialbegriff wird es erst möglich „Kunstwerke jüngeren Datums in ihrer genuin materialen Konstitution und Exposition lesbar zu machen.“ Daraus ergibt sich das zweite Anliegen, welches Strässle formuliert, nämlich ein Bewusstsein für die Bedeutung des materiellen Trägers, des Mediums, der die „Bedeutungsspielräume des Aufgeschriebenen, Dargestellten und Übermittelten überhaupt erst bedingt und damit zumindest mitbestimmt.“16 „So verstanden, lässt sich Material nicht mehr nur als ablösbarer Träger einer Form oder einer Idee begreifen, sondern es ist mit diesem unauflöslich verbunden.“17 Diese konzeptionelle Verknüpfung von Material und Form ist Ausdruck der bereits erwähnten Auflösung der Hierarchie zwischen den beiden Begriffen. Als Drittes stellt Thomas Strässle schliesslich mit dem Hinweis auf Judith Butlers Bodies that matter (1993) ein Materialitätsdenken fest, welches dem Material „jegliche ,Vorgängigkeit‘ abspricht und es im Gegenzug als Produkt performativer diskursiver Praktiken liest.“18
Bis anhin betreffen die Ausführungen die Wertsteigerung, die der Begriff „Materialität“ im Zuge des material turn erfahren hat. Die konkrete Funktionalisierung des Begriffs konzentriert sich in der Materialitätsdebatte jedoch bei Weitem nicht nur auf rein physische Aspekte. Vielmehr wird der Begriff ebenfalls auf abstrakteren Ebenen verwendet. Christoph Kleinschmidt macht bezüglich der Begriffsbestimmung von Materialität zwei komplementäre Positionen aus:
So verstehen viele Positionen unter Materialität eine „konkrete Stofflichkeit“, „Dinglichkeit und Körperlichkeit“. Andere sprechen hingegen von der „Gegenwärtigkeit von Dingen“, begreifen Materialität also gerade nicht als ein „vordergründig Stoffliches“, sondern als ein „Erscheinen“, „absolute Präsenz“, „Augenblick“, „Widerstand“, und „Beharren“.19
So denkt etwa Dieter Mersch in Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis (2002) Materialität nicht als etwas hauptsächlich Physisches, sondern etwas, „was sich von dort her erst ereignet: Erscheinen, das kein ‚Etwas‘ beinhaltet, keine Erscheinung-als, sondern vornehmlich ein ‚Wirken‘, das geschieht.“20 Dagegen betrachtet Erika Greber et al. in Materialität und Medialität von Schrift (2002) das Schriftzeichen „in seiner Eigenwertigkeit, seine visuelle und haptische Materialität, eine Konkretheit, Dinglichkeit und Körperlichkeit.“21 Und Erika Fischer-Lichte konstatiert für die Theaterwissenschaft: „Die theatralen Elemente in ihrer spezifischen Materialität wahrzunehmen heisst also, sie als selbstreferentielle, sie in ihrem phänomenalen Sein wahrzunehmen.“22 Christian Benne äussert sich zum Inhalt des Materialitätsbegriffs für die Literaturwissenschaft wie folgt:
Sich auf die Seite der Materialität zu schlagen heisst, Stellung zu beziehen gegen den Idealismus, gegen alle Vorstellungen eines bereinigten und idealen Texts, gegen den „Geist“ oder die blosse Ergründung der ästhetischen Normen des literarischen Texts. Auf der anderen Seite richtet sich Materialität auch gegen die Auffassung, dass Texte unabhängig von ihrer Rezeption und dem kulturellen Kontext ihrer Produktion existieren […].23
Entsprechend wird in der vorliegenden Arbeit ein breit gefasster Materialitätsbegriff verwendet, der konkret stoffliche Aspekte beinhaltet, die beispielsweise bei der viel gelobten Buchgestaltung Tove Janssons evident werden. Ferner beinhaltet er ebenfalls das Machen von Literatur als Kunst in ihrer Materialität – also das physische Arbeiten –, was sich etwa in spezifischen Arbeitspraktiken wie auch poetologische Reflexionen dieser Thematik zeigt. Der geschilderte Materialitätsbegriff wird ausserdem vor dem Hintergrund einer Prozessualität betrachtet, welche Tove Janssons Schaffen inhärent ist. Dies belegt etwa die turbulente Herausgebergeschichte der Muminbücher, ein Kunstprojekt, welches sich während über 20 Jahren stetig erweitert und erneuert hat. Mit anderen Worten, Materialität wird in der vorliegenden Arbeit als ein dynamisches, veränderliches Konzept verstanden, was wiederum mit der erwähnten Prozessualität einhergeht.