Читать книгу Lass mich! - Kathrine Nedrejord - Страница 5
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Оглавление»Dass deine Mutter immer so streng sein muss«, sagt Amanda.
»Die Party war super. Langsam muss sie doch mal begreifen, dass du nicht jedes Wochenende zu Hause sitzen kannst.«
»Ich sitze nicht zu Hause«, sage ich und kaue weiter auf meinem Bleistift.
Amanda zieht eine Braue hoch.
»Ach nee?«, meint sie. »Nächstes Mal gehe ich mit und versuche sie zu überreden. Ich kann das sowieso besser als du.«
»Na gut«, sage ich, schaue auf mein Blatt und hoffe, dass Amanda nicht geschnallt hat, dass ich Mama nicht mal gefragt habe. Kann schon sein, dass sie es mir nicht erlaubt hätte, aber das kann ich nicht wissen. Ich weiß nur, dass Party nach verlängerter großer Pause klingt, in der sich alle um Amanda scharen, während ich mir den Anschein gebe, als wäre ich nicht unbeliebt.
Wir sitzen in einem der Gruppenräume, Amanda, ich, Ole und Tobias, die beiden Jungs in der Klasse, die am kindischsten sind. Wir sollen ein Referat über Moleküle vorbereiten, und das heißt: Ole schießt mit dem Lineal einen Radiergummi auf Tobias, Tobias motzt, und Amanda scrollt auf dem Handy durch die Fotos vom Samstag.
»Schau mal! Ist der nicht süß?«, fragt sie. »Er hat gesagt, ich würde ihn an ein Model erinnern, das er kennt. Ich: Das ist nicht dein Ernst? Er: Ihr habt denselben Stil … Sie wohnt irgendwo im Süden und hat mehrere Tausend Follower und so. Ich habe sie mir angeschaut. Sie ist megaschön – aber ich weiß nicht, ob ich wirklich aussehe wie sie – vielleicht im Profil?«
Amanda hält mir das Display hin und macht die Pose des Mädchens nach. Ich nicke halbherzig. »Vielleicht.«
Ich habe ein paar Punkte auf das Blatt geschrieben. Oben steht: Moleküle. Ich habe es drei Mal übereinander geschrieben, und die Buchstaben sind überbreit und deutlich.
»Aber eigentlich denke ich, dass ich mehr aussehe wie die. Was glaubst du?«, fragt sie. Sie hält das Foto einer Blondine in die Höhe, deren riesige Lippen falsch sein müssen. Ich lächele vorsichtig.
»Weiß nicht«, sage ich.
»Ein wenig ähnlich sind wir uns doch«, sagt Amanda. »Und schau! Dreitausendsiebenhundert Follower.«
Ich übermale das Wort Moleküle ein weiteres Mal. Sehr viel deutlicher kann es nicht werden.
»Ganz schön viele«, sage ich.
Jetzt greift Tobias zu seinem Lineal und schießt einen Radiergummi auf Ole. Amanda wirft ihnen einen genervten Blick zu und stöhnt.
»Müsst ihr immer so verdammt kindisch sein?«, fragt sie, wendet sich wieder an mich und sagt: »Was hast du da eigentlich für eine Nachricht geschrieben? Irgendwas mit Kiosk?«
Ich beiße wieder auf den Bleistift, hole dann tief Luft und lege los.
»Es kam da so ein Typ auf mich zu«, sage ich, und dann erzähle ich mit leiser Stimme, obwohl die Jungs viel zu beschäftigt damit sind, Treffer zu landen, um zuzuhören, was Samuel gesagt hat. Das mit Beauty lasse ich allerdings aus, denn ich spüre, dass ich das nicht sagen kann, ohne dass meine Hände wieder zittern. Mit gerunzelter Stirn hört Amanda zu und zieht dann die Brauen hoch.
»So ein Idiot«, sagt sie vorsichtig. Sie sieht mich mitleidig an.
»Was – wie meinst du das?«, frage ich.
»Also«, antwortet sie. »Er hört sich wie eines dieser Arschlöcher an. Hast du nicht von diesen Jungs auf der Weiterführenden gehört, die gewettet haben, dass sie sich trauen, sich mit dem unbeliebtesten Mädchen zu verabreden? Im Frühjahr haben sie Snaps gepostet. Ich bin mir sicher, dass ich dir davon erzählt habe … Mit einer Menge Kommentare und so …«
Amanda hält inne und verzieht leicht angewidert das Gesicht. Sie legt ihre Hand auf meine.
»Es ist nicht, weil ich glaube, dass sich niemand für dich interessiert, Anna«, sagt sie und streicht mir übers Haar, wie sie das tut, seit wir im Kindergarten beste Freundinnen wurden. Sie schaut mich an. Ihre Augen leuchten. »Das meine ich überhaupt nicht, aber interessieren sich Jungs von der Weiterführenden für Mädchen aus der Mittelstufe? Außerdem, seit dieser Sache im Frühling dachte ich – es wäre krass, wenn sie Bilder von dir ins Netz stellen, weil du dann zu denen gehörst, die sie verarschen.« Amanda kriegt immer viel besser mit, was los ist, als ich. Ich bin immer die Letzte in der Klasse, die ein Gerücht mitbekommt, und dann auch nur, weil Amanda mir davon erzählt, weil sie findet, dass ich irgendwas wissen muss. Ich bin froh, dass Amanda das alles weiß. Und obwohl die Cancan-Tänzerinnen von gestern in meiner Magengrube zu Stein werden, als sie das sagt, und ich so plötzlich ein unmögliches Gewicht mit mir herumtrage, denke ich, dass es besser ist, Bescheid zu wissen. Besser, als sich lächerlich zu machen.
»Ich hatte ohnehin nicht vor, zu antworten«, sage ich. »Falls er sich noch mal gemeldet hätte, meine ich. Ich dachte sowieso, dass da was nicht stimmt. Das wirkte so unnatürlich.«
Mein Mund ist ganz trocken, aber ich muss diese Worte trotzdem schnell sagen. Dann nimmt Ole Anlauf, zielt aber daneben und trifft mich mit dem Radiergummi so hart, dass es wehtut.
»Au«, stöhne ich.
Amanda springt auf.
»Könnt ihr mal vernünftig werden? Ihr verdammten Idioten!«, ruft sie.
Ole und Tobias erstarren.
»Seht ihr nicht, dass ihr Anna wehgetan habt?«, sagt sie etwas milder. Mit ihrer Hand streift sie meine Schulter. Ole und Tobias sehen Amanda verängstigt an. Manchmal glaube ich, dass ihre Stimme mehr Autorität besitzt als die von Lehrer Ulf. Alle in der Klasse, selbst die Kindischsten, respektieren Amanda, besonders dann, wenn sie laut wird. Nicht ohne Grund wird sie seit der Siebten jedes Jahr einstimmig zur Vertreterin in der Schülermitverwaltung gewählt.
»Tschuldigung«, sagt Ole.
»Macht nichts«, murmele ich, hole tief Luft und fahre dann vorsichtig fort: »Vielleicht können wir ja jetzt was über Moleküle aufschreiben?«
Ole und Tobias geben zu, dass sie die Hausaufgabe nicht gemacht haben, und Amanda sagt, dass sie die Hausaufgabe zwar gemacht, aber sich nichts gemerkt hat. Also schreibe ich drei Punkte auf und greife dann zum Buch und finde ein paar weitere, während ich bereits ein Foto von mir auf irgendeiner Homepage oder in einem Forum vor mir sehe, das Samuel gemacht hat, vielleicht ein Selfie von uns beiden mit meinem Namen: Anna aus der Zehnten, die sich einbildet, ich interessiere mich für sie! Darunter eine Menge Kommentare, grinsende Emojis, Gelächter, LOL und anderes. Ich bin froh, dass ich das mit »Beauty« nicht erwähnt habe, sonst hätte Amanda noch geglaubt, dass ich total übergeschnappt bin.
»Hast du eine Wasserflasche?«, frage ich Amanda.
»Im Klassenzimmer«, antwortet sie. »Wieso?«
»Ich habe einen trockenen Mund«, antworte ich leise.
Eine, die letztes Jahr in der Zehnten war, Mia, die sich nie schminkte, hatte einem Typen aus der Weiterführenden in Tana Bro ein Foto mit riesigem Ausschnitt und Schmollmund geschickt und er hatte es folgendermaßen kommentiert: Mia glaubt wohl, sie ist heiß, und es dann gepostet. Und zwar überall. Der Rektor war sauer, die Lehrer waren außer sich, alle redeten über Netiquette und über das Teilen und darüber, was für eine Sauerei das ist, und trotzdem hatten wir alle anschließend dieses bescheuerte Foto von Mia vor Augen, wenn wir ihr begegnet sind.
Amanda hat immer gesagt, dass man niemandem etwas schicken darf, auf den man sich nicht hundertprozentig verlassen kann. Sie sagt, die Einzige, auf die sie sich hundertprozentig verlässt, bin ich. Bei mir ist es genauso. Aber bei mir gibt es sonst ohnehin niemand zur Auswahl. Amanda hätte auf jede in der Klasse deuten und sagen können: »Du bist meine neue beste Freundin.« Und die Auserwählte wäre, ohne zu protestieren, einverstanden gewesen, hätte alles stehen und liegen lassen und wäre ihr gefolgt. Außerdem hätte sich die Auserwählte gefreut und wäre stolz gewesen. Aber Amanda hat mich gewählt, und ich weiß nicht, was ich ohne sie machen würde.
Ich hatte Mühe, Freundschaften zu schließen, bis plötzlich Amanda auftauchte, hat Mama mir erzählt. Im Kindergarten spielte ich meist allein. Eines Tages zog Amanda mit ihren Eltern in das Haus gegenüber, und das Problem war gelöst. Bereits an ihrem ersten Tag im Kindergarten blieb Amanda hinter mir im Sandkasten, in dem ich alleine mit einer Schaufel und dem grünen Eimer saß, stehen und tippte mir auf die Schulter. Ich drehte mich um und sah sie an. »Wir beide werden beste Freundinnen«, sagte sie. Glaube ich jedenfalls. Ich erinnere mich nicht mehr genau, aber Amanda sagt, dass es so gewesen ist.
Ich finde, dass das ein wenig zu sehr wirkt wie im Film, um wahr zu sein, aber ich erinnere mich ohnehin nicht an sonderlich viel aus dieser Zeit. Außerdem hat es keinen Sinn, Amanda zu widersprechen. Sie argumentiert gut und gewinnt in der Regel bei unseren Diskussionen. »Behauptest du etwa, dass ich lüge?« – »Nein, natürlich nicht.« – »Aber wenn du sagst, dass das nicht wahr ist, dann sagst du doch, dass ich lüge, Anna!« – »Nein, so habe ich das nicht gemeint.« – »Ja, denn es wäre wirklich gemein von meiner besten Freundin, der Einzigen auf der Welt, auf die ich mich voll und ganz verlasse, wenn sie glauben würde, dass ich eine Lügnerin bin.« – »Tue ich nicht, Amanda!« So hört sich das meistens an, wenn ich ein seltenes Mal widerspreche.
»Wo willst du hin?«
Ohne zu überlegen bin ich plötzlich aufgestanden.
»Nichts weiter«, antworte ich. »Ich bin nur so – ich muss einfach was trinken, ich habe einen wahnsinnig trockenen Mund.«
Ich verlasse den Gruppenraum und gehe rasch den Gang entlang zu den Toiletten.
Glücklicherweise ist dort niemand.
Ich stelle mich vor den Spiegel und drehe den Hahn auf. Dann spritze ich mir ein wenig Wasser ins Gesicht. Ich weiß nicht, warum, es kommt mir einfach in den Sinn. Vielleicht, weil sich meine Stirn verschwitzt und feucht anfühlte. Mein Gesicht ist zu rund und jetzt noch dazu gerötet. »Du wirst viel roter im Gesicht als ich, wenn du erst mal rot wirst«, hat Amanda mal gesagt. Sie meint, dass das an meinem Vater liegt. Obwohl keine von uns je ein Foto von ihm gesehen hat. Ich weiß nur, dass Mama ihn in der Türkei in den Ferien kennengelernt hat. Da niemand aus der Familie außer mir Wuschelhaare hat, ist das und das heftige Erröten vermutlich Teil seines Erbmaterials.
»Eigentlich siehst du mit diesen Haaren nur noch mehr aus, wie sich die Leute die Samen vorstellen«, meint Amanda, »oder die Eskimos oder so. Aber eben ohne diese Locken. – Ich finde dich hübsch, megahübsch.« Das sagt sie häufig. »Aber die Leute in Norwegen sind so bescheuert. Denen sind Blondinen mit glatten Haaren und so lieber. Du siehst das doch auch. Die Jungs kleben an mir, als wäre ich magnetisch oder so.« Dann lächelt sie. »Aber wenn sie vernünftiger werden, dann entdecken sie, wie schön du bist.«
Ich denke an Samuel. Ist er vernünftiger?
Und an mein Gesicht, das eigentlich nur fürchterlich normal ist. Keine großen, funkelnden blauen Augen wie Amanda. Alles normal groß. Nase, Wangen, Mund. Anonym. Standard also.
Wären die Locken nicht, könnte ich mit der Wand verschmelzen oder würde zumindest in der Menge auf dem Schulhof verschwinden.
Dann hätte sich niemand an mich erinnert. Manchmal träume ich das, dass ich aussehe wie Mama und im Lebensmittelladen, im Bus, überall, nicht auffalle. Aber meine Haare verderben alles. »Meinst du diese Dunkelhaarige mit den Locken?« Meine Haare gehören fast noch mehr zu mir als mein Name. Sie waren sicher auch der Grund dafür, warum Samuel sich an mich erinnert hat. Ich meine, ihn das zu den anderen in der ersten Oberstufenklasse sagen zu hören. »Ihr wisst schon, die mit den Locken? Die Dunkelhaarige? Ich habe ihr weisgemacht, dass sie mich interessiert.« Das herzlose Lachen. Ich schlucke. Amanda hat recht. Ich bin wirklich zu leichtgläubig.
Es vibriert in meiner Hosentasche.
Ich schaue auf mein Handy. Es sind die Nummer und der Name, die ich gestern gespeichert habe.
Eine neue Nachricht von Samuel.