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Ich war den Hang von der Schule langsam nach unten und nach Hause gegangen. Amanda hatte ich nichts von der Nachricht gesagt. Sie war wegen eines Treffens des Abschlussballkomitees noch in der Schule geblieben. Überall mischt sie mit, und sie kennt alle. Aber daran dachte ich auf dem Heimweg nicht, sondern nur an die Nachricht auf meinem Handy. Ich ging besonders langsam, weil ich die Vorfreude in die Länge ziehen wollte. Obwohl Amanda mit dem, was sie über diese Wetten gesagt hatte, garantiert recht hatte, hegte ich trotzdem die winzige Hoffnung, dass es nicht die Wahrheit und dass Samuel aufrichtig war.

Ich sollte es besser wissen. Ich hatte schließlich genug Bücher und Geschichten aus der Wirklichkeit gelesen, um zu wissen, dass die meisten Leute sich selbst betrügen. Jungs, die nett sind, haben oft Hintergedanken. Und Mädchen lassen sich immer wieder betrügen.

Und obwohl mir das alles durch den Kopf geht, lösche ich die Nachricht nicht.

Ich mache es mir mit einem Knäckebrot und einem Glas Orangensaft auf dem Sofa bequem, ziehe mein Handy aus der Tasche und lege es vor mich auf den Tisch. Ich zucke zusammen, als ich sehe, dass da jetzt zwei ungelesene Nachrichten sind. Ich entsperre das Handy und sehe, dass die zweite von Mama ist.

Samuel wartet also nicht so ungeduldig auf eine Antwort, dass er eine weitere Nachricht geschickt hätte. Ich weiß nicht, warum mich das enttäuscht, obwohl ich es nicht wirklich erwartet habe. Wie bei einem guten Essen hebe ich mir das Beste bis zum Schluss auf und lese deswegen zuerst, was Mama geschrieben hat.

»Kannst du bei Großvater vorbeischauen und fragen, ob er was aus dem Supermarkt braucht?«

Ich seufze. Dass mir Mama immer damit in den Ohren liegt. Ich antworte rasch:

»Keine Zeit. Hausaufgaben.«

Und jetzt tue ich es. Ich öffne die Nachricht. Erst trinke ich aber noch mein Glas in einem Zug leer und verschlucke mich. Ich huste ein paar Mal, ehe ich mich beruhigt habe. Dann tippe ich auf seinen Namen, Samuel, und schließe einen Augenblick lang die Augen, ehe der Text auftaucht:

»Hi Anna!«, steht da. »Hast du Donnerstag nach der Schule Zeit?«

Sonst nichts. Kein Punkt, Punkt, Punkt. Keine Emojis. Nichts. Das liest sich wie der Gegensatz einer Textnachricht, es ist eine Anti-Textnachricht. Sie besagt nichts.

Ich starre das Knäckebrot an, als sei das Knäckebrot schuld. Ich habe keinen Appetit mehr. Ich gehe in die Küche und werfe es in den Müll. Dann fällt mir ein, dass Mama es vielleicht bemerkt und mich ausschimpft, weil ich Essen wegwerfe. Widerwillig beuge ich mich vor und wühle im Mülleimer, damit das Knäckebrot nicht oben liegt. Ich räuspere mich, obwohl nur ich in der Küche bin. Einen Augenblick lang wünsche ich mir, ich hätte eine Katze oder einen Wellensittich, ein Wesen, mit dem ich reden kann, ohne dass es antwortet, das mir aber zumindest zuhört, denn ich verspüre Lust, etwas laut zu sagen und nicht nur zu denken, weil das mit Samuel so viel Platz einnimmt.

Ob ich Donnerstag nach der Schule Zeit habe, hat er gefragt.

Da gibt es nichts zu deuten. Vielleicht ist es eine Falle? Vielleicht will er, dass ich »Ja!« antworte, und dann macht er einen Screenshot und teilt ihn mit der halben Welt. »Sie glaubt wohl, dass ich mich für sie interessiere. Was bildet die sich ein?« Aber dafür gibt es keinen Anhaltspunkt. Wenn ich das Ausrufungszeichen wegnehme und durch ein Fragezeichen ersetze, hört es sich vielleicht skeptisch und uninteressiert an? »Ja?« Dann kann er doch wohl nicht behaupten, dass ich mir was einbilde?

Ohne weiter darüber nachzudenken, tue ich genau das. Ich antworte genau so, halb abwartend, dann werfe ich das Handy aufs Sofa, als würde es brennen. Das tut es beinahe auch. Ich stehe vor dem Sofa und starre es an. Wann wird er antworten? Sofort? In drei Tagen? Dann ist allerdings schon Donnerstag, und dieser Film …

Scheiße! Ich habe für Donnerstag schon Pläne. Amanda und ich haben uns letzte Woche verabredet. Ich hatte nicht mal daran gedacht, weil sonst nie jemand fragt, ob wir etwas unternehmen können, deswegen brauche ich mir auch nie was aufzuschreiben. Es läuft ein Film im Kino, den wir sehen wollen.

Vielleicht meint er ja das? Vielleicht will er mich ja ins Kino einladen?

Amanda ist sicher wenig erbaut, wenn ich absage, jedenfalls, wenn ich wegen eines Jungen absage, vor dem sie mich gewarnt hat. Es würde allerdings auch keinen Unterschied machen, wenn es wegen eines Mädchens wäre. In der Siebten kam Kurzhaar-Line in unsere Klasse und fragte mich ein paar Mal, ob sie zu mir nach Hause kommen dürfe. Beim dritten Mal sagte ich Ja. Amanda sah, dass wir nach der Schule zusammen zu mir gingen und schickte mir eine Nachricht, ein Wort: »Verräterin«. Dann sprach sie eine ganze Woche lang nicht mit mir und sagte nicht mal Hallo. Ich war in den Pausen allein, denn ich traute mich nicht mehr, mich zu Line zu gesellen.

Anschließend einigten wir uns darauf, nie jemanden der anderen vorzuziehen. Amanda setzte einen feierlichen Vertrag auf. Ich verlor kein Wort darüber, dass ich ihr Line nie vorgezogen hatte, denn Amanda und ich hatten am fraglichen Tag ohnehin nichts geplant. Aber so kam es dann. Wir unterschrieben. Eigentlich sollte das für uns beide gelten. Aber so funktioniert es nicht. Amanda geht auf Partys und zieht oft andere vor. Aber ich kann besser damit umgehen. Ich habe meine Bücher und bin lieber allein als Amanda. Außerdem bin ich es ja, die sich glücklich schätzen kann, Amanda zur Freundin zu haben, und nicht umgekehrt. Sie kann es sich aussuchen. Ich hätte niemanden, mit dem ich zusammen sein kann, wenn sie nicht wäre. Ich hatte deswegen schon Albträume. Dass mich Amanda abserviert. Dann wache ich auf, und es schmerzt mich von der Magengrube bis zu den Rippen. Ich mag Amanda so sehr, dass ich es im ganzen Körper spüre. Nicht wie eine Verliebtheit, mehr wie eine überschwängliche Dankbarkeit, einen Stolz.

Nach fünf Minuten komme ich zu dem Schluss, dass ich nicht den Nerv habe zu warten.

Mama meinte, dass die Fahrradkette geölt werden muss, als ich gestern nach Hause kam.

Das kann ich machen. Ich kann die Kette ölen.

Ich lasse das Handy liegen und gehe in die Garage.

Hier draußen höre ich es nicht.

Das Fahrrad ist nicht neu. Großvater hat es mir vor Jahren geschenkt. »Das kannst du lange benutzen, auch noch wenn du groß bist«, sagte er auf Samisch. »Uhca Ánne.« Kleine Anna. Er stellte den Sattel so weit runter wie möglich, aber er war trotzdem noch zu hoch. Es fühlt sich nicht so an, als wäre das ewig lange her. Doch jetzt ist das Rad fast zu klein. Mama hat den Sattel schon einige Male hochgestellt. Jetzt ist er so hoch, wie es nur geht. Vermutlich ist mein Vater schuld daran. Mama und Großvater sind klein, es kann also nur an dem Mann aus der Türkei liegen. Immer gerate ich irgendwie dazwischen, ich bin immer weder das eine noch das andere.

»Für eine Samin ist Anna wirklich sehr groß«, sagte Amandas Mutter mal zu Amandas Vater, als sie glaubte, ich sei schon weg. Ich stand aber noch in der Diele und hörte sie aus dem Wohnzimmer. »Aber sind sie denn auch so groß in … welches Land war das noch gleich?« Amandas Vater brummelte nur, das macht er meistens. Ganz leise zog ich meine Schuhe an, weil ich nicht wollte, dass Amandas Mutter angelaufen käme und sich entschuldigen würde. So leise wie möglich drückte ich die Klinke, aber da kam Amanda plötzlich aus ihrem Zimmer und sagte ganz laut: »Du hast dein Handy vergessen!« Da tauchte ihre Mutter auch schon in der Wohnzimmertür auf. Sie lächelte angestrengt, entschuldigte sich aber nicht etwa, sondern sagte: »Du bist ja noch da. Ich dachte, du seist schon weg.«

In den Regalen in der Garage suche ich nach dem Öl. Mama ist nicht so ordentlich wie Amandas Mutter. Da wirkt alles immer ganz klinisch. Kein Krümel auf dem Küchentisch oder in der Spüle. Kein Brot liegt rum und wird trocken. Trotzdem sind wir fast immer bei mir. Ich begreife nicht, warum Amanda immer hierherkommen will. Im Haus sind die Regale auch nicht viel ordentlicher als die Regale in der Garage. Man findet nie was. Außerdem ist bei uns viel weniger Platz als bei Amanda.

Die seltenen Male bei Amanda kommt es mir vor, als würde ich Ferien im Ausland verbringen. Alles steht an seinem Platz, und niemand darf beim Fernsehen seine Füße auf den Couchtisch legen. Es herrschen Ruhe und Ordnung.

Endlich finde ich das Öl. Dann streife ich Mamas Arbeitshandschuhe über, die vor dem Regal auf dem Boden liegen, und tue etwas, was ich Mama schon hundert Mal habe tun sehen. Die ganze Zeit spüre ich ein Vibrieren in meiner Hosentasche, obwohl mein Handy im Wohnzimmer liegt. Langsam und sorgfältig öle ich die Kette, bekomme aber trotzdem einen Fleck auf meine Hose. Ich fluche. Ich hätte mich umziehen sollen. Mama macht so was immer in alten Kleidern.

Meine Hände haben es eilig.

Sie zittern, während sie die Kette halten. Sieht es jetzt besser aus? Ja.

Ich denke an das Handy, das vielleicht jetzt gerade im Wohnzimmer aufleuchtet: eine neue Nachricht!

Ich bin zufrieden, werfe die Handschuhe beiseite und eile ins Haus.

Noch ehe ich das Sofa und das blinkende Handy erreiche, bin ich vollkommen außer Atem. Mit einem Satz werfe ich mich darauf und nehme es in die Hand.

Eine neue Nachricht.

Von Mama.

Ich werde ganz schwach.

Schwer lasse ich mich aufs Sofa fallen und lese die Nachricht. Obwohl ich größere Lust habe, einfach den Fernseher anzumachen oder in mein Zimmer zu gehen und ein Buch zu lesen.

»Du könntest nach den Hausaufgaben bei ihm vorbeigehen.« Ich schalte Vibration und Klingelton aus und lege das Handy unter ein Kissen.

Dann lege ich die Füße auf den Couchtisch und schalte den Fernseher ein.

Besser, er antwortet nicht, denke ich, denn dann brauche ich mir für Amanda keine Ausrede einfallen zu lassen. Aber soll ich das überhaupt tun? Soll man nicht seine Freundinnen immer irgendwelchen Typen vorziehen? Amanda hat mir schon wegen irgendwelcher Boyfriends abgesagt, aber das war eben der Freund und nicht irgendein dahergelaufener Typ von der Weiterführenden, über den niemand was weiß.

Ich habe das Gefühl, das Handy würde vibrieren, obwohl ich die Vibration abgestellt habe. Ich nehme das Kissen weg und schaue nach. Keine neue Nachricht. Scheiße. Wie lange braucht er denn noch?

Ich habe auch nicht sofort geantwortet, aber ich hatte noch Schule. Ich bin mir ziemlich sicher, dass auch bei ihm der Unterricht aus ist. Also kann er gefälligst antworten.

Ich muss was tun.

In mir juckt es gewissermaßen, und das vergeht nur, wenn eine Antwort eintrifft oder ich mich ablenke. Ich gehe in die Küche und öffne den Kühlschrank. Das Chaos ist unbeschreiblich. Er ist vollgestopft. Das weiter hinten drückt das vorne raus. Ich hole tief Luft, öffne den Schrank unter der Spüle, nehme einen Eimer heraus, fülle ihn mit Wasser und gebe einen Spritzer Spülmittel dazu.

Ich stelle den Eimer auf die Spüle und räume die Sachen aus dem Kühlschrank.

Was ganz vorne steht, ist noch essbar. Fast alles ganz hinten ist verschimmelt. Mama und Ordnung, denke ich. Amandas Mutter würde vor Entsetzen die Luft wegbleiben. Was verdorben ist, werfe ich weg, und das ist viel. Einige Äpfel sind so verschrumpelt, dass sie ganz unecht aussehen. Der Dijon-Senf wird von einer weißen Schicht bedeckt. Vermutlich weiß Mama, dass er dort steht, aber alles, was nicht stinkt, darf bei ihr wohl stehen bleiben. Nachdem alles ausgeräumt ist, wasche ich den Kühlschrank aus. Eigentlich bin ich kein großer Fan vom Aufräumen, aber jetzt finde ich es merkwürdig beruhigend. Als gelänge es mir so, zu kratzen, wo ich sonst nicht hinkomme. Ich werde ruhiger, als ich alles wieder einräume, der Kühlschrank plötzlich nur noch halb voll ist und alles nach Spülmittel duftet.

Mein inneres Beben hat sich gelegt, als ich den Eimer ausleere und ins Wohnzimmer zurückkehre.

Ich werfe mich nicht mal direkt auf mein Handy, sondern strecke die Hand wie in Zeitlupe danach aus.

Es blinkt.

Eine neue Nachricht. Samuels Nummer.

Ich schlucke, ehe ich sie öffne.

Lass mich!

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