Читать книгу Was Sara verbirgt - Kathrine Nedrejord - Страница 9
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ОглавлениеNoch bevor ich um die Ecke biege, höre ich Wasser plätschern.
Das Haus ist rot, mit weiß umrahmten Fenstern. Ich bin hier schon oft vorbeigegangen. In dieser Straße, der ersten links hinter der Brücke, kenne ich ziemlich viele Leute. Ich sehe seinen Rücken vor dem Auto, das frisch gewaschen glänzt, während er den Wasserstrahl noch einmal darüber hinweggleiten lässt.
»Du!«, sage ich, nicht etwa Hallo, auch nicht Entschuldige, aber wofür hätte ich auch um Entschuldigung bitten sollen? Ich sage nicht Klemet, sondern du. So frech und unpersönlich wie nur möglich. Papa hat Máhtte einige Male zurechtgewiesen: So redet man nicht mit den Leuten. Es fühlt sich wunderbar an, auf die Manieren zu pfeifen. Ich habe es nicht nötig, umgänglich und höflich zu sein.
Er dreht sich um, einen Augenblick lang bin ich verwirrt, dann bin ich nur noch erleichtert. Das ist gar nicht Klemet, das ist sein großer Bruder. Das hätte ich mir ja gleich denken können. Schließlich ist das sein Auto. Klemet hat ja noch gar keinen Führerschein. Und sein großer Bruder Jonas ist ein ganz anderes Kaliber als dieser Blödmann Klemet. Ich erinnere mich an damals, als ich auf dem Heimweg entdeckte, dass mir jemand, höchstwahrscheinlich Anne-Biret, Milch in den Schulranzen gekippt hatte. Ich stand an der Brücke und flennte, damals muss ich neun oder zehn gewesen sein. Jonas kam vorbei und sah mich erstaunt an. Und obwohl er damals schon ein Teenie war und viel zu cool, um sich um eine heulende Rotznase wie mich zu kümmern, blieb er stehen und half mir. Er kramte Papiertaschentücher hervor, wischte das Schlimmste auf und meinte, nur feige Idioten täten so etwas. Ich solle am nächsten Tag einfach mit erhobenem Kopf in die Schule gehen und so tun, als sei nichts geschehen. Mir wäre wirklich lieber gewesen, wenn Sara und Jonas ein Paar geworden wären, und nicht Sara und der mürrische Klemet. Zum tausendsten Mal denke ich: Was sieht sie nur in ihm? Ich habe sie mal direkt gefragt, und da hat sie geantwortet: Man kann gut mit ihm reden. Das klang nicht sehr überzeugend. Wenn sie sich doch nur jemand anderen ausgesucht hätte, dann würde ich jetzt neben ihr im Klassenzimmer sitzen, sie würde fleißig mitschreiben, und ich weniger fleißig.
»Na, ist das nicht die Schwester von Máhtte?«, erkundigt sich Jonas freundlich und fährt sich mit der Hand durch sein kurzes braunes Haar.
Nächstes Mal, wenn Máhtte irgendeinen Unsinn anstellt, werde ich die Gelegenheit ergreifen und ihm die Ohren langziehen. Ich höre seinen Namen tatsächlich öfter als meinen eigenen. Und irgendwie ist das seine Schuld. Wenn er wüsste, wie sehr mich das ärgert, würde er sich riesig freuen. Dieser affige Kerl spielt immer gerne den Überlegenen.
»Ist Klemet da?«, frage ich.
Jonas schneidet eine Grimasse.
»Ach der«, sagt er, »ich glaube, der schnarcht noch. Wenn er freihat, steht er erst zum Abendessen auf.«
Jonas lacht kurz über seinen Bruder. Meine Wut kriegt einen leichten Dämpfer. Er redet über Klemet, als wäre er ungefährlich, fast ein lieber Kerl. Jetzt lächelt er auch noch.
»Aber mach einfach die Tür auf und ruf ihn.«
Ich nicke.
»Du bist doch die Freundin von seiner Braut, nicht wahr?«, sagt er dann.
»Ja«, erwidere ich.
Endlich ist Máhtte vergessen, denke ich.
»Geh einfach rein und weck ihn.« Jonas blinzelt mir zu, nimmt dann einen Abzieher und fährt damit über die nasse Windschutzscheibe. »Und wenn er nicht reagiert, dann komme ich selbst und schleife ihn aus dem Bett … Das ist ja kein Zustand! Er ist zu alt, um die Tage zu verschlafen.«
Nervös gehe ich weiter. Ich versuche, zu meinem Ärger von vorhin zurückzufinden. Wenn der Bruder mehr wie Klemet gewesen wäre, würde mir das leichter fallen.
Ich öffne die Haustür und latsche ins Haus. Jetzt traue ich mich nicht, noch mal einfach nur »Du!« zu rufen.
»Klemet!«, rufe ich.
Keine Antwort.
Idiot, denke ich. Feigling, denke ich. Die Wut ist wieder da.
»Klemet, bist du da?«
Eine verschlafene Stimme aus einer halb offenen Tür am Ende der Diele.
»Ja?«
Zögernd gehe ich auf die Tür zu. Ich weiß nicht, wie ich beginnen soll. Und es wäre mir peinlich, wenn er halb nackt oder, noch schlimmer, ganz nackt wäre.
»Ich bin’s, Lajla.« Ich versuche, ihn zu warnen.
Ich höre Schritte. Nackte Füße, vermute ich. Dann steht er plötzlich in der dunklen Diele mit haarigen Jungenwaden, in Boxershorts und einem garantiert geerbten verwaschenen T-Shirt, auf dem Metallica steht.
»Was willst du denn hier?«, fragt er.
Ich begreife wirklich nicht, was Sara in ihm sieht. Sein Gesicht, die Pickel auf seiner Stirn, die krumme Haltung. Er ist alles andere als umwerfend und charmant.
»Da musst du noch fragen?«, sage ich ungeduldig, weil ich zur Sache kommen will.
»Ja?«
Seine Stimme ist zu hoch, obwohl er seinen Stimmbruch schon längst hinter sich haben muss. Sie klingt wie die eines kleinen Jungen.
»Was hast du mit Sara angestellt?«, frage ich und trete einen Schritt auf ihn zu.
»Hä? Hast du etwa mit ihr geredet?«
Einen Augenblick lang sieht er verwirrt aus. Dann fährt er fort:
»Kannst du ihr sagen, dass sie verdammt noch mal meine Nachrichten beantworten soll!«
»Kapierst du nicht, warum sie nicht antwortet?«, frage ich, und jetzt zittern meine Arme, während ich die Hände zu Fäusten balle. »Du hältst dich wohl für besonders tough, wenn du auf ein Mädchen losgehst, das einen halben Meter kleiner ist als du? Das ist so verdammt feige, dass ich einfach …«
Klemets Gesicht sieht seltsam aus. So verändert.
Seine Augenbrauen sind bis zum Haaransatz gewandert.
»Losgehen? Was soll das?«, murmelt er. »Behauptet Sara, dass ich auf sie losgegangen bin? Verdammte Scheiße! Erst taucht sie am Samstag einfach nicht auf, und dann läuft sie rum und sagt, dass …«
Ich stutze.
»Sie ist am Samstag gar nicht bei dir gewesen?«
Klemet schüttelt so nachdrücklich den Kopf, dass sein fettiges dunkles Haar hin und her fliegt.
»Bist du sicher?«, frage ich.
»Hundertzehn Prozent.«
Ich starre ihn an. Versuche herauszufinden, ob er lügt oder nicht. Dass er im Prozentrechnen noch schlechter ist als ich, lasse ich auf sich beruhen.
Es ist unmöglich, seine Miene zu deuten. Ein Rätsel, wie sich Sara in dieses finstere Gesicht verlieben konnte. Man kann gut mit ihm reden, von wegen.
Dann drehe ich mich um und gehe. Obwohl mir Klemet hinterherruft, drehe ich mich nicht um.
»He! Du! Sorg dafür, dass Sara antwortet!«
Jonas und das Auto sind weg, als ich aus der Tür trete. Eigentlich bin ich erleichtert, denn ich habe jetzt keine Lust auf Konversation.
Ich gehe zur Auffahrt, irgendwas stimmt nicht. Ich habe das Gefühl, dass noch jemand da ist. Jonas ist weg. Das Auto auch. Aber ich spüre noch jemanden. Das Haus liegt am Fluss. Vielleicht habe ich ja am anderen Ufer aus dem Augenwinkel etwas wahrgenommen. Ich schaue hinüber, nehme aber plötzlich eine Bewegung seitlich wahr. Schnell drehe ich mich um. Es muss auf der anderen Seite des Zauns gewesen sein. Das rote Haus, in dem der Arzt des Ortes, der aus dem Süden, wohnt. Eine Gardine hat sich bewegt. Das kann nicht der Arzt sein, weil der im Gesundheitszentrum ist, aber ich weiß natürlich, dass er eine Familie hat. Seine Frau arbeitet in der Gemeindeverwaltung, und der Sohn geht in unsere Klasse. Ich kann mich nicht erinnern, ob ich ihn heute vor der Schule gesehen habe. Sicher hat er das Zimmer im ersten Stock, in dem sich die Gardine bewegt hat.
Er heißt Ulrik.
Niemand aus dem Ort hätte sein Kind Ulrik getauft. Ein solcher Name riecht nach Häusern im Alpenstil mit Apfelbäumen und nicht nach Mückennetzen und Schnee-Scootern.
Ich betrachte das Fenster und zögere. Von dort aus bietet sich eine gute Aussicht auf den Platz, auf dem ich stehe. Wenn Klemet lügt und Sara doch hier war, dann ist es nicht unmöglich, dass die Person im ersten Stock sie gesehen hat. Insbesondere Ulrik, der, seit er in der Neunten hierhergezogen ist, kaum Freunde gefunden hat, denke ich.
Soll ich? Soll ich nicht?
Ich habe keine Blume, deren Blütenblätter ich abzupfen könnte, um zu einer Entscheidung zu kommen. Also entscheide ich selbst.
Ich soll.
Für Sara, denke ich, aber ich weiß, dass es genauso für mich ist.