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Magdalena und der schwule Architekt
Оглавление17.11.2002
Er wohnt jetzt hier. Keine Ahnung, wie das passieren konnte. Irgendwie hat es sich so ergeben.
Er ist ein Freund von einem Freund von einem Freund und neu in der Stadt. Ich habe mich wohl dazu verpflichtet gefühlt, ihn bei mir aufzunehmen. Zuerst sollte es nur für ein paar Tage sein, aber dann ist er noch einen Tag länger geblieben. Und noch einen Tag. Man kennt das ja.
Eines Morgens stand er also auf meiner Fußmatte. Er hatte nichts dabei außer einer Aktentasche aus Leder. Als ich sie sah, dachte ich:
„Typisch.“
Es fehlten nur noch die gespitzten Bleistifte hinter den Ohren und die Papierrollen unterm Arm. Ich habe ein zugegebenermaßen altmodisches Bild von Architekten.
Davon abgesehen, dass der Mann auf meiner Fußmatte wie ein richtiger Architekt aussah, sah er auch noch richtig schwul aus. Seine Finger waren so gepflegt, dass ich mich schämte und die ganze Zeit damit beschäftigt war, meine abgekauten Nägel vor ihm zu verbergen. Ich steckte meine Hände in die Taschen meiner grünen Jogginghose (für die hätte ich mich eigentlich eher schämen sollen) oder verschränkte die Arme hinter dem Rücken.
Als er sich mir vorstellte, grinste er breit und zeigte mir seine strahlend weißen Zähne.
„Ich heiße Arne“, sagte er und streckte mir seine perfekte Hand hin.
Ich hielt sie unsicher fest und erwiderte:
„Magdalena. Angenehm.“
Dabei dachte ich, dass angenehm ein komisches Wort ist.
Wir setzten uns in die Küche.
Meine Küche besteht aus einem mit Duplo-Bildern (Fußball-WM 1990) beklebten Hängeschrank mit ausgeleierten Scharnieren, einem Kühlschrank, der so laut brummt, dass ich die Küchentür geschlossen halten muss, wenn ich die Nachrichten im Wohnzimmer verstehen will, zwei verklebten Herdplatten und einem kleinen Tisch mit zwei Stühlen, die ich auf dem Sperrmüll gefunden habe. Ich weiß, dass meine Mutter sie am liebsten mit Desinfektionsspray einsprühen würde, wenn sie mich besucht.
Wir saßen uns gegenüber. Arne hielt sich an der Tischkante fest wie ein kleines Kind. Die braune Aktentasche lehnte an einem der wackeligen Tischbeine.
„Nett von dir, dass du mich bei dir aufnimmst“, meinte Arne und wirkte etwas verlegen, „Ich kann natürlich auch in eine Pension gehen oder so.“
Ich winkte ab.
„Nee, lass mal. Wir werden uns schon vertragen.“
Ich wunderte mich über mich selbst. Solche Phrasen waren eigentlich nicht mein Stil.
„Was hast du denn so für Pläne?“, wollte ich wissen.
Arne zuckte die Achseln.
„Ich werde mich bei ein paar Zeitarbeitsfirmen vorstellen und mal gucken, was passiert.“
Mal gucken. Aha.
Ich nickte.
„Was machst du so?“, fragte er.
„Ich bin Model“, antwortete ich und sah ihm dabei nicht in die Augen.
„Oh“, machte Arne, „Das ist ja interessant.“
Ich glaube, er meinte das ernst.
„Geht so“, gab ich zurück, „Momentan bekomme ich keine Aufträge.“
„Oh“, machte Arne erneut und schaute auf seine Hände.
Wir tranken eine Tasse Kaffee zusammen und redeten in abgehackten Sätzen. Ich war froh, als er plötzlich auf die Uhr schaute und meinte, dass er noch eine Verabredung hätte. Ich begleitete ihn bis zur Wohnungstür. Nachdem ich sie geschlossen hatte, stürmte ich ins Wohnzimmer und stellte mich an die Gardine, um ihm nachzuschauen.
Arne übernachtete auf dem Sofa im Wohnzimmer. Es war zwar keine Ausziehcouch, aber dennoch recht bequem. Arne war jedenfalls glücklich.
„Das ist echt toll von dir“, betonte er noch einmal, bevor er sich am ersten Abend schlafen legte.
Ich verdrehte die Augen. Seine Dankbarkeit ging mir auf die Nerven. Ich bin kein mildtätiger Mensch. Ich bin auch nicht besonders freundlich oder aufgeschlossen. Ich glaube, tief in meinem Inneren sehnte ich mich einfach nur nach ein wenig Gesellschaft und Abwechslung. Das ewige Herumsitzen in der Wohnung trieb mich langsam in den Wahnsinn.
Bald stellte sich heraus, dass ich eine gute Entscheidung gefällt hatte. Arne war ein wunderbarer Gast. Er schrubbte die Dusche, nachdem er sie benutzt hatte. Er räumte morgens sein Bettzeug zusammen. Er machte Kaffee und klopfte zaghaft an meine Schlafzimmertür.
„Guten Morgen“, flüsterte er dann, „Kaffee ist fertig.“
Dann stellte er den Becher vor der Tür auf den Dielen ab.
Wenn er die Wohnung verließ, zog er die Tür leise hinter sich zu, um mich nicht zu wecken oder zu stören. Außerdem schrieb er Einkaufszettel und machte Besorgungen, brachte den Müll hinunter, spülte das Geschirr, wischte Staub, schlug die Kissen aus und putzte sogar zweimal die Fenster. Als er das erste Mal meine Wäsche wusch, war ich zunächst verärgert. Meine Unterwäsche ist mir peinlich. Sie war billig, und das sieht man. Als ich jedoch beobachtete, dass Arne sie beim Aufhängen keines Blickes würdigte und genauso gleichgültig mit Wäscheklammern an den dünnen Metallstreben des Ständers befestigte wie die Spültücher und Socken, atmete ich erleichtert auf.
„Hast du eigentlich einen Freund?“, fragte ich ihn daraufhin.
„Ich weiß nicht“, gab er zurück, „Ist noch nicht ganz klar.“
„Also hast du zumindest Sex?“, fragte ich.
Arne wurde rot.
„Entschuldigung“, entgegnete ich schnell, „Das geht mich nichts an.“
„Nein, nein“, meinte Arne und hängte noch zwei Paar Socken von mir auf, „Schon in Ordnung. Wir hatten schon mal Sex, aber ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich etwas für ihn ist.“
Ich wurde neugierig.
„Du meinst, er weiß nicht, ob er wirklich schwul ist?“
Arne blickte auf und sah mich prüfend an.
Ich hob die Arme und machte eine Geste, die wohl Hilflosigkeit oder etwas in der Art ausdrücken sollte.
„Es tut mir leid, ich bin einfach neugierig.“
Arne bückte sich, um ein Hemd aus dem Wäschekorb zu nehmen.
„Ja, das kann man wohl so sagen. Er hatte vorher noch nie was mit einem Mann.“
„Wusstest du das, als du ihn kennen gelernt hast?“, bohrte ich weiter.
„Naja. Ich hatte so eine Ahnung.“
Wir schwiegen eine Weile, während Arne die restliche Wäsche aufhängte. Dann ging er um den Wäscheständer herum und setzte sich auf die Lehne der Couch.
„Noch Fragen?“, meinte er und grinste mich an.
Ich überlegte kurz und schaute dabei an die Decke. Mir fiel tatsächlich noch etwas ein. Ich fragte:
„Hast du schon mal was mit einer Frau gehabt?“
„Klar“, meinte Arne, „mehrfach sogar.“
„Aber irgendwie war das nicht so das Richtige?“
Arne zuckte die Achseln.
„Naja“, sagte er dann, „schlecht war es nicht. Aber Sex mit Männern gibt mir mehr.“
„Und jetzt hast du dir also einen Heteromann an Land gezogen?“
Arne musste lachen.
„Irgendwie schon.“
Ich verschränkte die Arme vor der Brust.
„Und wie macht man das?“, wollte ich wissen.
Arne ließ sich gegen die Rückenlehne fallen und legte den Kopf in den Nacken. Das Sonnenlicht fiel in diesem Moment in seine Augen. Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass sie grün waren. Und das veränderte etwas. Plötzlich war Arne nicht nur schwul, sondern auch attraktiv und ich konnte verstehen, warum sich auch ein Heteromann auf ihn einlassen würde.
Oder eine Heterofrau.
„Er ist ein Bekannter von einem Bekannten. Wir haben uns getroffen, einen Kaffee getrunken und uns unterhalten. Und dann war relativ schnell klar, dass er Interesse hat. Man spürt das einfach“, berichtete Arne.
Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte, also schwieg ich.
„Und du?“
Arne drehte sich zu mir und sah mich erwartungsvoll an.
„Was, ich?“
„Stell dich nicht dumm“, lachte Arne, „Wie sieht’s bei dir aus?“
„Hm“, machte ich und fixierte Arnes silbergraue Koteletten.
„Bei mir ist momentan gar nichts los“, entgegnete ich schließlich, „Ich bin noch nicht mal verliebt. Ich bin sonst immer verliebt. Ich weiß auch nicht.“
Arne reagierte nicht darauf. Er starrte auf einen unbestimmten Punkt auf dem Teppichboden vorm Fenster. Ich musste ihn die ganze Zeit angucken und hatte Angst, dass er es merken könnte. Aber diese Angst war unbegründet. Arne war so in Gedanken versunken, dass er wahrscheinlich für einen Augenblick vergessen hatte, dass ich mit ihm in einem Raum war. Wir verharrten vielleicht ein oder zwei Minuten in dieser Position des Nichts-Sagens und Nichts-Tuns. Zwei Minuten können ganz schön lang sein. Zwischendurch vergaß ich sogar zu atmen. Ich hatte das Gefühl, ein Foto von Arne und mir zu betrachten und gar nicht echt zu sein.
„Sollen wir was bestellen?“, fragte Arne unvermittelt, „Geht auf mich.“
„Super“, antwortete ich.
Ich hatte überhaupt keinen Hunger.
Ein paar Wochen später hatte Arne einen Job. Nicht als Architekt, sondern als Rezeptionist. In einem Fitnessstudio. Ich konnte es nicht fassen.
„Aber du bist doch Architekt!“, rief ich aus.
„Was soll ich machen?“, erwiderte Arne, „Ich finde einfach nichts. Und es ist immerhin besser, als den ganzen Tag nur rumzusitzen und nichts zu tun.“
Ich war beleidigt, noch bevor ich eigentlich begriff, warum, und ließ mich mit viel Schwung auf einen der armseligen Küchenstühle fallen. Arne wusste sofort, was los war.
„Oh“, sagte er, „Das hätte ich nicht sagen dürfen. Das war keine Anspielung, echt nicht.“
„Trampel“, motzte ich.
Da war ich schon gar nicht mehr wütend auf ihn, aber ich hatte das Gefühl, dass es gekünstelt wirken würde, wenn ich von jetzt auf gleich wieder ganz normal mit ihm umging. Also spielte ich noch einen Augenblick lang die beleidigte Leberwurst. Ein bisschen Drama gehörte einfach dazu.
Arne setzte sich mir gegenüber an den Tisch, wie am ersten Tag.
„Es tut mir leid“, sagte er erneut.
Ich seufzte.
„Du hast ja recht“, meinte ich dann, „Suchen die vielleicht noch jemanden?“
Arne lächelte. Mein Blick blieb an seinen Grübchen hängen und in meinem Kopf formte sich ein Wort, dass nur verliebte Menschen benutzen: zauberhaft. Ich versuchte, den Gedanken wegzublinzeln.
Mach dich nicht lächerlich, Lena.
„Ich kann ja mal nachfragen“, bot Arne an.
„Was?“
Ich hatte den Faden verloren. Mein Blick wanderte von Arnes Grübchen zu seinem Mund und zurück zu seinen Grübchen, und ich hatte urplötzlich fürchterlichen Durst.
„Ob sie noch jemanden brauchen können“, meinte Arne.
„Wo?“
Arne legte den Kopf schief.
„Äh, Lena…?“
Ich legte den Kopf ebenfalls schief, um Arne genau in die Augen blicken zu können.
„Kann ich dich mal was fragen?“
Arne hob überrascht die Augenbrauen.
„Klar. Schieß los.“
„Dieser Typ, den du dir da aufgerissen hast. Was findest du so toll an ihm?“
Arne überlegte einen Augenblick.
„Er riecht total gut.“
Arne musste lachen.
Ich lächelte schwach. Ich war mit einem Mal todtraurig.
Arne verschaffte mir einen Job in dem Fitnessstudio. Ich arbeitete mittwochs und freitags, Arne hatte seine Schichten dienstags und donnerstags. Obwohl wir uns im Studio nie über den Weg liefen, hatten wir plötzlich eine ganze Reihe gemeinsamer Bekannter.
„Ich hasse die Rothaarige“, erklärt Arne und verdreht die Augen.
Es ist Donnerstagabend und wir teilen uns eine Tiefkühlpizza.
„Die, die immer das Laufrad vorne rechts haben muss?“
„Genau die“, bestätigt Arne kauend, „Erstens sieht sie immer aus, als würde sie jeden Moment vom Rad fallen, und zweitens stinkt sie dauernd nach Knoblauch.“
„Ist mir auch schon aufgefallen“, erwidere ich.
„Wen hasst du am meisten?“, will Arne wissen.
„Die Blonde mit der komischen Tätowierung im Nacken. Ich glaube, sie denkt, sie wäre Angelina Jolie. Sie stülpt die Lippen immer so vor.“
Ich stülpe meine Lippen nach außen, bis ich sie aus den Augenwinkeln unter meiner Nase sehen kann. Arne verschluckt sich vor Lachen, bekommt einen roten Kopf und hustet eine ganze Weile.
Wer hätte gedacht, dass ich mal in einer WG leben würde, denke ich.
„Du, am Wochenende kommen meine Eltern vorbei“, verkünde ich dann.
Arne fragt:
„Du meinst, dass ich mich dann aus dem Staub machen soll?“
Ich grinse.
„Nein. Ich meine, dass meine Eltern vorbeikommen. Wenn du darauf keine Lust hast, solltest du dich tatsächlich aus dem Staub machen. Ansonsten bist du herzlich willkommen, mit uns zu frühstücken. Sie sind ganz nett.“
Arne wirft mir einen skeptischen Blick zu.
„Du machst ja echt Werbung für deine Eltern.“
Ich nehme einen Schluck Kaffee und winke schnell ab.
„Nein, ernsthaft. Meine Eltern sind wirklich in Ordnung.“
Arne streicht sich ein paar Mal unsicher durch die Haare.
„Hast du ihnen gesagt, was mit mir los ist?“
Ich muss lachen.
„Dass du auf Männer stehst? Na klar! Dachtest du, ich hätte dich als meinen tollen Liebhaber ausgegeben?“
Arne ist nicht überzeugt.
„Ich weiß nicht. Ich sollte wahrscheinlich kein Problem damit haben, aber irgendwie ist mir bei dem Gedanken ein wenig komisch zumute. Immerhin wohne ich jetzt schon seit ein paar Wochen hier und zahle keine Miete. So was finden Eltern nie toll.“
Da musste ich ihm recht geben. Meine Mutter hatte tatsächlich schon mal eine Andeutung in dieser Richtung gemacht.
„Weißt du, wir beharren einfach darauf, dass ich ohne dich nie meinen tollen neuen Job im Fitnessstudio bekommen hätte. Wie findest du das?“
„Total Scheiße“, antwortet Arne.
Wir müssen beide lachen.
Am Samstag um 11 Uhr klingelt es.
Meine Eltern sind immer superpünktlich. Ich habe diese Tugend von ihnen geerbt. Deshalb stehe ich um Punkt zwei vor 11 bereits an der Gegensprechanlage und warte auf das Schellen. Arne gießt derweil die Blumen und tut so, als wenn dies ein ganz normaler Tag wäre, aber ich weiß, dass er nervös ist. Er hat rote Flecken auf den Wangen und kratzt sich dauernd am Ohr. Das macht er sonst nie.
Ich öffne die Tür. Vor mir steht meine Mutter. Sie ist klein und rund und strahlt immer über das ganze Gesicht, wenn sie mich sieht. Es ist so wunderbar einfach mir ihr. Man muss sich nie Gedanken darüber machen, wie man sie beschäftigen kann. Sie freut sich schon, wenn sie mal aus dem Haus kommt. Mein Vater ist da anders. Er ist ein düsterer Mann, hat oft schlechte Laune und zieht gern die Augenbrauen zusammen. Dann sieht er aus wie ein knurriger, zerknautschter Monchichi mit einem schwarzen Stoffbalken auf der Stirn. Manchmal treibt mich seine düstere Miene zur Weißglut. Ich kann launische Menschen nicht ausstehen. Aber da mein Vater mein Vater ist, muss ich ihn natürlich doch gern haben. Schon allein, weil er die Monster unter meinem Bett Abend für Abend in die Flucht geschlagen und mir so oft „Der Wolf und die sieben Geißlein“ vorgelesen hat, dass er den Text irgendwann auswendig konnte.
„Hallo Schatz“, sagt meine Mutter und wirft sich mir an den Hals.
„Hallo Mama“, entgegne ich, etwas reservierter.
Das letzte Mal, als wir uns gesehen haben, hat mir meine Mutter einen Vortrag darüber gehalten, dass ich mir lieber Gedanken über eine private Rentenversicherung machen sollte, statt mein Geld beim Friseur auszugeben und mir die Haare aufdrehen zu lassen. Davon abgesehen, dass ich mir in meinem ganzen Leben noch nie die Haare habe aufdrehen lassen, hasse ich das Wort Versicherung in all seinen Spielarten. Es erinnert mich daran, dass ich jenseits der 30 bin und immer noch keine Kinder in die Welt gesetzt habe. Meine Mutter tut das übrigens auch. Sie kann ein subtiles Miststück sein. Das traut man ihr gar nicht zu, wenn man sie so rund und fröhlich um die Ecke wackeln sieht. Sie sagt dann Sachen wie:
„Herrmanns sind schon wieder Großeltern geworden. Dabei ist Anne-Kathrin noch ein Jahr jünger als du.“
Wenn ich darauf erwidere, dass Anne-Kathrin auch zu dumm zum Verhüten ist, werde ich mit einem bitterbösen Blick bedacht. Ich versuche, mich in Nachsicht zu üben. Meine Mutter wünscht sich nun mal ein Enkelkind.
Meinem Vater sind Enkelkinder, glaube ich, ziemlich egal. Wie er da so im Hausflur steht, groß und dünn, wird mir bewusst, dass er nicht mehr der Jüngste ist. Er verneigt sich leicht, als er mich ansieht. Ich muss grinsen.
„Hallo Papa“, sage ich, „Willst du mir die Hand schütteln?“
Mein Vater verzieht das Gesicht. Manchmal findet er mich ganz witzig, heute anscheinend nicht. Er tritt ein, bleibt vor der Garderobe stehen und wirkt ein wenig verloren.
„Wo ist denn jetzt dieser Mitbewohner?“, will er wissen und hat mal wieder diesen leicht grantigen Unterton in der Stimme.
„Arne gießt die Blumen“, erwidere ich.
Genau in diesem Moment kommt Arne aus der Küche. Er hält die Gießkanne in der Hand und bleibt neben mir stehen. Als er meinen Vater sieht, treten seine Augäpfel hervor. Mehr nicht.
„Guten Tag. Arne“, sagt er mit fester Stimme und reicht erst meiner Mutter, dann meinem Vater die Hand.
Oh Scheiße, denke ich.
Keine Ahnung, wieso, aber ich weiß sofort, was los ist. Ich muss noch nicht einmal meinen Vater ansehen. Der hat sich derweil umgedreht und tut jetzt so, als wäre er noch damit beschäftigt, seinen Mantel aufzuknöpfen. Seine umständlichen Bewegungen verraten ihn. Der Mantel ist schon längst offen.
„Hast du ein paar neue Aufträge?“, fragt meine Mutter.
„Wie?“
Ich bin total abgelenkt.
„Ob du ein paar neue Aufträge hast“, wiederholt Arne und stellt die Gießkanne neben der Garderobe auf dem Fußboden ab, ein untrügliches Indiz dafür, dass er nervös ist. Ich meine, was zum Geier hat die Gießkanne dort zu suchen?
Ich weiß nicht, wohin mit meinen Händen. Ich möchte sie verstecken, so wie damals, als Arne vor meiner Wohnungstür gestanden hat. Mein Vater dreht sich um und ist kreidebleich. Er geht an Arne vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, und umarmt mich steif. Als ich sein Aftershave rieche, verspannt sich meine Nackenmuskulatur.
Oh Scheiße, denke ich noch einmal. Zu mehr bin ich nicht imstande.
Arne und ich haben zwei Campingstühle in der Küche aufgestellt und an den kleinen wackeligen Küchentisch herangeschoben. Wir haben frische Blumen gekauft und in einer Vase auf die Fensterbank gestellt. Auf einer der beiden Herdplatten steht ein Kochtopf, in dem vier Eier vor sich hin hoppeln. Die Eieruhr macht Ticktack.
Mir steht der Schweiß auf der Stirn.
Meine Mutter setzt sich auf einen der Campingstühle und sagt:
„Ach, habt ihr das aber gemütlich!“
Ich bin entsetzt, weil sie so ahnungslos ist.
Mein Vater steht immer noch im Türrahmen und sieht aus dem Fenster hinaus. Mich würde interessieren, ob er weiß, was ich weiß.
Wo ist eigentlich Arne?
„Arne!“, rufe ich.
„Ich komme“, ruft Arne und kommt nicht.
„Setz dich doch“, fordere ich meinen Vater auf.
Er kommt zögernd näher.
„Und? Hast du ein paar Aufträge an Land gezogen?“, fragt meine Mutter noch einmal.
„Irmgard, du weißt doch, dass sie jetzt im Fitnessstudio arbeitet“, wirft mein Vater genervt ein.
Ich finde nicht, dass er das Recht hat, meine Mutter anzublaffen. Ich werfe ihm einen bösen Blick zu und wende mich dann an meine Mutter. Ich will versuchen, heute ganz besonders nett zu ihr zu sein.
„Nein, Mama, ich habe momentan keine Aufträge. Aber das ist auch die Zeit. Nächsten Monat sieht’s bestimmt wieder besser aus.“
Meine Mutter nickt, sieht aber besorgt aus. Natürlich macht sie sich Sorgen um mich.
„Kind, wenn du etwas brauchst…“
„Jajaja, Mama“, falle ich ihr ins Wort, „dann sage ich Bescheid.“
„Und dein Mitbewohner?“, fragt sie dann.
Eigenartig. Ich weiß nicht, woher die Idee gekommen ist. Sie ist ganz plötzlich da und es dauert nur einen winzigen Augenblick, dann ist sie schon Teil meiner Wirklichkeit. Und noch bevor ich weiter darüber nachdenken kann, hat der Satz meinen Mund verlassen und fliegt zu meiner Mutter hinüber. Jetzt gibt es keinen Weg zurück.
„Naja. Also, Arne ist ja jetzt auch nicht nur mein Mitbewohner.“
Meine Mutter macht große Augen.
„Was? Aber ich dachte, er sei schwul!“, rutscht es ihr heraus und sie spricht das Wort schwul dabei aus, als hätte sie es in ihrem ganzen Leben noch nicht benutzt.
Ich wage es nicht, meinen Vater anzusehen, aber ich kann hören, wie er das Gewicht von einer Pobacke auf die andere verlagert. Der Stuhl knarzt.
„Tja“, mache ich, „Ich konnte ihn davon überzeugen, dass wir Frauen doch gar nicht so übel sind.“
Das klingt so platt, dass es mir eigentlich die Schamesröte ins Gesicht treiben müsste, aber es kommt mir fast so vor, als hätte jemand einen Schalter in meinem Kopf umgelegt. Ich spule ein alternatives Programm ab. Ich bin nicht mehr Ich sondern Die Da.
Meine Mutter weiß im ersten Augenblick nicht, was sie dazu sagen soll. Ihr Augenlid zuckt nervös, dann setzt sie ein schiefes Grinsen auf.
„Das ist nicht dein Ernst?“, platzt es jetzt aus ihr heraus.
Ich nicke.
„Doch. Mein voller Ernst. Arne und ich sind ein Paar.“
Der Stuhl von meinem Vater knarzt erneut. Diesmal vorwurfsvoll.
Als Arne in die Küche hineinspaziert, traue ich mich nicht, ihn anzusehen. Meine Mutter springt natürlich direkt auf und stürmt auf ihn zu.
„Ach, das ist ja wundervoll“, zwitschert sie, „Willkommen in der Familie!“
Ich habe so eine Ahnung, dass sich meine Mutter bereits mit einem quietschvergnügten Baby auf dem Arm durch die Reihenhaussiedlung spazieren sieht. Das Baby hat grüne Augen und aufgedrehtes Haar.
Arne weiß nicht, wie ihm geschieht, und sagt unsicher:
„Oh, äh, das ist aber nett von Ihnen, Frau Waldmann.“
Dann werfe ich meinem Vater einen Blick zu, dessen Aufgabe ist, sich auf alle Ewigkeit in sein Gedächtnis einzubrennen. Ich ducke mich ein wenig wie ein angriffslustiges Tier und sehe ihm direkt in die Augen. Dabei hebe ich meinen linken Mundwinkel, um ihm meine Zähne zu zeigen. Meine Lippen formen das Wort
„Betrüger.“
Als ich sehe, wie sich die dunklen Haare an Papas Unterarm aufrichten, weiß ich, dass er mich verstanden hat.
Arne und meine Mutter setzen sich zu uns an den Tisch.
„Hast du gehört, Ernst?“, fragt meine Mutter, „Die beiden sind ein Paar!“
„Ich bin doch nicht taub“, versetzt mein Vater barsch.
Arne blickt mich verwirrt an.
„Na los, Schatz“, sage ich aufgedreht, „Erzähl meinen Eltern doch bitte, wie wir zusammengekommen sind.“
Arne will es nicht begreifen, so viel steht fest. Seine grünen Augen huschen von mir zu meinem Vater zu meiner (überglücklichen) Mutter hinüber. Für den Bruchteil einer Sekunde tut er mir leid.
„Ich muss kurz etwas trinken“, sagt Arne und steht auf, „Mein Glas ist nebenan.“
Er geht aus der Küche. Als er nach wenigen Sekunden wiederkommt, ist er wie ausgewechselt. Das nervöse Flackern in seinen Augen ist erloschen, sein Blick ist fest, der Schritt entschlossen. Er setzt sich und ergreift meine Hand.
„Tja, das war wirklich einer jener glücklichen Zufälle. Ich war ganz neu in der Stadt und ein entfernter Bekannter meinte, er kennt jemanden in Bonn. Ein Model. Ich weiß noch, dass ich lachen musste. Ich stehe ja eigentlich gar nicht auf Frauen, sondern auf Männer“, beginnt er.
Arnes Finger sind kalt und ich spüre seinen Puls. Es ist, als hielte ich sein Herz in meiner Hand. Es klopft langsam und gleichmäßig.
„Ich hatte sie gleich am Tag meiner Ankunft angerufen, noch vom Bahnhof aus. Mir war ihre Stimme auf Anhieb sympathisch und wir verabredeten uns für den Nachmittag. Ich weiß gar nicht, was ich eigentlich erwartet hatte, als ich mich mit ihr traf, aber es war einfach toll. Sie hatte mir den Weg zu einem kleinen Café in Poppelsdorf erklärt. Es war warm und sonnig und die Tische auf der Terrasse waren allesamt besetzt. Aber ich wusste sofort, wer sie ist. Ein Blick genügte.“
Arne drückt meine Hand, sodass ich seinen Herzschlag für einen Sekundenbruchteil nicht mehr spüren kann, und blickt mir direkt in die Augen.
„Ich habe sie angesehen und war verliebt.“
Meine Mutter wirft mir einen jener „Hört, hört“- Blicke zu und ich verstehe erst einmal gar nichts.
Arne erzählt unbeirrt und mit ruhiger Stimme weiter:
„Wir unterhielten uns eine Weile und es war ganz leicht. Es kam mir so vor, als wären wir aus einem Stück gemacht, es war beinahe unheimlich. Dennoch hatte ich so ein Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Als wir uns das nächste Mal trafen, sagte Lena, ich dürfe nicht bei ihr zuhause anrufen. Erst da begriff ich, dass es noch jemandem in ihrem Leben gab. Ich versprach ihr, dass ich das respektieren würde.“
Langsam, ganz langsam dämmert mir, was Arne da tatsächlich erzählt. Ich schlucke. Mein Vater sieht aus wie ein geprügelter Hund. Meine Mutter ist verwirrt.
„Es gab da noch jemanden…? Ich verstehe nicht…“
Ich falle ihr ins Wort, und es fällt mir schwer, meine Stimme fröhlich klingen zu lassen. So schwer.
„Erzähl meinen Eltern doch, was dir so besonders gut an mir gefallen hat.“
Wahrscheinlich kann nur ich den sarkastischen Unterton aus Arnes Lachen herausfiltern.
„Das ist einfach“, erwidert er und blickt meinem Vater direkt ins Gesicht, „Der Geruch. Sie verströmte einen so umwerfenden Duft, dass ich kaum noch klar denken konnte.“
Meine Mutter schwebt mit uns, dem jungen Glück, im 7. Himmel. Ihre Augen strahlen und sie verpasst meinem Vater noch einen Stupser.
„Ernst“, flüstert sie, „ist das nicht romantisch?“
Mein Vater räuspert sich und sagt tonlos:
„Wer hätte dass gedacht.“
Mit einem Mal sieht Arne sehr, sehr traurig aus. Er senkt den Blick und sagt:
„Wir haben uns ein paar Mal gesehen. Es war wunderschön. Ich habe Lena gesagt, dass ich mit ihr zusammen sein möchte. Sie hat nur den Kopf geschüttelt und gemeint, das ginge nicht, sie hätte noch ein anderes Leben. Ich habe gesagt, trenn dich, wir lieben uns doch. Manchmal muss man etwas riskieren, um glücklich zu sein. Aber sie blieb beharrlich. Nein, es ginge einfach nicht, meinte sie. Das war schlimm für mich.“
Meine Mutter stufft mir in die Seite.
„Was hast du denn da für eine ominöse Affäre gehabt, dass du uns gar nichts davon erzählt hast?“, fragt sie.
Sie sieht ein bisschen gekränkt aus. Sie wünscht sich immer so sehr, dass ich ihr alles sage. Ich sehe sie schuldbewusst an und zucke die Achseln. Was soll ich auch groß anderes tun? Ich will mir nicht noch eine Geschichte aus den Fingern saugen. Für einen einzigen Morgen ist in dieser Küche eindeutig genug gelogen worden.
„Naja. Nach einem holprigen Anfang hat es ja dann doch noch mit uns geklappt“, meint Arne jetzt.
Er blickt auf und sieht wieder ganz normal aus. Ein versöhnlicher Abschluss. Ende gut, alles gut.
Ich bin beeindruckt von seiner schauspielerischen Leistung.
Mein Vater hat derweil mehrere Löcher in die Tischplatte gestarrt. Und ich?
Tja. Gute Frage. Ich muss immer an Arnes Herz in meiner Hand denken. Ich glaube, ich habe es kaputt gemacht.
Im Anschluss an Arnes und mein kleines improvisiertes Bühnenstück unterhalten wir uns noch ein oder zwei Stunden gepflegt mit meinen Eltern. Wir sprechen über das Fitnessstudio, über das Wetter, die Pläne fürs Wochenende, den Garten meiner Eltern. Arne und mein Vater unterhalten sich über Fußball, meine Mutter und ich streiten über eine Zahnzusatzversicherung. Meine Mutter scheint fest davon überzeugt zu sein, dass mein komplettes Gebiss innerhalb der nächsten zwei Jahre verrotten wird. Ich reagiere empfindlich darauf. Wir zoffen uns eine Weile.
Die ganze Zeit über hält Arne meine verschwitzte Hand fest und ich beobachte verstohlen meinen Vater. Er ist so wie immer, ein wenig mürrisch, und brummt vor sich hin, wenn er etwas haben will, bemängelt, dass das Eigelb zu hart geworden ist, und verschlingt das Frühstücksei dennoch in zwei oder drei großen Bissen.
Meine Mutter ist einfach nur glücklich.
Als sich meine Eltern schließlich verabschieden, umarmt mich mein Vater ungewohnt lang. Es ist mir ein wenig unangenehm und ich bekomme rote, heiße Ohren, als er schließlich von mir ablässt. Er wirft mir einen langen Blick zu und flüstert:
„Ich habe mir das nicht ausgesucht.“
Ich weiß nicht, ob ich ihn lieber wegstoßen, schlagen oder noch einmal fest an mich ziehen will. So oder so steigen mir dicke Tränen in die Augen.
Nachdem mir meine Mutter noch einmal fröhlich von der Treppe aus zugewinkt hat, schließe ich schnell die Wohnungstür und atme tief durch.
Arne ist in der Küche zugange. Er räumt den Tisch ab und lässt Wasser ins Spülbecken einlaufen. Er prüft die Wassertemperatur mit seinen perfekten Fingern. Ich bleibe im Türrahmen stehen und beobachte ihn eine Weile. Als er mich bemerkt, meint er trocken:
„Jetzt sind alle glücklich.“
„Ach, Arne“, sage ich und fange an zu weinen.
Arne schüttelt den Kopf.
„Das geht nicht, Lena. Du kannst jetzt nicht da stehen und heulen. Du hast das doch alles angezettelt.“
Seine Stimme klingt gar nicht wütend, eher erschöpft und müde.
„Natürlich darf man heulen, wenn man ein schlechtes Gewissen hat“, gebe ich patzig zurück.
Meine Nase läuft wie verrückt.
„Da hast du auch wieder recht“, entgegnet Arne seufzend.
Wir hielten unsere kleine Lügengeschichte noch ein paar Wochen aufrecht, dann rief ich bei meiner Mutter an und berichtete, dass es mit Arne und mir doch nicht geklappt hatte, wir aber noch gute Freunde seien und auch weiter zusammen wohnen wollten. Ich spürte, dass meine Mutter ein wenig enttäuscht war, aber sie hörte aufmerksam zu und erklärte zuletzt, dass „die Dinge“ nicht ohne Grund passierten und dass es deshalb wohl so am besten sei.
Das denke ich auch. Alles hat einen Sinn.
Vielleicht war es auch diese Einstellung, die meiner Mutter dabei half, ein überraschendes Geständnis meines Vaters zu verdauen. Eines Tages fasste er all seinen Mut zusammen und eröffnete ihr, dass er sich schon seit ein paar Jahren zu Männern hingezogen fühlte. Ich weiß nicht, was ihn dazu bewog und wie er es genau anstellte. Offenbar verhielt er sich jedoch taktvoll, sodass ihn meine Mutter nicht verteufeln konnte. Im ersten Moment war sie natürlich vor den Kopf gestoßen, aber ich habe auch den Eindruck, dass ihr während des Gesprächs klar wurde, dass sie meinen Vater schon länger nicht mehr liebte. Sie scheint jedenfalls nicht unglücklich darüber zu sein, dass sie und mein Vater sich scheiden lassen und das Reihenhaus verkaufen werden. Das eintönige Vorstadtleben hatte sie sowieso satt, bemerkte sie mir gegenüber einmal ganz beiläufig, in einem Nebensatz. In diesem Punkt hat meine Mutter mich, genauso wie meinen Vater, wirklich überrascht. Sie hat inzwischen einen neuen Lebensgefährten, der genauso viel lacht wie sie und gern verreist. Ich habe das Gefühl, dass sie richtig glücklich ist.
Ich hingegen war nach jenem Vorfall eine ganze Weile ziemlich unglücklich. Nach ein paar Wochen wurde mir bewusst, dass ich mir und Arne nicht länger etwas vormachen konnte, und gestand ihm, dass ich mich in ihn verliebt hatte, obwohl ich wusste, dass es hoffnungslos war. Arne nahm mich in den Arm und tröstete mich eine Weile. Dann kamen wir gemeinsam zu dem Schluss, dass die Situation, in der ich mich befand, an allem Schuld war: Ich hatte keine vernünftige Arbeit, keine Beziehung, kein soziales Netz, über das ich jemand hätte kennen lernen können. Und dann war da Arne, immer in meiner Nähe, meine engste Bezugsperson, schwul und unerreichbar und deshalb eine ideale Projektionsfläche für meine unerfüllten Wünsche.
Mir wäre es zwar lieber gewesen, wenn er gesagt hätte, dass er mich auch liebte, aber ich gab mich mit seiner Freundschaft zufrieden. Das war immer noch besser als nichts.
Danach ging unser WG-Leben ganz normal weiter. Arne und ich redeten nur noch ein einziges Mal über den chaotischen Samstagvormittag, der mir und meinem Vater die Augen geöffnet hatte. Arne erzählte mir, dass ein Freund von ihm meinen Vater in einem Chat-Forum für Schwule kennen gelernt hatte. So kam auf Umwegen der erste Kontakt zustande. Als sich Arne bereits in ihn verliebt hatte, begriff er, dass mein Vater nicht aus seinem gutbürgerlichen Leben ausbrechen würde. Also entschied er sich schweren Herzens, die Angelegenheit zu vergessen und irgendwie weiterzumachen.
Da kam ich ins Spiel. Ein anderer schwuler Bekannter von Arne hatte schon mal mit mir für einen Werbekatalog gemodelt. Er gab Arne meine Nummer.
„Aber der gleiche Nachname“, meinte ich verwundert, „das wäre doch schon ein ganz schöner Zufallen gewesen, oder? Das hätte dir doch auffallen müssen.“
Arne grinste verlegen.
„Naja. Dein Papa hat natürlich ein Pseudonym benutzt.“
„Was denn für ein Pseudonym?“, fragte ich erstaunt.
Er nannte es mir und ich musste grinsen. Typisch Papa.
Seitdem mein Papa sein Coming-Out hatte, fühle ich mich ihm näher. Ich weiß auch nicht so genau, warum. Aber jetzt sehe ich ihn an und habe das Gefühl, dass ich die komplette Person sehen kann. Endlich. Irgendwann erzählte er mir, dass er es noch einmal bei Arne versucht hatte, aber Arne hatte inzwischen schon einen neuen Schwarm. Die Liebe kommt und geht.
„Feigheit ist unsexy“, hatte Arne mir gegenüber einmal bemerkt.
Ich glaube, ich weiß, was er meint.
Jedenfalls hat mein Vater angefangen, sich mit Männern zu treffen. Er ist nicht mehr so oft schlecht gelaunt, schämt sich aber immer noch ein bisschen dafür, dass er jetzt keine Hete mehr ist. Ich versuche immer, ihm klarzumachen, dass er nicht so streng mit sich sein soll und dass Schwulsein etwas ganz Normales ist, aber ich erwische mich dabei, dass ich selbst nicht ganz daran glaube. Eigentlich finde ich es eigenartig, einen schwulen Vater zu haben. Es ist so, als wenn jemand, den man zu kennen glaubte, plötzlich sagt:
„Du, ich heiße gar nicht Tina, sondern Carmen und bin auch nicht aus Bochum, sondern aus Celle. Meine Eltern sind aus Peru, nicht aus Solingen und mein Lieblingsessen ist nicht Lasagne. Ich hasse Lasagne.“
So in der Art ist es, aber noch viel, viel verwirrender.