Читать книгу Dutzendgeschöpfe - Katia Weber - Страница 5
Kurt
Оглавление30.9.2003
Während Frau Schmidt die zweite Tasse Kaffee mit ruhiger Hand an ihre trockenen Lippen führt, überlegt sie, wie weiter vorzugehen ist. Soll sie den Krankenwagen jetzt gleich rufen oder noch ein wenig warten?
Einfach nur, um ganz sicher zu sein, denkt sie.
Der Minutenzeiger schiebt sich langsam vor und knackt dabei. Gleich ist es halb elf. Frau Schmidt überlegt, wie lange sie jetzt schon so da sitzt. Eigentlich kann es nicht mehr als eine Stunde sein, aber es fühlt sich viel, viel länger an. Die Enge in ihrem Hals, die sie bis eben noch gespürt hat, ist verschwunden. Sie schluckt noch einmal. Ja, alles wieder frei. Dann fällt ihr Blick auf den gedeckten Frühstückstisch. Sie hat ihr Brötchen nicht einmal angerührt. Es liegt auf dem Teller und sieht irgendwie traurig aus.
„Na, komm“, sagt Frau Schmidt, „Dich ess ich noch, bevor wir den Notarzt rufen.“
Frau Schmidt fragt sich, ob das jetzt immer so sein wird: dass sie sich vor lauter Einsamkeit mit den Lebensmitteln unterhält.
Sie schneidet das Brötchen auf und lässt sich bei der Auswahl des Aufschnitts viel Zeit, dabei hat sie eigentlich kaum Auswahl: Es gibt nur gekochten Schinken und Schmierkäse. Frau Schmidt überlegt hin und her, dann entscheidet sie sich dazu, einfach beides zu nehmen, auch wenn es nicht zusammenpasst.
Heute schmeckt alles gut.
Der Minutenzeiger schiebt sich auf die 12 vor und der dunkelbraune Holzkuckuck springt aus der Uhr. Er gibt schon lange kein Geräusch mehr von sich, aber die Federn quietschen. Gedankenverloren stellt Frau Schmidt fest, wie spät es ist. Sie hätte schwören können, dass es gerade noch halb elf war.
„Vielleicht verliere ich ja meinen Verstand“, sagt sie laut in den stillen Raum hinein.
Es ist, als würden der dicke, alte Teppichboden und die Möbel ihrer Stimme alle Kraft rauben, sodass nur ein kleines Piepsen herauskommt. Wie bei einer Maus. Aber mit einem Blick auf die leblosen Beine stellt Frau Schmidt sachlich fest, dass die Zeiten ihres Mausdaseins endgültig gezählt sind. Sie rutscht mit dem Stuhl zurück, tupft ihre blutleeren Lippen mit einer bestickten Stoffserviette ab und steht mit einem Ruck auf. Sie fühlt sich eigenartig beschwingt, als sie um den Tisch herumgeht, um sich den kuriosen Anblick genau einzuprägen.
Da liegt er also.
Seine toten Beine hängen über den Rand der Sitzfläche seines Stuhls, mit dem er, einfach so und urplötzlich, nach hinten übergekippt ist. Sein linker Fuß steckt sogar noch in seinem grauen Filzpantoffel, der andere ist mit der Sohle nach oben unter den Tisch gefallen. Das Brötchen, auf dem Kurt noch vor zwei Stunden herumgekaut hat, ist ihm beim Sturz aus der Hand geglitten. Es liegt neben dem rechten Pantoffel, und zwar mit der beschmierten Seite nach oben. Das freut Frau Schmidt. Die Scheibe gekochter Schinken liegt allerdings auf Kurts Brust. Das sieht ganz besonders eigenartig aus. Man könnte meinen, jemand hätte ihn damit beworfen, und Frau Schmidt hat schon mehrmals darüber nachgedacht, den Schinken zu entfernen, damit niemand auf die Idee kommen könnte, sie habe ihren verstorbenen Mann mit einer Scheibe Fleisch garniert. Sie hätte nicht im Traum daran gedacht, ihn mit irgendetwas zu bewerfen. Schon gar nicht mit Lebensmitteln.
Frau Schmidts Blick fällt auf Kurts starre, graue Hände. Sie liegen neben seinem massigen Oberkörper auf dem Teppichboden, die Handflächen zeigen nach oben. Sie sind rau und schwielig. Frau Schmidt kann sich nicht daran erinnern, dass sie jemals anders ausgesehen haben. Kurt trägt den Ehering am Zeigefinger der rechten Hand, weil er sich das oberste Glied des Ringfingers als junger Mann mit der Säge abgeschnitten hat. Er war Schreiner gewesen. Von ihm stammte der Tisch, an dem sie bis eben zusammen gefrühstückt hatten, und er hatte die vier Esszimmerstühle gefertigt, von denen jetzt einer auf dem Boden liegt. Das Stummelchen seines Ringfingers sieht ganz besonders grau aus und sein Anblick ruft in Frau Schmidt eine kurze, aber heftige Reaktion hervor: Sie holt tief Luft und schluchzt.
So viele Jahre, denkt sie.
Dann versteift sich ihr Nacken und sie kehrt wieder in jene kalte, starre Haltung zurück.
Wie viele Jahre waren es eigentlich wirklich, fragt sie sich und blinzelt.
Schließlich kommt es immer auf die Zählweise an. Zählt man nur die Jahre, in denen man glücklich zusammen gewesen ist? Geht man von dem Tag aus, an dem man einander zum ersten Mal gesehen hat? Oder beginnt die Zeitrechnung einer Beziehung in dem Moment, in dem man begreift, dass man sich verliebt hat? Das wäre schlecht, denkt Frau Schmidt. Verliebt war sie in ihrem ganzen Leben nur ein einziges Mal gewesen. Aber nicht in Kurt.
Kurts jüngerer Bruder hieß Axel.
Axel und Frau Schmidt, deren Nachname damals noch Kohlhaas lautete, waren Nachbarskinder und in demselben Alter. Sie gingen jeden Morgen gemeinsam zur Schule. Unterwegs drückte Frau Schmidt, die von ihren Freundinnen Henni gerufen wurde, Axel immer einen Bleistift in die Hand. Vor der Schule trennten sich ihre Wege: Die Jungs hatten in einem anderen Gebäude Unterricht als die Mädchen und durften auch auf dem Schulhof nicht miteinander spielen. Dafür unterhielten sich Axel und Henni immer auf dem Nachhauseweg. Morgens nicht. Da war Axel immer noch viel zu müde und höchstens in der Lage, nach ein paar Steinchen zu treten. Und dann war da eben noch dieses Bleistiftritual.
Henni hätte ihm den Stift gern geschenkt, aber ihre Mutter achtete sorgsam darauf, dass sie all ihre Schulsachen wieder mit nach Hause brachte. Es war ihr wichtig, dass Henriettchen gut auf Bleistifte, Papier und Hefte aufpasste. Also spitzte Henni den Bleistift jeden Nachmittag, wenn sie ihre Hausaufgaben machte, um ihn am nächsten Morgen Axel zu überlassen. Er schämte und freute sich und verlor nie ein Wort darüber, dass sich Henni um ihn kümmerte.
Sie hatte damals schon das Gefühl, dass er sie nicht wirklich ernst nahm.
Henni war eine gute Schülerin. Das Lernen bereitete ihr Freude und sie brachte gute Noten nach Hause. Bei Axel war das etwas anders. Er erzählte manchmal, wie schwer es ihm fiel, dem Unterricht zu folgen. Ihr war schön öfter aufgefallen, dass Axel gern die Beine baumeln ließ oder mit den Knien auf und ab wippte, wenn sie am Nachmittag auf dem Weidezaun hockten und Grashalme kauten. Das machte Henni immer ganz rasend.
„Wenn der Herr Walter das sieht, guckt er mich auch immer ganz streng an. Dann höre ich sofort auf, aber ein paar Minuten später fangen die Beine einfach wieder an zu wippen. Das ist wie Zauberei“, erklärte Axel grinsend und präsentierte seine große Zahnlücke.
Manchmal erzählte er auch andere Sachen. Zum Beispiel, dass Herr Walter ihn hin und wieder dabei ertappte, wie er stundenlang aus dem Fenster starrte. Der Lehrer ermahnte ihn dann immer und sagte:
„Axel, du Träumer, vom Glotzen wird man nicht schlau.“
„Und was hast du da gemacht?“, fragte Henni ängstlich.
„Na, ich habe mich kerzengerade hingestellt und gesagt: Recht haben Sie, Herr Walter. Und dann hat der Herr Walter geschmunzelt.“
Niemand konnte Axel wirklich böse sein.
Axel konnte gut zeichnen. Er malte gar nichts Bestimmtes, sondern kritzelte mehr so vor sich hin. Manchmal entstanden aus diesen Kritzeleien die abenteuerlichsten Figuren. Sie hatten mehrere Köpfe und konnten Feuer spucken. Einmal saßen sie unten im Heuschober auf dem Boden und Axel malte eine scheußliche Fratze mit funkelnden Augen und einem weit aufgerissenen Maul. Es war ein Höllentier. Henni fuhr zusammen, als sie es sah.
„Axel“, rief sie aus, „das ist ja scheußlich!“
Axel kicherte und enthüllte die riesige Lücke zwischen seinen oberen Schneidezähnen. Dann verstaute er das Blatt Papier, das ihm Hans geliehen hatte, in seiner Tasche.
„Du bist ja ein Angsthase“, kicherte er weiter und Henni ärgerte sich so sehr, wie sie sich noch nie in ihrem ganzen Leben geärgert hatte. Sie zog eine Schnute und drehte den Kopf zur Seite, damit sie Axel nicht mehr angucken musste.
Aber dann hörte sie, wie Axel das Papier wieder auseinanderfaltete und zu kritzeln begann. Die Bleistiftmine fuhr zunächst mit einem ganz leichten Kratzen über das aufgeraute Papier, vollführte jedoch alsbald dem Klang nach die heftigsten Manöver. Henni hörte lange Striche, bei denen der Stift fest aufgedrückt wurde, und dann das leise, flächige Hin- und Herhuschen von Schraffierungen. Sie platzte fast vor Neugier, aber der Stolz war stärker: Sie starrte weiter stur in die andere Richtung.
Schließlich schob Axel das zerknitterte Blatt Papier über den Boden zu Henni hinüber. Als ihr Blick auf das Motiv fiel, blieb ihr der Mund vor Überraschung offen stehen. Sie ergriff das Bild mit beiden Händen und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.
„Das bist du“, flüsterte Axel, aber das war vollkommen überflüssig.
Henni war, als würde sie in einen Spiegel blicken.
Wenn man noch ein kleines Kind ist, kann man durchaus verliebt sein, man weiß bloß nicht, dass man es ist. Henni hatte keinen blassen Schimmer, was mit ihr los war, als sie in den folgenden Tagen abwesend durch die Gegend stolperte, Teller und Tassen beim Abtrocknen fallen ließ und auf dem Weg in den Ort in jede einzelne Pfütze und in jeden Kuhfladen hineintrat, ohne es auch nur zu bemerken. Ihre Mutter machte sich Sorgen:
„Henni“, sagte sie, „du bist doch nicht etwa krank?“
Eine Cousine war viele Jahre zuvor an der Schwindsucht gestorben und Hennis Mutter suchte andauernd bei ihren Kindern nach eventuellen Symptomen. Manchmal erfand sie sie einfach.
Henni zuckte nur die Achseln und blickte ihre Mutter gleichgültig an. Sie kaute lustlos auf einer Scheibe Brot herum, ließ den Kopf hängen oder blickte aus dem Fenster. Ihre Augen hielten sich manchmal an dem alten Apfelbaum mit dem gespalteten Stamm fest, aber sie sah ihn nicht wirklich. Wenn sie zuhause war, hatte sie keine Energie und fühlte sich wie eine leere Hülle ohne Kern.
Sie lebte für die kurzen Momente, in denen sie mit Axel allein war.
Als Axel und Henni 13 Jahre alt waren, schrieb er ihr den ersten und einzigen Liebesbrief ihres Lebens. Er bestand aus zwei Sätzen und lautete wie folgt:
„Ich bin so froh, dass es dich gibt. Alles andere ist schlimm, aber wenn du da bist, ist nichts mehr schlimm.“
Axel war kein Dichter, aber wenn Frau Schmidt sich seinen Brief ansieht, kommen ihr heute noch die Tränen.
Das Einzige, was Frau Schmidt von ihrer ersten Begegnung mit Kurt noch in Erinnerung geblieben ist, ist sein Geruch: Kurts Arme rochen warm und erdig. Erst später verstand sie, dass ihm der Duft nach Holz und Sägespänen angehaftet hatte, weil er gerade aus der Werkstatt gekommen war.
Kurt war sieben Jahre älter als Axel. Er war ein Baum von einem Mann und hatte ein großes, rotes Gesicht mit dicken Backen und vollen Lippen. Er war nicht hässlich, aber auch nicht schön. Henni fand, dass er gesund aussah und irgendwie zum Anbeißen, fast so wie ein Apfel. Das taten damals nicht viele junge Männer.
Dass sie die Gelegenheit hatte, an Kurts Armen zu riechen, war einem dummen Missgeschick geschuldet: Henni stürzte nämlich mit dem Rad. Genau genommen stürzte sie mit Axels Rad. Und Axel schüttete sich aus vor Lachen, während Henni unter dem Rahmen im Matsch lag und sich nicht rühren konnte. Ein stechender Schmerz machte sich in ihrer Hüfte breit.
Irgendwann konnte sie ihre Lunge mit ausreichend Luft füllen, um zu schreien:
„Axel, hilf mir!“
Axels Lachen schien plötzlich wie festgefroren. Er hielt mitten in der Bewegung inne und erstarrte für einen winzigen Augenblick. Dann eilte er zu ihr und sie konnte sehen, dass er Angst hatte.
Henni hatte ihm ihr Taschengeld für den nächsten Monat angeboten, falls er ihr beibringen würde, wie sie auf dem Rad das Gleichgewicht halten konnte. Jetzt lag sie also da und konnte sich nicht mehr rühren.
„Was ist denn mit dir?“, rief Axel aufgelöst, nachdem er das Rad von Hennis Körper weggezogen hatte.
Seine großen, blauen Augen waren weit aufgerissen und sein dürrer Hühnerhals war mit roten Flecken übersät.
„Ich kann meine Beine nicht mehr spüren“, antwortete Henni kläglich.
Von der Hüfte abwärts hatte sie keinerlei Gefühl mehr in den Beinen.
„Hol Hilfe, Axel!“, rief sie dann und Axel stürmte wie von Sinnen los.
Es dauerte nicht lang, da ertönten schwere Schritte, begleitet von dem hektischen Tapsen blanker Fußsohlen. Im Sommer trug Axel fast nie Schuhe.
„Ich hab nix gemacht, ehrlich!“, beteuerte Axel aufgelöst.
Sein Bruder Kurt antwortete mit einem wenig überzeugten Brummen. Er kniete neben Henni nieder und sie blickte in sein großes rotes Gesicht.
„Du spürst die Beine nicht mehr?“, fragte der große Mann.
Natürlich war er mit seinen 21 Jahren eigentlich noch jung, aber Henni kam er steinalt vor. Seine Haut war großporig und verschwitzt und auf der Nase hatte er eine ganze Reihe Mitesser. Seine Statur erinnerte sie an ihren Vater und an ihren Onkel und sie traute sich nicht, ihren Mund aufzumachen, weil sie so viel Respekt vor ihm hatte. Deshalb nickte sie nur schwach.
Kurt schien kurz zu überlegen, dann seufzte er.
„Dann werde ich dich wohl zum Doktor tragen müssen.“
Er hob Henni auf, als wenn sie eine Feder wäre. Auf dem gesamten Weg bis zum Haus des Doktors sagten weder er noch sie noch Axel auch nur ein einziges Wort.
Axel starb an einem sonnigen Sonntagmorgen. Es war ein fürchterlicher Unfall. Er war deshalb so fürchterlich, weil es keinen Schuldigen gab. Man konnte niemanden verantwortlich machen und auf niemanden außer dem lieben Gott wütend sein. In der Nacht zuvor hatte ein Gewitter getobt und eine kräftige Windböe hatte ein paar Schindeln vom Dach gerissen. Da Axel ein Fliegengewicht und sehr behände war, hatte er sich sofort bereiterklärt, aufs Dach zu klettern und neue Schindeln aufzulegen. Kurt erzählte Henni später, dass er ihm noch zugerufen hatte, gut aufzupassen. Die Dachpfannen waren nass. Viele von ihnen waren schon sehr alt und mit glitschigem Moos überzogen. Axel hatte Kurt bloß zugegrinst und bemerkt, dass er ein ziemlicher Hosenscheißer wäre, und sie hatten gelacht, als Axels dürre, schmutzige Finger plötzlich den Halt verloren. Er hatte nicht einmal geschrien, als er hintenüber vom Dach stürzte und reglos auf dem Rücken liegen blieb. Das gespenstische Knacken, meinte Kurt, würde er niemals vergessen.
Die Beerdigung war so, wie alle Beerdigungen von Kindern waren: unendlich traurig und in einer Hoffnungslosigkeit getränkt, die einen in die Tiefe zieht. Axels und Kurts Mutter hatte einen Nervenzusammenbruch am Grab und es regnete in Strömen, als der Sarg in das Loch in der Erde hinabgelassen wurde. Als Henni eine Handvoll Matsch auf den kleinen Sarg fallen ließ, den Kurt für seinen Bruder gezimmert hatte, schwor sie sich, nie wieder jemanden zu lieben.
Henni hatte immer gewusst, dass sie Axel einmal heiraten würde. Sie hatte es gewusst. Sie hatte gewusst, dass er Maler und sie Krankenschwester werden würde. Sie hatte gewusst, dass sie drei Kinder haben würden, zwei Jungs mit blondem und ein Mädchen mit schokobraunem Haar, genau wie der Vater. Henni hatte gewusst, dass Axel mit seinen Kindern Fußball und Fangen gespielt und ihnen das Radfahren und vielleicht sogar das Schwimmen beigebracht hätte.
Sie saß auf der Bank neben dem frisch aufgeworfenen Grab und musste weinen.
Wenn ihr der liebe Gott damals das Gefühl in den Beinen für immer genommen hätte, vielleicht hätte er Axel ja verschont?
Sie betrachtete ihre aufgeschürften Knie unter dem grauen Wollrock und ließ sie hin und her baumeln, so wie Axel es immer getan hatte. Dann beschloss sie, keine Krankenschwester zu werden und auch keine Kinder zu bekommen.
Kurt war eine Notlösung. Auch das hatte Frau Schmidt immer gewusst. Das hatte sie ihm sogar gesagt, als er um ihre Hand anhielt. Kurt hatte daraufhin einen Moment lang gedankenverloren zur Seite geblickt, und Frau Schmidt war bewusst geworden, wie fehl am Platz er wirkte, wie wenig es zu ihm passte, dass er sich vor einer Frau auf ein Knie niederließ und versuchte, den Konventionen zu entsprechen. Dann hatte er gefragt:
„Willst du mich trotzdem heiraten?“
Und Frau Schmidt hatte gesagt:
„Also gut.“
Auf dem Standesamt wurde aus dem „Also gut“ ein leises „Ja“.
Kurt fragte nicht einmal danach, ob Frau Schmidt gern Kinder hätte. Er ging morgens in die Werkstatt und kam erst spät abends wieder. Er verdiente ganz gut, ließ Frau Schmidt weitestgehend in Ruhe und willigte ein, als sie ihn darum bat, mit ihr in die Stadt zu ziehen. Frau Schmidt arbeitete erst in einer Buchhandlung und später in der städtischen Bücherei. Einmal im Monat fuhren sie und Kurt gemeinsam aufs Land, um Kurts Mutter zu besuchen und ein Lämpchen auf Axels Grab anzuzünden. Der Friedhof war der einzige Ort, an dem sich Frau Schmidt ihrem Mann ein wenig nah fühlte. Manchmal saßen sie nebeneinander auf der Bank, auf der sich Frau Schmidt damals geschworen hatte, keine Kinder zu bekommen, manchmal standen sie Seite an Seite vor der Grabstelle, aber wenn sie auf dem Friedhof waren, berührten sie sich nie. Es war so, als bestünde zwischen ihnen ein stillschweigendes Abkommen.
Frau Schmidt vergaß den 10. Hochzeitstag, Kurt den 20. Sie vereinbarten, dass sie ein großes Fest feiern wollten, falls sie beide an den 25. Hochzeitstag denken würden. Als der große Tag schließlich gekommen war, hatte Frau Schmidt keine Lust auf ein Fest und sagte deshalb nichts. Sie hatte das Gefühl, dass es Kurt ganz ähnlich ging.
1994 war das Jahr, in dem Kurt wegen seiner Rückenprobleme in Frührente gehen musste und Frau Schmidt ihren Ehering verlor. Eines Morgens stellte sie fest, dass er nicht mehr an ihrem Finger steckte und auch nicht auf seinem angestammten Platz auf der Badezimmerkonsole lag. Sie konnte sich aber auch nicht daran erinnern, ihn abgestreift zu haben. Bei der Suche gab sie sich nicht allzu viel Mühe. Nach ein paar Minuten zuckte sie die Achseln und gab auf. Kurt schien es nicht zu bemerken. Er sagte jedenfalls nichts.
Ein paar Monate später kam Frau Schmidt von der Arbeit und merkte sofort, dass irgendetwas nicht stimmte. Sie schob die Tür auf, stutzte und überlegte einen Moment lang, dass sie sich in der Etage geirrt haben musste. Dann warf sie einen Blick auf den Schlüssel in ihrer Handfläche. Damit hatte sie ganz ohne Zweifel gerade das Schloss geöffnet und vor ihr lag ganz ohne Zweifel der Flur, in dem sich seit nunmehr 23 Jahren kaum etwas verändert hatte.
„Kurt? Bist du da?“, rief Frau Schmidt.
Er hatte direkt hinter der Tür gestanden.
Als er sich so plötzlich vor ihr aufbaute, fuhr Frau Schmidt in sich zusammen.
„Großer Gott, hast du mich erschreckt!“
Es war schon eine Weile her, dass sie ihn so bewusst wahrgenommen hatte. Sie hatte beinahe vergessen, was für ein beeindruckend großer Mann er war. Diesen Gesichtsausdruck kannte sie allerdings noch nicht. Kurts Körper und Haltung hatten sich in den letzten zehn, zwölf Jahren kaum verändert, aber sein Gesicht sah mit einem Mal ganz fremd aus. Die Haut wirkte eigenartig fahl und grau und sein Mund war blutleer. Frau Schmidt kniff die Augen zusammen.
„Was ist los mit dir?“, fragte sie, „Geht es dir nicht gut?“
„Ich habe sie gefunden“, antwortete Kurt schlicht.
Frau Schmidt wusste wirklich nicht, wovon er sprach.
„Was hast du gefunden?“, fragte sie verwirrt.
„Ich werde es dir zeigen.“
Kurt machte auf dem Absatz kehrt und schlurfte durch den Flur ins Wohnzimmer. So alt hatte er noch nie gewirkt: Jeder Schritt schien ihm schwer zu fallen. Frau Schmidt folgte ihm zögernd.
Was hatte er gefunden?
Kurt machte nur zwei oder drei Schritte in den Raum hinein und blieb dann breitbeinig stehen. Er deutete mit einem ausgestreckten Arm auf den Esszimmertisch. Dort lag eine ganze Reihe von Büchern. Frau Schmidt begriff noch immer nicht. Erst, als sie näher an den Tisch herantrat, verstand sie, was Kurt gefunden hatte.
„Warum hast du meine Kalender aus dem Schrank genommen“, fragte Frau Schmidt kalt, „An dem Schrank hast du nichts zu suchen.“
„Nein, habe ich nicht. Und ich bin trotzdem dran gewesen“, erwiderte Kurt ebenso kalt.
Frau Schmidt setzte sich auf einen der Esszimmerstühle und betrachtete die verschiedenen Bücherstapel, manche hoch, manche niedriger. Da lagen bestimmt 35 Jahreskalender, die allesamt unterschiedlich aussehen. Manche waren in Leder gebunden, andere waren mit selbst gebastelten Umschlägen versehen, auf denen Bienen, Blumen oder berühmte Gesichter abgebildet waren. Da war z. B. eine Schwarzweißaufnahme von Cary Grant. Das war 1959 oder 1960, schätzte Frau Schmidt. Sie hatte „Der unsichtbare Dritte“ geliebt. Der Kalender mit den Sonnenblumen war aus den 70ern. Sie zog einen Kalender mit einem roten Einband, der fast vor ihrer Nase lag, an sich heran. Auf der ersten Seite prangte eine große „1978“. Sie schlug das Büchlein auf und warf einen Blick auf den ersten Eintrag:
„1.1.1978. Prosit Neujahr! Sind bei den Nachbarn gewesen. Ich mag sie nicht besonders, aber sie haben ein kleines Restaurant und Kurt bekommt manchmal Aufträge von ihnen. Hier mal einen Stuhl reparieren, da ein kaputtes Tischbein auswechseln. Wir haben uns über den Tod von Charlie Chaplin unterhalten. Ich hatte den ganzen Abend Bauchweh.“
Frau Schmidt blätterte weiter.
„13.3.1978. Ich habe „Deutschland im Herbst“ angeschaut. Kurt hatte keine Lust.“
Frau Schmidt blätterte erneut weiter.
„26.9.1978. Ich habe an dich denken müssen. Aber ich denke ja immer an dich.“
Frau Schmidt klappte den Kalender zu und starrte einen Moment lang auf ihre Finger. Sie waren knochig und mit einer papierdünnen, aber weichen Haut überzogen. Auf den Nägeln hatten sich in den letzten zwei Jahren immer mehr Rillen gebildet. Vielleicht halfen Vitamine?
Du schweifst ab, ermahnte sich Frau Schmidt.
Sie drehte sich auf dem Stuhl leicht zur Seite und sah, dass Kurt jetzt direkt hinter ihr war. Er rührte sich nicht. Er stand einfach nur da, wie versteinert.
„Was hast du da bloß gemacht?“, wollte Frau Schmidt wissen und warf Kurt einen misstrauischen Blick zu.
Kurts Stimme klang heiser, so, als hätte er den ganzen Tag über geschrien. Ruhig erklärte er:
„Zunächst habe ich mich auf die Suche nach deinem Ehering gemacht. Tja, da guckst du, was? Du denkst natürlich, ich hätte es nicht gemerkt, du denkst ja immer, ich würde nichts merken. Es tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, liebe Henriette. Du hast keinen Volltrottel geheiratet. Glaub es oder glaub es nicht, ich habe auch Gefühle und im Gegensatz zu dir liegt mir etwas an unserer Ehe.“
Kurt begann, hinter Frau Schmidts Rücken schnell auf und ab zu gehen. Sie drehte sich wieder um und betrachtete die Kalender auf dem Tisch vor ihr. Lauter Mini-Tagebücher. Ein ganzes Leben, in wenigen Sätzen zusammengefasst.
Mein Leben, dachte Frau Schmidt und hatte mit einem Mal das Bedürfnis, die Bücher in ihren Armen zu sammeln und aus diesem Zimmer zu tragen, damit ihr Mann, der sich wie ein Verrückter aufführte, sie nicht in seine Finger bekäme. Aber natürlich hatte er das schon längst getan.
„Du hast nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich nicht deine erste Wahl war. Und ich gebe gern zu, dass ich dich nur genommen habe, weil es keine Alternativen gab. Aber ich hätte doch ein bisschen mehr Respekt von dir erwartet“, ereiferte sich Kurt.
„Du blätterst durch meine Tagebücher und erzählst mir etwas von mangelndem Respekt?“, entfuhr es Frau Schmidt und sie warf ihm einen bitterbösen Blick über die Schulter hinweg zu.
Kurt ließ sich nicht beirren.
„Du verhöhnst und verspottest mich. Schon ein ganzes Leben lang.“
„Was ist überhaupt in dich gefahren?“, schrie Frau Schmidt und erhob sich so schnell und unkontrolliert, dass ihr Stuhl umkippte.
„Schlag den 10. Juli auf. In jedem einzelnen Band. Da steht es Schwarz auf Weiß. Da steht, dass du mich betrügst. Und dich selbst betrügst du noch viel länger. Fast dein ganzes Leben lang.“
Frau Schmidt konnte nicht aufhören, Kurt voller Zorn und Abscheu anzublicken. Sie musste die Einträge in den Kalendern nicht nachlesen. Sie wusste nur allzu gut, was dort stand.
In den ersten Jahren hatte sie Sätze wie „Es geht nicht ohne dich“ geschrieben, dann: „Es wird einfach nicht besser“ und schließlich: „Ich will niemand anderen lieben“. Der 10.7.1957 war der schlimmste Tag in Frau Schmidts Leben gewesen. An diesem Tag hatte es laut geknackt, ein Genick war entzwei gebrochen wie ein kleiner Hühnerknochen und mit ihm waren all ihre Träume gestorben, die romantischen Vorstellungen von der Zukunft eines 14-jährigen Mädchens, das sich Liebe wünschte. Einfach so. Manchmal dauerte es nur einen Wimpernschlag und schon war ein komplettes Leben kaputt.
Frau Schmidts Mund war trocken.
„Ich dachte, zwischen uns beiden hätte es eine Art Abkommen gegeben“, bemerkte sie tonlos.
„Ein Abkommen? Was denn für ein Abkommen? Du hast nie mit mir geredet, nie!“
Jetzt brüllte Kurt.
„All die Jahre habe ich gegen einen Geist angekämpft! Natürlich kann ich es nicht mit einem Geist aufnehmen. Ich habe gedacht, du würdest schon irgendwann drüber hinwegkommen. Und dann wirfst du den Ehering fort und ich finde das da!“
Kurt zeigte erneut auf die Kalender auf dem Esstisch.
Frau Schmidt entgegnete:
„Ich habe ihn nicht weggeworfen, ich habe ihn verloren.“
„Du glaubst doch wohl nicht ernsthaft, dass das besser ist, oder?“, schrie Kurt.
Frau Schmidt verstummte. Er hatte recht. Eigentlich war es sogar noch schlimmer.
„Und was machen wir jetzt?“
Kurt hob den umgefallenen Stuhl vom Boden auf und ging in den Flur hinaus, ohne Frau Schmidt anzusehen.
„Nichts“, rief er im Hinausgehen, „genau wie all die Jahre zuvor.“
Die Wohnungstür fiel mit einem lauten Knall ins Schloss.
Es dauerte eine Weile, bis Frau Schmidt wieder klar denken konnte. Zuerst hatte sie nur ein hohes Piepen in ihrem linken Ohr vernommen und gedacht, dass sie jeden Moment einen Hörsturz oder etwas Ähnliches erleiden würde. Aber nichts dergleichen geschah. Das Piepen wurde langsam leiser und verschwand schließlich ganz. Dann hatte sie sich einfach nur noch fürchterlich einsam gefühlt.
Frau Schmidt setzte sich wieder an den Tisch. Mit müden Augen suchte sie nach einem ganz bestimmten Einband. Es dauerte nicht lang, da hatte sie das blau-weiß gestreifte Büchlein gefunden. Es lag versteckt hinter zwei anderen Kalenderstapeln, aber Frau Schmidt war sich sicher, dass Kurt diesen Band in den Händen gehalten und aufgeschlagen hatte. Auf der ersten Seite stand in großer schnörkeliger Schrift die Jahreszahl 1957.
Mit zitternden Händen suchte Frau Schmidt den 10. Juli. Als sie die richtige Stelle gefunden hatte, löste sich ein zerknittertes Blatt Papier aus den Seiten und fiel auf die Tischdecke. Frau Schmidt stockte der Atem.
„Das Bild, das Bild, das Bild!“, schrie es in ihrem Kopf.
Wie hatte sie das nur vergessen können! Sie schluchzte schon, bevor sie das Blatt auseinander gefaltet hatte.
Das war ganz sicher nicht mehr ihr Ebenbild.
Als Kurt zurückkehrte, hatte Frau Schmidt die Kalender wieder zusammengesammelt und in ihrem Schrank verstaut. Sie hatte ihn anschließend abgeschlossen und ein anderes Versteck für den Schlüssel gefunden. Sie hatte eine neue Tischdecke aufgelegt, gesaugt und Rinderfilets aus dem Kühlschrank geholt. Sie hatte Kartoffeln geschält und einen Salatkopf gewaschen. Nichts würde geschehen, hatte er gesagt. Dann konnte sie auch so tun, als wenn nichts geschehen wäre. Alles würde so weitergehen wie bisher.
Umso mehr wunderte sie sich über Kurts Frage. Er kam in die Küche und sah abgekämpft aus. Beinahe hätte Frau Schmidt ihn gefragt, ob er ein Stück gerannt war, dabei wusste sie ja, dass er das mit seinem Rücken gar nicht mehr konnte.
Kurt strich sich eine verschwitzte, graue Haarsträhne aus dem Gesicht und fragte:
„Willst du dich scheiden lassen?“
Frau Schmidt sah Kurt nicht an, als sie antwortete. Sie setzte einen Kessel mit Wasser auf die Schnellkochplatte und stellte die höchste Hitzestufe ein.
„Nein. Willst du das?“
„Nein“, antwortete er bestimmt.
„Bis dass der Tod uns scheidet“, sagte Frau Schmidt und wischte ihre Hände an der Schürze ab.
„Ja, genau so“, bekräftigte Kurt.
Und jetzt ist es also soweit, denkt Frau Schmidt.
Sie hat sich wieder auf den Stuhl gesetzt und betrachtet das aufgeschnittene Brötchen auf ihrem Teller. Sie hat zuerst den Schmierkäse auf den Hälften verteilt und dann den Schinken darauf gelegt. Nach zwei Bissen hat sie die eine Hälfte aber bereits wieder auf den Teller getan. Heute schmeckt doch nicht alles gut.
Sie wirft einen Blick auf die Kuckucksuhr.
Oh oh, denkt sie, jetzt wird es wirklich Zeit.
Sie steht auf und klopft sich die Krümel vom Rock. Dabei fällt ihr Blick auf ihre dünnen Beine, die mittlerweile von hässlichen Krampfadern durchzogen sind. Dann geht sie langsam um den Tisch herum in den Flur, ohne einen weiteren Blick auf die Leiche zu werfen.