Читать книгу Woodwalkers & Friends (2). Zwölf Geheimnisse - Katja Brandis - Страница 11

Zirkuswolf Bo, Wolf Die Geschichte spielt im April vor Carags Ankunft an der Clearwater High.

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Zwei Dollar, mehr Geld hatte er nicht in den Taschen. Das reichte für ein Busticket, das ihn ein kleines Stückchen näher an New York und ans Berühmtwerden als Stand-up-Comedian heranbringen würde. Oder für eine Portion Pommes in diesem Fast-Food-Schuppen da vorne. Schon beim Gedanken daran erklang in Bos Körpermitte ein Knurren, das ein bisschen nach schlecht gelauntem Wolf klang.

Die Pommes gewannen.

Fünf Minuten später wärmte sich Bo dankbar die Hände an der fettigen Packung und schob sich eins der Stäbchen nach dem anderen in den Mund. Im Waisenhaus hatte es auch ab und zu Pommes gegeben, doch die waren graugelb und labbrig gewesen. Wahrscheinlich hatten sie die Dinger aus gepressten Kartoffelschalen hergestellt, denen mit Bleichmittel-Resten aus Friseursalons die passende Farbe verpasst wurde.

»Scheußlicher kalter Tag, was?«, meinte der junge Mann mit den kartoffelfarbenen Haaren, der am Tisch neben ihm saß. Er trug einen schicken dunklen Mantel und teure Lederstiefel.

»Ja, und ausgerechnet heute habe ich Geburtstag«, brummte Bo. Keine Ahnung, warum er das verraten hatte, er kannte den Typ doch gar nicht.

»Ernsthaft? Wie cool. Weißt du, was, ich schenk dir hundert Dollar!« Der junge Mann begann, in seinen Taschen zu kramen.

Bo blickte hoch, und einen Moment lang schlug sein Herz schneller. Doch natürlich brach der Kerl gleich darauf in Gelächter aus. »April, April! Das ist echt witzig, dass du ausgerechnet am 1. April geboren worden bist, Kleiner.«

»Meine Eltern fanden das nicht witzig – dass ich überhaupt geboren worden bin, meine ich«, sagte Bo, und bevor er es verhindern konnte, zogen sich seine Lippen hoch, und ein Knurren vibrierte durch seine Brust. Seit er im Waisenhaus diesen Dorian getroffen hatte – eine Katze, aber kein übler Typ –, wusste er, warum ihm so etwas immer wieder passierte.

Erschrocken wich der junge Mann zurück. »Ähm, na ja. Warte … hier …« Er warf einen Fünf-Dollar-Schein vor Bo auf den Tisch, nahm sein Tablett und ging mit einem »Muss los!« eilig davon.

Sofort verzieh Bo dem Kerl seinen schlechten Witz. Von fünf Dollar konnte er sich einen ganzen Burger kaufen!

Doch daraus wurde nichts, denn als er dem Typen nachsah, fiel sein Blick auf ein Plakat. Eine so fiese Sehnsucht durchfuhr Bo, dass sein Herz sich anfühlte, als würde gerade ein Elefant drauftreten. Und zwar genau der Elefant dort auf dem Zirkusplakat, neben dem ein rot geschminkter Clown seine Faxen aufführte.

Natürlich war es nicht der Zirkus, mit dem seine Eltern damals herumgezogen waren. Aber egal. Kurz darauf stand Bo vor der Kasse, streckte der Kassiererin seinen Geldschein entgegen und suchte sich im rot-weiß gestreiften Zelt einen Platz ganz vorne an der Bande.

Neben ihm ließ sich eine Frau mit zwei kleinen Kindern nieder, einem Jungen und einem Mädchen, beide höchstens fünf und drei Jahre alt. Bo schaute aus dem Augenwinkel rüber zu ihnen und wurde sofort neidisch. Wie unbeschwert die aussahen, während sie an ihrer Zuckerwatte knabberten und Popcorn abwechselnd in ihren Mund und in die Manege warfen. Er hatte mit fünf schon jeden Tag die Ställe der zehn Zirkuspferde ausmisten müssen, während seine Eltern für ihre Auftritte probten.

Es war mitten in der Woche, und die Zuschauertribüne war nur halb gefüllt, als die Vorstellung begann. Bo wollte einfach nur die Show genießen und vergessen, dass sein Magen noch immer vor Hunger rumpelte und ihm kalt war. Aber es ging nicht. Ihm fiel auf, dass an den Kostümen der Hochseilartistin Pailletten fehlten, dass der Messerwerfer so alt und zittrig war, dass die junge Dame an der Zielscheibe echte Angst hatte, und dass die Araberhengste nicht ordentlich gestriegelt waren. Warum nur hatte er das Ticket genommen und nicht den Burger?

»Schau mal, Mama!«, jubelten die Kinder neben ihm, die das alles natürlich nicht checkten. Bo hätte ein oder zwei Finger geopfert, um von ihrer Zuckerwatte probieren zu dürfen.

Bei der nächsten Nummer fiel ihm auf, dass der peitschenschwingende Zirkusdirektor eine rote, mit geplatzten Adern übersäte Nase hatte, die lautlos eine Geschichte über seine besten Freunde Whisky, Gin und Wodka erzählte. Bo dachte sich gerade eine Story darüber aus, wie der Mann zum Trinker geworden war, als er das kleine Mädchen quengeln hörte: »Mama, wann kommt der Fant?«

»Bestimmt bald, Annie«, kam es zur Antwort.

Bo war nicht mal sicher, ob diese lahme Truppe wirklich einen Elefanten hatte. »Sein« Zirkus hatte damals die aus Indien stammende Kadira besessen, mit der er sich angefreundet hatte und durch die er halbwegs fließend Elefantensprache gelernt hatte. Aber Dickhäuter waren teuer und nicht leicht zu halten, weil …

»Juchhu, da ist er!«, jubelte das Mädchen. Tatsächlich, ein mit glitzernden Decken dekorierter Elefantenbulle mit armlangen Stoßzähnen schritt herein. Auf seinem Nacken hockte eine hübsche Frau, die nach allen Seiten lächelte und Kusshände warf, während sie das Tier eine Runde durch die Manege laufen ließ.

Bo sah sofort, dass der Bulle schlechte Laune hatte. Vielleicht hatte seine Dompteurin irgendetwas getan, das ihm nicht gefallen hatte, vielleicht war sein Frühstücksheu nicht frisch gewesen oder jemand hatte ihn zu eng angebunden, sodass er sich den Fuß wund gescheuert hatte. Egal. Jedenfalls beachtete der Bulle es nun nicht mehr, dass seine Dompteurin ihm irgendetwas befahl. Er stieß ein tiefes Brummen aus, das in Bos Magen vibrierte, und marschierte zur Bande. In Richtung der Zuschauer.

»Der Fant, der Fant!« Annie strahlte. Auch dann noch, als das riesige Tier ihr die Popcorntüte entriss, den Rüssel darum ringelte und sich den restlichen Inhalt der Tüte ins Maul schüttete. Ihr Bruder kam auf die Idee, ihm seine halb gegessene Zuckerwatte zu reichen, und der Elefant fraß sie – inklusive Stöckchen natürlich.

Dass die Dompteurin mit ihm schimpfte und versuchte, ihn zurückzulenken in die Mitte der Manege, ignorierte der Elefant. Er flappte nur gereizt mit den Ohren … und ringelte den Rüssel wie eine Riesenschlange um die Körpermitte der kleinen Annie.

Annie war begeistert. Ihre Mutter nicht. »Nein-nein-stopp! Gib sofort mein Kind her!«, brüllte sie den Bullen an, der ihre johlende Tochter hochhob und durch die Luft schwenkte, sodass ihr Rüschenkleidchen sich bauschte. Ein erschrockener Aufschrei ging durchs Zelt, ein paar Zuschauer sprangen auf. Doch niemand tat etwas Konkreteres, als das Handy zu zücken und entweder alles zu filmen oder vielleicht Cops und Feuerwehr anzurufen.

Atemlos beobachtete Bo den Elefanten mit dem Mädchen, er erkannte eine gefährliche Situation, wenn er eine sah. Sollte er etwas tun, konnte er etwas tun? Es war manchmal so schwer, sich zu entscheiden.

»Maximus, ab!«, kommandierte die Dompteurin verzweifelt und schlug dem Bullen mit der Faust auf den Kopf. Unbeeindruckt wölbte Maximus den Rüssel und ließ Annie noch höher fliegen. Mit großen Augen und offenem Mund beobachtete es ihr Bruder.

Im Zirkuszelt war es inzwischen totenstill geworden – hielten alle anderen Zuschauer auch den Atem an?

Dem Zirkusdirektor quollen vor Angst fast die Augen aus dem Kopf. Wahrscheinlich sah er schon eine Multimillionen-Dollar-Klage auf sich zukommen. Er schwenkte seine Peitsche und ließ sie vor dem gewaltigen Tier knallen. »Maximus, was soll das? Du parierst, und zwar jetzt sofort!«

Der Elefant wandte ihm den Hintern zu und pupste ihm ins Gesicht. Dann legte er sich auf die Seite, um die Dompteurin von seinem Rücken zu kegeln, was auch problemlos klappte. Maximus kam wieder auf die säulengroßen grauen Beine und trabte mit gespreizten Ohren und erhobenem Rüssel durch die Manege – noch immer inklusive Annie. Ihre Mutter bekam einen Schreikrampf.

Instinktiv handelte Bo. Hastig stand er auf, zog seine Schuhe aus und warf sie beiseite. Zum Glück hing das Hochseil noch. Ein wütender Elefant war locker imstande, einen Menschen, der sich ihm in den Weg stellte, zu zermatschen, deshalb hangelte Bo sich an einem der Haltemasten hoch. Schon stand er in Socken auf dem straff gespannten Stahlseil, das ihm in die Fußsohlen schnitt, und lief es entlang, um näher an den Elefanten heranzukommen. Das immerhin hatte ihm seine Mutter beigebracht, bevor sie entschieden hatte, dass er nicht genug Talent für eine Hochseilkarriere hatte.

Ein erstauntes Raunen lief durchs Publikum.

Immerhin, der Elefant schaute zu ihm hoch, er war neugierig geworden und blieb stehen. Als Bo nah genug an ihm dran war, hockte er sich aufs Seil und versuchte, sich an die Sprache zu erinnern, die er vor so vielen Jahren gelernt hatte. Tiefe Brummtöne vibrierten durch seine Brust wie zuvor das Knurren.

»Hi, Maximus«, begann Bo und hoffte, dass er keinen zu schlimmen Akzent hatte. »Na, macht’s Spaß?«

»Nenn mich nicht bei diesem dummen Namen, ich heiße Ganesha«, erwiderte der Elefant. »Muss ich es mir noch länger bieten lassen, dass ich hier von dreisten Zwergen herumkommandiert werde?«

Bo hatte die dumpfe Ahnung, dass es nicht gut ankommen würde, wenn er »Sieht fast so aus« sagen würde. »Kann sein, aber ist die Arbeit wirklich so anstrengend?«, antwortete er ausweichend.

Maximus stieß dem Zirkusdirektor mit einer riesigen Schulter die Peitsche aus der Hand und trat darauf, was ihr nicht gut bekam. »Das hier ist keine ernsthafte Arbeit. In einem fernen Land habe ich geholfen, Baumstämme aus dem Wald zu heben. Das ist Arbeit!«

»Ach, und weil du hier zu wenig zu heben hast, schwenkst du Kinder durch die Gegend?«

»Wer bist du, dass du so dreist mit mir redest?«, grollte sein Gegenüber, und Bo wurde klar, dass er den falschen Ton angeschlagen hatte.

»Entschuldige, Ganesha, ich wollte nicht unverschämt sein«, sagte Bo und verbeugte sich, so gut das auf dem Seil ging. »Ich wollte dich nur darauf hinweisen, dass es deiner und deiner Herde nicht würdig ist, dass du Menschen in Angst versetzt.«

»Meiner Herde? Meine Herde ist noch an jenem fernen, fernen Ort, und ich bin allein hier. Allein!« Das gellende Trompeten, das der Elefant ausstieß, klang wie ein Klageschrei.

»Das tut mir furchtbar leid«, sagte Bo, und er meinte jedes Wort ernst. So oft hatte er sich nach einem Rudel gesehnt – ob er jemals eins finden würde? »Es muss schwer sein.«


Ganesha alias Maximus hatte den Rüssel mit Annie etwas sinken lassen, seine Ohren waren nicht mehr aggressiv gespreizt, sondern fächelten nur noch.

»Wer bist du?«, fragte er.

»Leute wie mich nennt man anscheinend Woodwalker, ich hab’s auch erst vor Kurzem erfahren«, erwiderte Bo und behielt Annie im Auge. Sie sah aus, als würde sie nun doch gerne wieder auf den Boden zurückkehren, aber noch weinte sie nicht. Das übernahm stattdessen der Rest ihrer Familie. »In zweiter Gestalt bin ich ein Wolf.«

Der Elefantenbulle stieß ein Brummen des Erstaunens aus und kam näher, um seine Witterung aufzunehmen. »Stimmt, du riechst so ähnlich wie ein Hund.«

Leider war es ziemlich lange her, dass Bo zuletzt über ein Seil gelaufen war. Fit war er auch nicht. Er spürte, wie das Seil unter ihm zu zittern begann, es sich in kleine seitliche Bewegungen hineinschaukelte, weil seine Balance nicht gut genug war. Rasch richtete Bo sich auf, er versuchte, wieder einen festen Stand zu finden, und wünschte sich verzweifelt eine Stange. Er durfte keinen Mist bauen, hier gab es kein Netz!

Dann verlor er das Gleichgewicht.

Ein Aufschrei ging durchs Zelt.

Erschrocken streckte Bo die Hände aus, um noch im Fallen das Seil zu erwischen. Seine Finger streiften über Metall, griffen zu. Mit aller Kraft klammerte er sich an dem Stahlkabel fest und versuchte, sich daran hochzuziehen, sich wieder daraufzustellen. Doch seine Muskeln hielten das für eine Zumutung und weigerten sich.

»Moment«, sagte Ganesha und setzte das kleine Mädchen auf der Bande ab. Dann stellte er sich auf die Hinterbeine, streckte den Rüssel und pflückte Bo vom Seil wie eine etwas überreife Pflaume.

Behutsam beförderte er ihn auf den Boden, wo Bo in den Sand der Manege sackte, weil seine Beine zu weich waren, um ihn zu tragen. Irritiert ergriff ihn Ganesha noch einmal und versuchte, ihn aufrecht hinzustellen. Diesmal klappte es.

»Kannst du den Leuten hier bitte sagen, dass sie aufhören sollen, mich nachts anzuketten? Das war heute mal wieder extrem unangenehm«, sagte Ganesha. Dabei warf er einen kurzen, freundlichen Blick auf Annie, die fast in der Umarmung ihrer Mutter verschwand.

»Mach ich«, sagte Bo, strich über Ganeshas Rüssel und blickte ihm in die dunklen Augen. Ein letztes Mal verbeugte er sich vor dem Riesen. Dann kletterte er zurück zu den Zuschauertribünen, während Ganesha sich von seiner Betreuerin friedlich aus dem Zelt führen ließ.

Mehrere Leute konkurrierten darum, Bo zu umarmen. Der Zirkusdirektor gewann mit knappem Vorsprung. »Junge, du bist wahnsinnig – aber ich danke dir! Wo in aller Welt hast du das gelernt? Du bist ein Zirkusjunge, stimmt’s?«

»War ich früher mal«, meinte Bo verlegen und schaffte es knapp, Ganeshas Botschaft auszurichten, bevor Annies Mutter sich auf ihn stürzte. Das Gedrücktwerden fühlte sich gar nicht schlecht an, auch wenn er mindestens dreißig Sekunden lang keine Luft bekam.

Ein Familienvater aus einer der mittleren Reihen kippte seinen Popcornbecher aus und rief: »Leute, lasst uns für diesen mutigen Jungen sammeln!«, woraufhin überall im Umkreis Portemonnaies gezückt wurden.

Eine halbe Stunde später wankte Bo aus dem Zirkuszelt, in der einen Hand eine gigantische rosa Zuckerwatte, in der anderen eine Familienportion frisches Butterpopcorn und in der Jackentasche doch noch die hundert Dollar, die ihm vorhin entgangen waren.

Alles in allem kein übler Geburtstag, dachte Bo und grub die Zähne in die leckerste Wolke, von der er je gekostet hatte.

Woodwalkers & Friends (2). Zwölf Geheimnisse

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