Читать книгу Reden straffen statt Zuhörer strafen - Katja Kerschgens - Страница 10

Straffe Reden erkennen Sie selbst

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Ich spreche Sie als Zuhörer an. Und ich spreche Sie als Redner an. Denn im Zweifelsfall sind Sie immer beides im Leben. Jetzt gibt es aber einen sehr interessanten, sehr menschlichen Widerspruch – zwei Seelen, ach, in Ihrer Brust:

Da gibt es den Zuhörer in Ihnen …

Als Zuhörer können Sie ganz genau sagen, ob Sie eine Rede gut oder schlecht fanden. Dazu brauchen Sie keine Dialektik studiert zu haben. Sie fühlen sich gut unterhalten, informiert oder angeregt oder eben nicht. Einfach aus dem Bauch heraus.

Mehr noch – wenn Sie jemand fragt, was Ihnen nicht gefallen hat, können Sie es sogar oft beim Namen nennen:

▪ „Das war viel zu viel Inhalt, ich habe mir nichts gemerkt!“

▪ „Das hat viel zu lange gedauert, bis der auf den Punkt kam!“

▪ „Ich habe überhaupt nicht verstanden, worauf der Redner hinaus wollte!“

▪ „Ich habe gar nicht richtig zugehört, das war einfach nur langweilig, eine Floskel nach der anderen.“

▪ Oder, oder, oder …

… und den Redner in Ihnen!

Aber jetzt kommt es: All das, was Sie als Zuhörer bei anderen Reden Positives erlebt haben, ist vergessen – sobald Sie selbst vor Publikum stehen und Sie all das tun, was Sie sich selbst als Zuhörer niemals verzeihen würden:

▪ Sie zählen wirklich alle Aspekte einer Sache auf, um zu überzeugen – was aber für den Zuhörer schwer zu merken ist.

▪ Sie halten sich zu lange mit Einleitungen, Begrüßungen und Vorankündigungen auf – sprich: Sie liefern Floskeln.

▪ Sie reden am Publikum vorbei, das im vorgetragenen Thema nicht zu Hause ist, weil Sie sich darüber keine Gedanken gemacht haben.

▪ Sie verzichten auf Spannungsbögen und Überraschungseffekte.

▪ Und, und, und …

„Ist doch klar, das machen schließlich alle so, also muss ich das auch so machen. Das erwarten die Zuhörer schließlich von mir!“


„Hilfe! PowerPoint-Orgien, lange Einleitungen, das Aufzählen sämtlicher Argumente reißt mich schon lange nicht mehr vom Hocker – das ist entweder der reinste Info-Overflow oder einfach uninteressant!“


Grundsätzlich wissen Sie, wann Sie eine Rede gut fanden. Aber nicht selten siegt die falsche Hälfte im Streit um eine straffe Rede nämlich die, die lieber am Alterprobten festhält. Da kann Ihre andere Hälfte noch so oft als Zuhörer das spannende Gegenteil erlebt haben: Spätestens, wenn auch noch die Aufregung oder Zeitdruck dazukommen, brechen die alten Gewohnheiten wieder durch.


Nur weil alle das Gleiche machen, heißt das nicht, dass es alle richtig machen. Straffen Sie Ihre Reden, indem Sie es einfach anders als alle anderen machen!

Reden Sie – aber straff!

Damit wir uns gleich richtig verstehen: Reden straffen heißt nicht zwangsläufig, Reden zu kürzen.

Reden straffen heißt,

▪ dass dem Zuhörer eine halbe Stunde wie fünf Minuten vorkommt.

▪ dass Ihre Rede nicht unbedingt kurz, aber immer kurzweilig ist.

▪ dass Ihre Rede Ihre Zuhörer fesselt, statt sie zu ermüden.

Ich habe mitunter von Menschen Sätze wie diese gehört: „Das war heute aber ein lahmes Publikum!“ oder „Die haben gar nicht richtig zugehört!“ Hier offenbart sich ein klassischer Denkfehler: Das Publikum kann nichts dafür, wenn es sich nicht unterhalten fühlt. Es gibt nur einen einzigen Menschen, der dafür verantwortlich ist: Der Redner, der es nicht geschafft hat, die Aufmerksamkeit der Zuhörer zu gewinnen.


Reden ist Silber, Schweigen Gold – und Zuhören Platin. Jede straffe Rede ist der beste Rhetoriktrainer – und Ihre Chance als Zuhörer, es bei der nächsten eigenen Rede umzusetzen!

Kritik ernst nehmen

Einen ganzen Tag lang gab es auf dem Kongress eine Rede nach der anderen zu hören – und zwar von den vermeintlich ganz Großen der Rednerszene. Ich saß im Publikum und musste erkennen, dass die nicht nur alle mit Wasser kochten, manche konnten nicht einmal richtig kochen! Prompt rutscht mir der eine oder andere Kommentar heraus. „Du bist ja immer nur am meckern!“, kommt es plötzlich von meinem Sitznachbarn. „Natürlich“, sage ich, „ich habe hohe Ansprüche, weil diese Veranstaltung sie in mir geweckt hat. Und eins kann ich dir versichern: Wenn ich hier reden würde und anschließend käme jemand auf mich zu, um mich zu kritisieren – ich würde ihn sofort auf einen Kaffee einladen und ihn eine Stunde lang über seine Eindrücke ausfragen!“ Mein Sitznachbar nickt mit nachdenklichem Gesichtsausdruck.

Der Zuhörer ist die entscheidende Instanz. Der Redner hat dafür zu sorgen, dass der Zuhörer ihm gerne zuhört. Nicht umgekehrt. Doch leider wollen viele Redner ihre Reden nur hinter sich bringen – und genauso wirken sie dann auch. Oder sie sind so eingenommen von sich selbst, dass sie keine Kritik mehr zulassen. Straffe Redner dagegen hören auf ihre Zuhörer!

Hören Sie auf Ihre eigene Zuhörerhälfte!

Als Zuhörer freuen Sie sich, wenn Sie ein Redner fesselt. Sie erkennen eine straffe Rede sofort, denn:

▪ Sie haben wirklich aufmerksam zugehört – weil der Redner vielleicht den Trick des Kopfkinos wie im obigen Beispiel verwendet hat.

▪ Sie haben zwischendurch geschmunzelt, vielleicht sogar gelacht oder waren berührt!

▪ Sie haben sogar ein paar Inhalte behalten, die Sie anderen weitererzählen können!

▪ Sie haben eine überzeugende, sympathische oder faszinierende Persönlichkeit erlebt!

▪ Sie erinnern sich auch noch lange Zeit später an dieses Erlebnis – denn Sie verbinden ein gutes Gefühl damit!


Achten Sie als Zuhörer immer darauf, was gute und was schlechte Redner wie machen. Dann übernehmen Sie mutig das Gute und lassen das Schlechte bleiben.

Das strafft Ihre Reden!

Klingt selbstverständlich, nicht wahr? Seltsam. Denn wenn es wirklich so selbstverständlich ist, warum hält sich dann keiner daran? Sie haben jetzt die Chance, es umzusetzen. Je besser und erfolgreicher Redner sind, desto genauer sollten Sie hinhören. Oder denken Sie dann: „Ja, die Großen, die können das ja auch. An die komme ich eh nie heran …“? Wer sagt denn, dass die nicht auch einst ganz unten angefangen haben? Schauen Sie den guten Rednern ihre Erfolgsfaktoren ab und scheuen Sie sich nicht, es selbst auszuprobieren – es lohnt sich:

Erlauben Sie sich selbst, gut zu sein!

Niemand anders wird es Ihnen erlauben.

Fokussieren Sie straffe Reden

Sie kennen diesen Effekt aus dem Alltag: Sie haben sich beispielsweise ein neues Auto gekauft – in einer recht ungewöhnlichen Farbe. Sie sind sich sicher, dass Sie Ihr Fahrzeug jetzt auf jedem Parkplatz auf Anhieb wiederfinden werden. Denn diese Farbe gibt es doch so gut wie gar nicht auf den Straßen, sind Sie sich sicher. Doch ab dem Tag, an dem Sie dieses Auto besitzen, werden Sie plötzlich jede Menge andere Fahrzeuge mit exakt der gleichen Farbe sehen – wo kommen die alle her? In Wirklichkeit waren die alle vorher schon da. Sie haben sie nur nicht wahrgenommen. Jetzt haben Sie Ihre Wahrnehmungsfilter in Ihrem Gehirn auf diese Farbe fokussiert, weil Sie selbst ein Auto in dieser Farbe besitzen – und plötzlich rückt diese Farbe ganz von allein in Ihren Blick. Genauso können Sie Ihren Fokus ab sofort auf gute Redner lenken: Das wird es Ihnen erleichtern, auch Ihre Reden zu straffen – denn Sie haben jetzt ein Ohr und ein Auge dafür.

Wenn Sie dieses Buch in Händen halten, hören Sie keinen Redner. Aber sie werden zahlreiche Beispiele aus der Praxis lesen, die Sie inspirieren werden. Das ist natürlich nicht zu vergleichen mit dem Erlebnis, wenn Sie einen Redner live hören. Aber es gibt Ihnen ein erstes Gefühl dafür, was straffe Reden ausmacht. Die Erkenntnisse, die Sie hier beim Lesen gewinnen, können Sie auch bei jeder Rede gewinnen, die Sie hören. So oder so werden Sie ein Gefühl dafür entwickeln, was straffe Reden wirklich ausmacht.

Fangen Sie mit den Floskeln an

Eine erste, einfache Möglichkeit ist beispielsweise die, dass Sie Ihr Ohr für Floskeln öffnen. Achten Sie ab sofort darauf, wie oft Redner solche überflüssigen Formulierungen benutzen wie:


▪ „Wie mein Vorredner ja bereits darstellte …“

▪ „Ich freue mich über Ihr zahlreiches Erscheinen …“

▪ „Ich komme nun zu einem weiteren, wichtigen Punkt …“

▪ „Darauf werde ich im Laufe meiner Rede noch einmal zurückkommen …“

▪ „Ich würde jetzt gerne auf den nächsten Punkt zu sprechen kommen …“

▪ „Ich möchte das noch einmal etwas anders formulieren…“

▪ „Auch auf die Gefahr, mich zu wiederholen …“

Stellen Sie sich vor, Sie könnten all diese Floskeln aus der Rede eines solchen Redners streichen – das würde schon enorm zur Straffung beitragen! Dasselbe gilt natürlich für Ihre eigenen Reden.

Die Wirkung entscheidet

Noch heute werde ich auf manche Reden angesprochen, die ich vor langer Zeit gehalten habe. Die meisten erinnern sich dabei kaum noch an die Inhalte. Aber sie erinnern sich daran, dass es ihnen Spaß gemacht hat oder dass sie interessiert zugehört haben, dass es sie berührte oder nachdenklich gemacht hat.

Es ist übrigens kein Qualitätsmerkmal, wenn sich jemand nur wenig daran erinnern kann, was Sie genau gesagt haben. Dieser Effekt ist unserem Gehirn geschuldet, das sich Worte schlechter merken kann als Bilder.

Schon seit den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts geistern beispielsweise die Studien von Prof. Albert Mehrabian durch die Rhetorikliteratur. Er versuchte damals anhand von Experimenten zu verdeutlichen, dass Widersprüche zwischen dem Inhalt einer Aussage sowie der Stimme und Körpersprache schnell hinsichtlich der letzteren beiden Aspekte interpretiert werden. Sagt also zum Beispiel jemand „Freundschaft“, betont das Wort aber negativ, so vermutet die Versuchsperson, dass es mit der vermeintlichen Freundschaft nicht weit her sein kann. Ähnliches beobachtete Mehrabian auch hinsichtlich Mimik und Gestik. Heraus kam, dass eine Botschaft nur zu sieben Prozent über den Inhalt, aber zu 38 Prozent über die Stimme und zu 55 Prozent über die Körpersprache wirkt.

Derartige Prozentangaben sind sicherlich strittig. Aber die Gehirnforschung zeigt, dass grundsätzlich etwas dran ist: Das Unterbewusstsein reagiert sehr stark auf optische und akustische Reize und speichert wesentlich mehr davon ab, als unser Bewusstsein mitbekommt. Die Wissenschaft geht sogar davon aus, dass wir zu 95 Prozent aus dem Unterbewusstsein und nur zu fünf Prozent aus dem Wachbewusstsein agieren.4 Das erklärt auch die „Entscheidungen aus dem Bauch heraus“ – streng genommen gibt es keine anderen, denn alles wird vorher mit dem riesigen unbewussten Wissensschatz abgeglichen.

So, wie Entscheidungen unbewusst gefällt werden, so werden Sie auch als Redner vor allem auf der unbewussten Ebene wahrgenommen. Und ebendort entstehen Gefühle wie Sympathie, Spaß, Neugierde oder Vertrauen.


Auch aus einer straffen Rede merken sich die Zuhörer selten die einzelnen Inhalte. Aber das Erlebnis, das mit dieser Rede verbunden wird – das bleibt hängen.

Und damit kommen wir zu einer der wichtigsten Grundlagen für straffe Reden: Wenn Sie sich verstellen, werden die unterbewussten Alarmglocken Ihrer Zuhörer schrillen. Doch genau das passiert, wenn Sie meinen, es allen recht machen zu müssen.

Reden straffen statt Zuhörer strafen

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