Читать книгу Vier Pfoten für Julia - Strandnächte - Katja Martens - Страница 7

1. Kapitel

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Hier hat sich nichts verändert.

Henriette van Kampen trat an das Geländer der Seebrücke von Prerow und sog tief die Seeluft ein, die nach Salz und Tang roch. Sie spürte die warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut und den Wind, der an ihrem Strohhut zog und ihn vermutlich von ihrem Kopf geweht hätte, wenn sie ihn nicht festhalten würde.

Während der Wetterbericht für Süddeutschland anhaltende Regenfälle vorhersagte, war es hier an der Ostsee herrlich warm. Vom Brückenkopf aus konnte man wunderbare Sonnenuntergänge beobachten. Gerade tauchte die Sonne an der Spitze des Darßer Ortes ins Wasser und der Himmel färbte sich zartrosa und violett. Möwen tanzten über dem Strand und balgten sich kreischend um einen Leckerbissen.

Wie lange war ich nicht mehr hier in Prerow?, grübelte Henriette. Es müssen fast fünfundzwanzig Jahre sein. Damals waren Jan und ich gerade erst verheiratet. Es kommt mir fast so vor, als wäre es in einem anderen Leben gewesen. Wir waren jung und unbekümmert und haben wild gezeltet, bis der Förster uns entdeckte und dazu verdonnerte, ein Zimmer zu nehmen. Später wollte Jan seinen Urlaub nur noch im Ausland verbringen, in Fünf-Sterne-Ressorts. Schön war es da, aber so glücklich wie damals in unserem viel zu kleinen Zelt waren wir nie wieder. Jan hatte selten genug Urlaub, und jetzt ist er schon drei Jahre nicht mehr bei mir.

Die Erinnerung legte sich wie ein Schatten auf ihr Gesicht. Gedankenverloren spielte sie mit den Muscheln in ihrer Hand, die sie am Strand gesammelt hatte.

Ein weißes Ausflugsschiff steuerte in der Ferne über das Wasser und zog ihren Blick auf sich. Fernweh stieg in ihr auf. Wie schön es wäre, in ein Schiff zu steigen und allen trüben Erinnerungen davon zu segeln!

Neben Henriette hatte sich ihr Mops zusammengerollt. Hugo hatte seinen runden Kopf auf die Vorderpfoten gebettet und schnaufte zufrieden. Er war schon älter und schaffte keine allzu langen Spaziergänge mehr, aber nach dem unerwarteten Infarkt ihres Mannes hatte er ihr über so manche trübe Stunde hinweggeholfen. Nun legte er den Kopf schief und spähte aus seinen braunen Knopfaugen zu ihr auf, als wollte er fragen: Muss ich heute noch sehr weit laufen?

»Wir werden beide nicht jünger, was, Hugo?« Henriette wandte sich um. »Na komm, lass uns zurückgehen. Johannes wird schon auf uns warten. Ich bin gespannt, was er so heimlich zu besorgen hatte, dass wir nicht mitkommen durften.«

Hugo stieß nun ein energischeres Schnaufen aus, dann rappelte er sich von dem Holzsteg auf und trottete neben ihr her zurück zum Ufer. Wie immer um die Abendzeit leerte sich der Strand allmählich. Urlauber strebten ihren Quartieren oder einem der zahlreichen Restaurants zu. Am Prerower Strom war gerade eine Freiluftausstellung mit Cartoons zahlreicher Künstler. Henriette hatte sich die Bilder am vergangenen Tag angesehen und musste bei der Erinnerung an einen Cartoon schmunzeln. Auf dem Bild stand eine Lehrerin vor ihrer Klasse und fragte, was ihren Schülern zum Thema Mittelalter einfiel, und eines der Kinder rief spontan aus: „Gouda!“.

»Na warte, dich erwische ich noch!« Die verärgerte Männerstimme ließ Henriette zusammenzucken.

Nanu? Was war denn da los?

Am Ufer wurden Semmeln mit fangfrischem Fisch angeboten. Der Stand lockte tagsüber zahlreiche Urlauber an. Und nicht nur die! Henriette hatte schon mehrmals beobachtet, dass vorwitzige Möwen ahnungslosen Touristen Fischbrocken wegschnappten. Eine Möwe mit einem roten Ring am Fuß, Henriette hatte sie Emma genannt, stibitzte sogar halbe Fischsemmeln, wenn sich ihr die Gelegenheit dafür bot. Auch jetzt verriet der empörte Aufschrei, dass sie wieder erfolgreich auf der Jagd gewesen war. Als Opfer hatte sie diesmal Johannes Frey auserkoren – Henriettes Freund und Begleiter.

Sie und der Arzt waren sich vor zwei Monaten während einer Zugfahrt begegnet. Sie hatten sich nett unterhalten und dabei festgestellt, dass sie zahlreiche Gemeinsamkeiten teilten. Sie kamen beide aus Bremen, liebten alte Bücher und gutes Essen. Sie hatten sich auf Anhieb gut verstanden. Wenig später wurde sie von Johannes auf ein Wiedersehen eingeladen. Daraus hatte sich eine Beziehung entwickelt, die die Leere in ihrem Leben ausfüllte und Henriette guttat. Sie war gern mit ihm zusammen.

Johannes war Orthopäde und erwog, sich in den nächsten Jahren zur Ruhe zu setzen. Man sah ihm nicht an, dass er bereits auf die sechzig zusteuerte. Er war hochgewachsen, sportlich, und durch seine dunklen Haare zog sich kaum ein graues Haar. Lediglich die goldgerahmte Lesebrille, die er an einem Band um den Hals trug, war ein Zugeständnis an sein Alter. Johannes legte Wert auf gepflegte Kleidung. So waren sein Hemd und seine helle Leinenhose auch jetzt absolut faltenfrei, sie wirkten wie frisch gebügelt und nicht wie nach einem langen Urlaubstag. Dazu hatte er sich einen weißen Pullover um die Schultern gelegt.

Henriette lächelte, als er entrüstet zwischen der davonflatternden Möwe und seiner Semmel hin und her blickte. »Mach dir nichts draus«, tröstete sie ihn. »Wir essen nachher im Restaurant zu Abend. Dann kannst du dir ein Fischgericht bestellen, das dir garantiert nicht von einer Möwe verleidet wird.«

»Du hast recht.« Er lächelte schief. »Das werde ich machen. Unverschämt sind diese Vögel trotzdem.«

»Es liegt in ihrer Natur, sich einen Leckerbissen zu schnappen, wenn sie einen erwischen können.« Henriette trat neben ihn. »Hast du dein geheimnisvolles Geschäft abgeschlossen?«

»In der Tat. Ich habe ein Geschenk für dich gekauft. Hier, mein Schatz.« Er holte ein flaches Kästchen aus seiner Hosentasche und reichte es ihr. Sie hob den Deckel an und stieß sie einen entzückten Laut aus, denn auf einer dünnen Schicht Watte lag ein Mops – kunstvoll gearbeitet aus einem Stück Bernstein! Das Millionen Jahre alte Harz schimmerte geheimnisvoll im Abendlicht.

»Wie hübsch! Ich danke dir, Hannes!« Henriette fiel ihrem Begleiter um den Hals.

»Für dich alles, Liebling.« Er legte ihr einen Arm um die Taille. »Der Verkäufer hat mir übrigens eine Radtour nach Zingst und zu den Sundischen Wiesen empfohlen. Die Strecke soll sehr idyllisch sein. Wollen wir sie uns für morgen vornehmen?«

»Sehr gern. Das hört sich gut an. Wenn das Wetter mitmacht, bin ich dabei. Hugo können wir ja in einem Fahrradkorb mitnehmen.«

»Oder er läuft nebenher. Das würde ihm ganz gut bekommen. Er scheint schon wieder zugenommen zu haben.« Johannes schaute auf den Hund hinunter, der plötzlich knurrte.

»Aber Hugo!«, tadelte Henriette. »Was hast du denn?«

»Dein Hund mag mich nicht.« Betrübt musterte der Arzt den Mops genauer, als wollte er versuchen, ihm auf den Grund zu gehen.

»Das stimmt, aber ich verstehe das nicht. So ein Verhalten kenne ich gar nicht von ihm. Er kommt mit allen Menschen gut aus, sogar mit dem Briefträger. Er ist wirklich herzensgut.«

»Von wegen«, brummte Johannes, und seine Miene verdüsterte sich. »Irgendwann wird er mich noch anfallen, das ahne ich jetzt schon.«

»Dazu kommt es bestimmt nicht. Hugo ist eine Seele von Hund. Er muss sich vermutlich erst an dich gewöhnen. Immerhin waren wir mehrere Jahre miteinander allein.«

»Ich weiß nicht, was ich getan habe, dass er mich so hasst. Wir sind seit zwei Monaten zusammen. Er sollte mich wirklich inzwischen kennen«, murrte der Arzt. Seine Laune hob sich auch nicht, als sie beschlossen, vor dem Abendessen noch einen Spaziergang durch den Dünenwald zu machen. Prerow lag auf dem Darß, einer Gegend, die durch ihren urwüchsigen Wald gekennzeichnet war. Hier gab es dichten Kiefernwald, Erlenbruch und Buchenwälder, in denen zahlreiche Vogelarten beheimatet waren. Diese zwitscherten nun auch ein Abendständchen, während die beiden Urlauber dem sandigen Weg durch den Wald folgten.

Henriette genoss die abendliche Stille. Sie wollte ihrem Begleiter gerade vorschlagen, später noch einen Bummel zum Hafen zu machen, aber plötzlich brach vor ihnen etwas Graues, Borstiges zwischen den Bäumen hervor, flitzte über den Weg und verschwand wieder im Unterholz. Ein Wildschwein!

Es war allein unterwegs. Henriettes Gehirn spulte die Informationen automatisch ab, die sie irgendwann einmal über diese Waldbewohner gelesen hatte. Eine Wildschweinrotte wurde von einem weiblichen Tier angeführt. Keiler schlossen sich der Rotte nur zur Paarungszeit an und zogen allein weiter, sobald die Jungen auf der Welt waren. Das massige Tier, das eben ihren Weg gekreuzt hatte, war mit Sicherheit ein Keiler gewesen. Groß genug, um einen Menschen mühelos umzustoßen und vermutlich schwer zu verletzen, wenn er es darauf anlegte.

Bevor sich die Urlauberin von ihrem Schrecken erholen konnte, geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Ihr Mops bellte. Seine braunen Augen glitzerten unternehmungslustig. Im nächsten Moment stürmte er dem Wildschwein nach! Das geschah so unvermittelt, dass sie die Leine losließ. Wenige Herzschläge später war ihr Mops ebenfalls nicht mehr zu sehen.

»Hugo!« Erschrocken schaute sie ihrem Hund nach. »Oh nein! Komm sofort zurück! Hugo!« Doch ihr Mops hörte nicht auf sie. Sein Bellen wurde leiser und leiser, bis es schließlich gar nicht mehr zu hören war. Bestürzt wandte sich Henriette an ihren Begleiter. »Das hat uns gerade noch gefehlt. Was machen wir denn jetzt?«

»Abwarten«, antwortete er gelassen. »Der kommt schon wieder, wenn er Hunger hat oder ihm die Puste ausgeht.«

»Aber er ist fremd hier. Wir müssen ihn suchen, Johannes.«

»Wo denn? Hugo mag schon alt sein, aber er läuft uns beiden immer noch davon, wenn es darauf ankommt. Das kannst du mir glauben. Außerdem habe ich keine Lust, dem Viech quer durch den halben Dünenwald nach zu hetzen.«

»Sollen wir etwa gar nichts unternehmen?«

»Das wäre meiner Ansicht nach das Vernünftigste.«

»Nein. Ich muss ihm hinterher. Der Förster hat es nicht gern, wenn Hunde frei im Wald herumlaufen. Das habe ich heute früh erst in der Zeitung gelesen. Er glaubt, dass freilaufende Hunde von Urlaubern ihm das Wild verschrecken, und hat angekündigt, das nicht länger hinzunehmen.«

»Und wenn schon. Was soll er schon groß machen?«

»Das weiß ich nicht …« Henriette hatte kaum ausgesprochen, als in der Ferne etwas krachte. Ein Schuss! Sie schwankte plötzlich, und ihre Knie fühlten sich an wie Watte. »Bitte, lass es nicht Hugo gewesen sein!«

Vier Pfoten für Julia - Strandnächte

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