Читать книгу Vier Pfoten für Julia - Strandnächte - Katja Martens - Страница 8

2. Kapitel

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Julia saß in der bedrückenden Stille des Krankenzimmers und hielt die Hand ihres Großvaters. Die Angst um ihn klemmte wie ein Kloß in ihrem Hals und mochte kaum den Atem vorbeilassen.

Rasmus Sperling war ein drahtiger Mann Ende sechzig, den sie nicht anders als in Bewegung kannte. Er liebte es, für die Gäste seiner Pension da zu sein und war von früh bis spät auf den Beinen. Früher war er als Fischer rausgefahren, heute unternahm er gern abends noch eine Fahrt mit seinem Boot aufs Meer. Wenn er nicht aufs Wasser konnte, fehlte ihm etwas. Ihren agilen Großvater nun so zu sehen, tat Julia bitter weh. Seine Haut schien dünn wie Pergament geworden zu sein, sie konnte die Adern erkennen, die sich darunter abzeichneten. Außerdem war sein Gesicht aschfahl und seine Wangen wirkten eingefallen. Er hatte noch kein einziges Mal die Augen geöffnet, seitdem sie bei ihm war. Zahlreiche medizinische Apparaturen, Schläuche und Drähte waren mit seinem Körper verbunden, piepten, tropften und maßen und trugen auf diese Weise zu seiner Genesung bei. Trotzdem bereitete Julia die Fülle an Hilfsmitteln ein flaues Gefühl in der Magengegend.

Eine Hummel hatte sich in das Krankenzimmer verirrt und flog brummend gegen die Fensterscheibe, in dem vergeblichen Versuch, einen Weg nach draußen zu finden. Julia ahnte, was sie empfand. Auch sie wäre liebend gern irgendwo anders gewesen. Nur nicht hier.

Nach dem Anruf aus dem Krankenhaus war sie unverzüglich losgefahren. Ihr Freund musste noch arbeiten. Sein Urlaub begann erst nach seinem nächsten Nachtdienst. Er wäre lieber mitgekommen, aber das wollte Julia nicht.

Die Bodden-Klinik lag eine Stunde Autofahrt von ihrem Heimatdorf Prerow entfernt. Es war ein hochmodernes Krankenhaus. Julias Großvater lag auf der Intensivstation. Ein Verband um seinen Kopf verriet, dass er dort eine Verletzung davongetragen hatte. Mehr wusste Julia noch nicht. Eine Pflegerin hatte ihr versprochen, den Stationsarzt zu ihr zu schicken, der ihr mehr über den Zustand ihres Großvaters erklären konnte, aber er war bislang noch nicht aufgetaucht.

»Werde bald wieder gesund, Großvater«, flüsterte Julia und drückte seine Hand. Doch Rasmus ließ nicht erkennen, ob er sie überhaupt hörte. Was war ihm zugestoßen? Welche Art von Unfall hatte er gehabt? Und wie schwer war er verletzt? Sie wusste es nicht, und das machte sie ganz verrückt. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und verließ das Krankenzimmer, auf der Suche nach jemandem, der ihr Auskunft geben könnte.

Auf dem Flur kam ihr ein weißgekleideter Arzt entgegen, der mit wehendem Kittel an ihr vorübereilen wollte.

»Entschuldigen Sie«, sprach sie ihn an.

Doch er winkte ab. »Tut mir leid, ich kann jetzt nicht.«

»Bitte, es ist wichtig. Mein Großvater wurde heute eingeliefert.«

»Dann wenden Sie sich bitte an seinen behandelnden Arzt. Ich muss jetzt zu einer Besprechung.«

»Es ist niemand weiter da, den ich fragen könnte. Ich brauche nur eine Auskunft. Bitte. Noch niemand hat mir gesagt, was mit ihm ist«, beharrte Julia.

»Also schön.« Er atmete tief durch und blieb stehen, wandte sich zu ihr um und verschränkte die Arme vor der Brust. Das Namensschild an seinem Kittel wies ihn als Doktor Hansen aus. »Um wen handelt es sich denn?«

»Mein Großvater heißt Sperling. Rasmus Sperling. Ich habe einen Anruf erhalten, dass er hergebracht wurde und auf der Intensivstation liegt. Mehr weiß ich nicht.«

»Herr Sperling. Natürlich. Sie sind also seine Enkelin?« Der Arzt taute sichtlich auf und ließ die Arme sinken. »Ihr Großvater ist die Treppe heruntergefallen und hat sich ein Schädel-Hirn-Trauma zugezogen. Das ist eine Verletzung des Kopfes durch äußerliche Gewalteinwirkung, die den Schädelknochen und das Gehirn betrifft. Es ist uns leider noch nicht gelungen, ihn wieder zu sich zu bekommen. Er liegt im Koma.«

Julia konnte es nicht fassen. »Aber er wird doch wieder gesund, oder?«

»In einer so frühen Phase kann man leider unmöglich vorhersagen, wie sich ein Schädel-Hirn-Trauma entwickeln wird. Seine Genesungschancen sind bisher ungewiss. Manche Patienten mit einer schlechten Prognose erholen sich rasch und führen ein normales Leben weiter. Anderen gelingt das nicht so gut. Wir müssen abwarten, wie sich Ihr Großvater in den nächsten Tagen verhält. Eines kann ich Ihnen allerdings versprechen: Wir werden so früh wie möglich mit der Rehabilitation beginnen, damit er wieder auf die Beine kommt.«

Julia schluckte. Ihr brannten zahlreiche Fragen auf der Seele, aber diese kamen einfach nicht an dem Kloß aus Angst in ihrer Kehle vorbei. Ein Schauer durchlief sie. Wie ein Echo hallten die Worte des Arztes in ihren Gedanken nach: Schädel-Hirn-Trauma. Koma. Ungewiss.

»Haben Sie Geduld«, sagte Doktor Hansen. »Die Genesung kann Zeit in Anspruch nehmen, aber sie wird voranschreiten.«

»Was könnte denn schlimmstenfalls passieren, Herr Doktor?«

»Das lässt sich unmöglich vorhersagen. Manche Patienten behalten eine leichte Störung der Persönlichkeit und der Merkfähigkeit zurück, andere haben immer wieder Ausfälle oder bleiben im Wachkoma. Wir werden abwarten müssen. Es tut mir leid, dass ich Ihnen keine besseren Nachrichten überbringen kann.«

Wachkoma? Oh nein! Alles, nur das nicht! Julias Herz krampfte sich zusammen, als sie sich vorstellte, dass ihr Großvater ein Gefangener in seinem eigenen Körper sein würde.

»So weit kommt es meistens nicht«, begütigte der Arzt. »Wie gesagt, Sie müssen Geduld haben.«

»Das sagt sich leichter, als es ist.« Julia verschlang ihre Hände ineinander. »Warum ist er eigentlich die Treppe heruntergefallen? Wie konnte das passieren?«

»Das wissen wir nicht. Ich kann Ihnen nur sagen, dass einer der Gäste in seiner Pension ihn gefunden hat. Es war merkwürdig.« Der Arzt zögerte. »Als Ihr Großvater eingeliefert wurde, hatte er nichts als seine Unterwäsche am Leib. Dabei war es schon Mittag. Können Sie sich das erklären?«

Julia verneinte und presste die Lippen so fest aufeinander, dass es wehtat. Ihr kam durchaus eine Erklärung für diesen merkwürdigen Umstand in den Sinn, aber die machte ihr genauso viel Angst wie die Worte des Arztes. Seit einigen Monaten war ihr Großvater zerstreut und unkonzentriert. Er vergaß wichtige Termine und Adressen. Sein Hausarzt glaubte, dass seine Beschwerden von einem Ungleichgewicht an Schilddrüsenhormonen herrührte und behandelte ihn mit Medikamenten, aber es gab noch eine andere Möglichkeit für diese Symptome: Alzheimer! Dieser Verdacht war bisher weder bestätigt noch widerlegt worden.

»Wann werden Sie mehr sagen können, Herr Doktor?«

»Das ist schwer zu sagen. Es können Tage oder Wochen vergehen, bis sich eine Entwicklung abzeichnet. Im Augenblick können wir wirklich nur abwarten.«

»Ich verstehe.« Julia sank der Mut. »Dann werde ich nach Hause fahren und ein paar Sachen für meinen Großvater zusammenpacken. Ich komme später noch einmal wieder her.«

»In Ordnung. Zögern Sie bitte nicht, mich anzusprechen, wenn Sie Fragen oder etwas auf dem Herzen haben. Und denken Sie daran: Wir tun alles Menschenmögliche für Ihren Großvater.« Der Arzt schien es plötzlich nicht mehr eilig zu haben.

Julia bedankte sich leise und machte sich auf den Heimweg. Sie lenkte ihre Schritte zum Klinikeingang, wo sie ihren Hund dem Pförtner anvertraut hatte. Im Auto hatte sie Raudi nicht warten lassen wollen, weil die sommerliche Hitze im Wagen für einen Hund rasch gefährlich werden konnte.

Der Pförtner hielt Raudi auf dem Schoß und kraulte ihn, was dieser sich mit sichtlichem Behagen gefallen ließ. »Da sind Sie ja wieder«, stellte er fest. »Wie geht es Ihrem Großvater?«

»Leider nicht gut. Der Arzt konnte mir noch nicht sagen, wie es weitergeht.«

»Er wird gewiss wieder gesund. Der Körper braucht nur seine Zeit, um sich zu erholen. Wir sind halt keine Maschinen. Das wird schon wieder. Lassen Sie den Kopf nicht hängen.«

»Das werde ich nicht.«

»Gut. Sie wissen doch, was man sagt: Die Nacht ist am dunkelsten vor dem Morgengrauen. Halten Sie durch, es kommen auch wieder bessere Tage. Versprochen.«

»Das werde ich mir merken. Vielen Dank, dass Sie auf Raudi aufgepasst haben.«

»Oh, das habe ich gern gemacht. Er ist ein lieber kleiner Kerl. Ich mag Hunde, doch leider ist meine Frau allergisch gegen Tierhaare. Sie bekommt schon Niesanfälle, wenn jemand nur das Wort ‚Fell‘ ausspricht. Aus diesem Grund haben wir uns eine Schildkröte angeschafft. Man kann zwar nicht mit ihr spazieren gehen, aber dafür bellt sie auch nicht.« Der Mittsechziger zwinkerte Julia zu. »Ich wünsche Ihrem Großvater alles Gute, und bringen Sie Raudi ruhig wieder zu mir, wenn Sie ihn besuchen und jemanden brauchen, der auf ihn aufpasst.«

»Vielen Dank. Das ist furchtbar lieb von Ihnen. Auf Wiedersehen. Na komm, Raudi«, rief Julia ihren Hund. Raudi sprang widerstrebend von seinem bequemen Plätzchen und sah sie vorwurfsvoll an.

Warum darf ich nicht noch ein bisschen bleiben?, schien sein Blick zu fragen.

»Wir haben noch allerhand zu tun, Raudi. Komm.«

Raudi gab einmal Laut. Dann trottete er ihr mit hängendem Kopf zu ihrem Auto nach. Julia ließ ihn hinten einsteigen, setzte sich selbst hinter das Steuer und machte sich auf den Weg in ihr Heimatdorf Prerow.

Über die Freisprechanlage rief sie von unterwegs ihren Freund an. Marc schien bereits darauf gewartet zu haben, denn er war schon nach dem ersten Klingeln am Apparat. Julia erzählte ihm, was sie im Krankenhaus erfahren hatte und dass es ungewiss war, wie es mit ihrem Großvater weitergehen würde.

»Ich fahre jetzt zu seiner Pension und kümmere mich um die Gäste. Außerdem muss ich ihm ein paar Sachen in die Klinik bringen. Kosmetikartikel, einen Schlafanzug und vielleicht auch seine Brille, obwohl er die im Moment leider nicht braucht.«

»Mach dir nicht zu viele Sorgen, Liebes. Dein Großvater ist zäh. Er wird sich schon wieder erholen.«

»Das hoffe ich sehr. Ich weiß nicht, was ich tun soll, wenn er …« Sie stockte, weil ihr die Worte nicht über die Lippen wollten. Sekundenlang brachte sie keinen Laut hervor. Schließlich räusperte sie sich. »Marc, ich werde leider nicht mit euch nach Spanien reisen können. Großvaters Pension ist ausgebucht, das hat er mir neulich am Telefon erzählt. Die Sommerferien locken zahlreiche Urlauber nach Prerow. Ich kann die Pension nicht einfach schließen. Ich muss ihn hier vertreten.«

»Gibt es sonst niemanden, der einspringen kann?«

»Leider nicht.«

»Was ist mit seiner Nachbarin, mit der er sich so gut versteht?«

»Du meinst Gerti? Sie ist nett und hilft immer, wo sie kann, aber sie hat selbst ein Café, das sie führen muss. Wir dürfen nicht von ihr verlangen, sich auch noch um die Pension zu kümmern.«

»Also ist Spanien für uns gestrichen?« Marcs Stimme klang mit einem Mal gepresst.

»Ihr könnt und solltet fliegen. Es wäre schade, wenn ihr den Urlaub versäumen würdet, nur, weil ich nicht mitkommen kann.« Julia wurde die Kehle eng. Sie hatte sich so sehr auf ihren ersten gemeinsamen Urlaub mit ihrem Schatz und seiner Tochter gefreut, aber sie sah keine Möglichkeit, die Reise anzutreten, ohne ihren Großvater im Stich zu lassen. Ganz zu schweigen davon, dass sie in Spanien ohnehin keine Ruhe haben würde, wenn er daheim im Krankenhaus lag. »Für mich ist der Flug gestrichen, aber nicht für euch. Reist ohne mich, Marc. Das ist die einzige Lösung.«

»Ich weiß nicht. Sollen wir wirklich ohne dich fliegen? Das wäre nicht dasselbe.«

»Das stimmt, aber so kurzfristig kannst du die Reise sicher nicht mehr stornieren. Ihr habt die Erholung bitter nötig. Außerdem freut sich Lotta so darauf, ans Meer zu fahren und endlich schwimmen zu lernen.«

Im Hörer blieb es sekundenlang still. Marc schien mit sich zu kämpfen und nicht zu wissen, was er tun oder sagen sollte. Plötzlich knackte es im Hintergrund, dann war eine undeutliche Stimme zu vernehmen, die vermutlich von einem Einsatz sprach. Sein Funkgerät?

»Ich muss wieder an die Arbeit, Julia. Lass uns später noch einmal telefonieren, ja?«

»Ist gut. Bis dann.« Beklommen beendete sie das Gespräch. Die Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf wie aufgescheuchte Möwen. Marc und sie waren glücklich zusammen, aber ihre Einsätze als Tierärztin führten Julia häufig in die entlegensten Winkel der Republik. Die Trennungen belasteten ihre Beziehung. Das gestand sie sich ehrlich ein.

Der Urlaub in Spanien hätte ihnen endlich mehr Zeit füreinander schenken sollen – und nun fiel er ins Wasser! Das musste sie erst einmal verdauen. So schnell ließ sich die Enttäuschung nicht verwinden.

Endlich tauchte das Ortseingangsschild von Prerow vor ihr auf. Der idyllische Ferienort auf dem Darß war berühmt für sein mildes Klima und die farbenfrohen Schnitztüren der schilfgedeckten Häuser. Sie sind in der Zeit entstanden, in der viele Männer noch zur See gefahren waren. In ihrer Freizeit hatten sie Türen geschnitzt, deren typischen Motive Sonnen und stilisierte Pflanzen waren. Zeichen der Hoffnung. Die Türen der Seeleute waren nicht nur liebevoll geschnitzt, sondern auch handbemalt worden und zeigten, dass kein Haus, und war es auch noch so klein, zu eng oder zu winkelig sein konnte, um einer Familie Geborgenheit und Freude zu schenken.

Die Pension Seestern lag in der Waldstraße und war nur durch einen Streifen Dünenwald vom Strand entfernt. Hinter dem Zaun wippten Sonnenblumen mit ihren üppigen Blüten im Wind. Das reetgedeckte Haus mit der blau- und gelbbemalten Eingangstür, die mit einem stilisierten Blumenkorb verziert war, wirkte ebenso einladend wie freundlich. Wenn Julia sonst zu Besuch kam, stand ihr Großvater meistens im Garten oder am Fenster und winkte ihr schon von Weitem zu.

Diesmal jedoch nicht.

Julia stieg aus und ließ Raudi aus dem Wagen aussteigen. Er sprang auf den Gehweg und schüttelte sich leicht.

In diesem Augenblick stürmte eine Frau mit rötlich getönten Haaren aus der Pension. Ihr Gesicht glühte, und sie keuchte, als käme sie geradewegs von einem Marathon. Ihr Blick schweifte umher und heftete sich schließlich auf Julia. »Entschuldigen Sie bitte, haben Sie Herrn Sperling gesehen? Ich kann ihn nirgendwo finden, dabei brauche ich dringend seine Hilfe!«

Vier Pfoten für Julia - Strandnächte

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