Читать книгу Der Rechtsfall Wilhelmine Harnisch - Katrin Ludwig - Страница 4

25. Oktober, 1. Verhandlungstag

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Angeklagt des doppelten Giftmordes steht sie, Wilhelmine Harnisch, Kinderwärterin im Haus des Amtmanns Deichmann, am 25.Oktober 1858 vor dem Schwurgericht zu Braunschweig. Ein neuntägiger Prozess beginnt.

Der Richter führt das Wort, ihm zur Seite: der Staatsanwalt, der Verteidiger und der Protokollant und die Herren Geschworenen.

Die Opfer: Mathilde Deichmann, sechzehn Monate alt, und die zweijährige Marie Deichmann, Töchter des Amtmanns Deichmann zu Greene.

Angezeigt vom Physikus Dr. Wagner, der den Tod beider Kinder durch Arsenvergiftungen ermittelt hat.

Wilhelmine Harnisch, 56 Jahre alt, von mittlerer Größe, die Statur eher füllig, zeigt deutlich das vorangeschrittene Alter. Das braune Haar ist straff gehalten, die Augenfarbe blaugrau, die Gesichtszüge etwas grob, aber doch auch ebenmäßig, die Gesichtsfarbe von gewisser Blässe, eine Frau –verarbeitet zwar, aber doch noch kräftig genug, das Leben zu bewältigen. Die vorgeschobene Unterlippe und ein ständiges Bewegen des Oberkörpers zeigen Ängstlichkeit und Nervosität an. Doch im Laufe der Verhandlungen erweist sie sich als ruhig, beherrscht, ihre Rede ist klar und mit fester Stimme vorgetragen.

Sie bestätigt, drei Töchter geboren zu haben, alle unehelich. Die Väter der ersten und dritten Tochter wurden von ihr benannt, wenngleich sie ihre Verwunderung ob solcher Fragestellung nicht zurückhält.

„Was hat das hier zu tun?“

Den Vater der zweiten Tochter, der Anna, 1831 geboren, zu benennen, verweigerte sie.

„Ich hab Schweigen geloben müssen, und das bleibt auch so“, sagt sie. Alimente hätte sie nur für die Anna erhalten.

„Und eben diese hat Sie ins Bordell geschickt?“

Die Frage des Richters kommt schnell und direkt. Das trifft sie sichtlich.

„Nicht geschickt“, wehrt sie ab, „ohne meine Zustimmung wäre die Anna ins Wasser gegangen. Ich hab ihr nicht anders aus der misslichen Lage, in der sie sich befand, helfen können als durch mein Ja-Wort. Das war wenig genug, wenn es auch schwer genug wiegt.“

„Und dass die Tochter nicht nur im Braunschweiger Bordell gearbeitet hat, wenn wir das jetzt mal so nennen wollen, sondern auch in Hamburg und schließlich in Rostock, hat Sie wohl auch für recht befunden.“

Wilhelmine Harnisch hebt beide Hände, als wolle sie Worte des Richters abwehren.

„Eben das war der Grund, zu meiner Herrin, Frau Löbecke zu gehen, ihr von der Anna zu erzählen und sie um Hilfe zu bitten. Die Anna musste doch aus dem Rostocker Bordell losgekauft werden. 30 Taler hat mir die Frau Löbecke gegeben und 1 Louisdor die Frau Hausmann, was die Pflegetochter von der Frau Löbecke war. Den Rest konnte ich dazu geben und dann war die Anna frei.“

„Hat die Frau Löbecke denn von ihrer einstmaligen Zustimmung, die Anna ins Braunschweiger Bordell gehen zu lassen, gewusst?“

Die Frage ist der Angeklagten sichtbarlich unangenehm. Sie schweigt und ihre Hände verkneten sich auf dem Schoß. Dann schüttelt sie den Kopf und gesteht, Reue gezeigt zu haben, denn die Frau Löbecke habe ihr viele Vorwürfe gemacht und auch gesagt, sie hätte nie das Geld gespendet, hätte sie davon gewusst.

„Und?“, wird sie gefragt, „hat Sie dann die Tochter zu sich genommen?“

„Wie denn“, erwidert die Harnisch jetzt deutlich gereizt, „ich war ja in Lohn und Brot beim Herrn Amtmann, und der wollte die Anna nicht in seinem Haus haben. Die andere Tochter, die in Bremerhaven, hat ihr ein Dach über dem Kopf gegeben. Da war sie erst einmal untergebracht.“

Der Richter lehnt sich zurück. „Nun dann soll Sie uns getreu und wahrheitsgemäß erzählen, wie sich die Dinge verhalten.“

Wilhelmine Harnisch erhebt sich, die knochigen Hände verschränkt sie fest hinter dem Rücken, das gibt ihrer Haltung etwas Trotziges aber auch Aufrechtes und so wendet sie sich dem Richter zu, holt mehrmals tief Luft, dann beginnt sie zu sprechen.

„Ich wurde am 30.Oktober 1803 in Braunschweig geboren, als Tochter des Schuhmachermeisters Wilhelm Harnisch. Was der Vater verdiente reichte knapp zum Leben, sodass ich, kaum konfirmiert, in Stellung zu gehen hatte. Man musste halt seinen Lebensunterhalt früh selbst verdienen.“

„Sie hat bei mehreren Herrschaften in Diensten gestanden?“

Die Harnisch nickt.

„Wie viele waren es denn und welcher Art?

Sie denkt nach und die Finger der Hände auf dem Rücken zählen.

„Drei oder vier“, antwortet sie dann, „Küchenarbeit, Beerenlesen oder Kräutersammeln für den Herrn Apotheker. Was kann man denn schon in diesem Alter anderes, trotzdem war die Herrschaft immer sehr zufrieden mit mir.“

Der Richter blättert in den Akten. „Am längsten war Sie wohl dann beim Amtmann Henneberg in Wasserleben bei Wernigerode? Das waren annähernd 14- 15 Jahre. Was hat Sie denn da gemacht?“

„Ich stand als Kinderwärterin in Diensten. Das hat sich so ergeben. Ich mag Kinder und kann gut mit ihnen umgehen. Das hat die Amtmännin Henneberg bald herausgefunden und ich bin ihr gern gefolgt. Ich hab drei Kinder gewartet. Die Jüngste war die Amalie Henneberg, die war vom ersten Lebenstag auf meinem Schoß. Ich hab sie großgezogen.“ Ein schmales Lächeln umspielt ihre Lippen.

„Mal weiter – was hat Sie nach Greene gebracht?“

„Nun eben die Amalie. Als sie den Amtmann Deichmann ehelichte und in die Domäne nach Greene zog, bin ich mitgezogen. Sie hat gesagt, ich solle auch ihre zukünftigen Kinder großziehen.“

„Da war Sie immerhin schon an die 50 und ihre Dienstherrin gerade 17 Jahre. Hat Ihr das gefallen? Den Zögling zur Herrin?“

Die Harnisch zuckt scheinbar gleichmütig die Achsel.

„Was sollte ich schon dagegen haben? War doch froh, wieder ein Dach über dem Kopf haben zu können. Und die Arbeit war mir ja vertraut. Es kamen ja dann auch die Kinder, eines nach dem anderen. Vier Kinder hat die Amtmännin geboren.“

„Nenn’ Sie diese!“

„Die Älteste, die Luise kam 1853 zur Welt, dann folgte Mathilde am 9. März 1854, die kleine Marie kam am 31.August 1855 und schließlich Clärchen, am 1. April 1858. Ich hab sie alle in meine Obhut genommen, so wie ich die Amalie und ihre Geschwister gehütet habe, und keiner hat mir je ein böses Wort gesagt.“

Im Saal wird es unruhig. Hohnlachen klingt auf. Fäuste recken sich empor.

„Lügnerin! An den Galgen mit ihr! Giftmischerin!“

Wilhelmine Harnisch schlägt die Hände über den Kopf, als hätte man sie geschlagen und sinkt auf ihren Stuhl.

„Es heißt in der Anklageschrift, dass Sie sich in ihrem Verhalten der jungen Amtmännin Deichmann gegenüber, seit Eintritt in den Dienst sehr verändert habe. Herrisch, impertinent, misslaunig und überaus empfindlich sei Sie gewesen. Hingegen dem Amtmann gegenüber habe Sie sich demütig, ja fast anbiedernd verhalten. Wie sieht Sie das?“

Die Augen gesenkt widerspricht Wilhelmine Harnisch entschieden.

„Das wären böse Zungen, die das behaupten. Vielleicht mag das eine oder andere Wort falsch gewesen sein, immerhin war die neue Herrin, jahrelang in ihrer Obhut gewesen. Da hat ihr eigenes Wort gegolten. Nun plötzlich war es umgekehrt, da hätte sie, die Kinderfrau, aufs Wort zu horchen. Da kann schon mal ein Missklang aufkommen.“

Die Harnisch schiebt trotzig die Unterlippe vor.

„Und was den Herrn Amtmann angeht, so war ich ihm einfach freundlich gesonnen, obwohl er mich nicht mochte und meine Tochter Anna nicht unter seinem Dach haben wollte.“

„Sie hat den Amtmann gebeten, die Tochter bei ihm einmieten zu können?“

„…und er hat es abgelehnt. 10 Taler hat er mir in die Hand gedrückt, auf dass ich die Anna außer Haus bringe.“

„Aber sie ist dennoch wieder gekommen und zwar ohne Wissen der Eheleute Deichmann und der Amtmann hat erneut darauf bestanden, die Anna wieder fortzuschicken, bevor er nach Bad Kissingen reiste. Aber Sie hat dem Befehl wieder nicht Folge geleistet.“

„Aber das ging doch gar nicht mehr. Gerade da erkrankte die kleine Mathilde und zwar so schwer, dass jede Hand gebraucht wurde. Und die Anna versteht sich auch auf die Kinderpflege. Bei seiner Rückkehr hat der Herr Amtmann sehr wohl sehen können, wie nötig die Anna war.“

„Obwohl die Amme Heuer doch durchaus in der Lage war, die Pflege mit zu übernehmen?“

Die Harnisch winkt ab.

„Die war zu gar nichts gut. Die verstand nichts von Kinderpflege und schon gar nicht, wenn es um ein erkranktes Kind ging. Das konnte man schnell erkennen. Da hatte die Anna, meine Tochter, allemal mehr Erfahrung. Was ja daran zu erkennen ist, dass die Schwester des Herrn Amtmann, die Anna zu sich nach Aue kommen ließ und als Kinderwärterin für die kleine Olga in Dienst nahm.“

„Aber“, der Richter erhebt seine Stimme, „das war nicht von Dauer. Die kleine Olga, wie Sie es nennt, erkrankte ebenfalls und kurz vor deren Tod, verließ die Anna die Herrschaft weil sie sich aufgrund ihres früheren Lebenswandels eine Erkrankung zugezogen hatte, die ausgeheilt werden musste.“

„Ja!“, die Harnisch fuhr auf, hektische Röte färbte ihre Wangen und die Hände pressen die Tischplatte. „Da hat der Herr Amtmann wiederholt verboten, dass ich meine kranke Tochter aufnehmen kann, weil er, wie er schrie: keine kranken Leute unter seinem Dach haben wolle.“

Der Richter sieht die Angeklagte prüfend an und hält eine Seite der Anklageschrift hoch.

„Zu lesen ist hier, dass Sie sehr heftig auf diese Anweisung reagiert habe, sich auf den Boden gekniet, mit den Händen einen Stuhl umklammert, geweint und den Körper unter schweren Zuckungen hin und her geworfen habe. Hatte Sie dann Rachegelüste in sich gespürt? Einige Monate später ist die kleine Marie erkrankt – sieht sie da einen Zusammenhang?“

Die Harnisch schüttelt vehement den Kopf.

„Ich bin ja auch wieder ruhig geworden. Aber als Mathilde erkrankte hab ich mir gedacht und es wohl auch zu der Amme Heuer gesagt, der Amtmann will keine kranken Leute in seinem Haus wissen, nun ist aber seine eigene Tochter krank. Da kann er nun fühlen, wie so etwas ist.“

Der Richter schiebt die Akten zusammen. Es sieht danach aus, als wäre der erste von neun Verhandlungstagen zu Ende.

„Hat Sie denn nie daran gedacht, fort zu gehen, die Herrschaft zu verlassen?“

Die Harnisch nickt heftig.

„Das hab ich wohl und hab es auch in meinen Briefen aus dem Gefängnis mehrfach geschrieben. Aber ich wusste nicht wohin. Und ich hab mir ja auch nichts zuschulden kommen lassen, obwohl man mir schlimme Sachen unterstellt. Ich hab die Kinder lieb gehabt und gepflegt. Ich weiß genau was ich gelitten habe, als meine Anna so krank war und vom Herrn Amtmann so unbarmherzig fortgeschickt wurde. Da kann ich den Schmerz der Frau Amtmann gut verstehen. Anna ist ja nicht mal gestorben, wie die kleine Mathilde…“

Der Richter erhebt sich und unterbricht die Rede der Wilhelmine Harnisch.

„Am morgigen Verhandlungstag mehr.“

Er schließt die Akten und wendet sich zum Ausgang.

Die Leute im Saal sind unzufrieden und gehen murrend aus dem Saal.

Da hätte man doch erwartet, dass die Harnisch zu den begangenen Morden Rede und Antwort Stellung nimmt. Und dazu dann auch etwas Genaueres, wie diese Morde zustande gekommen sind und vor allem warum. Doch, das hätte man erwartet.

Aber der Herr Richter hat es ja nicht dazu kommen lassen.

Nun also heißt es den morgigen Verhandlungstag abwarten, es heißt auch, es würden Zeugen vernommen, mit deren Aussagen man der Harnisch beikommen könnte. Denn daran kann es ja keinen Zweifel geben, dass sie es war, die die Kinder getötet hatte. Tätig dabei auch noch die Tochter Anna. Die kleine Olga in Aue, war schließlich auch an Arsenik gestorben. Das alles wissen die Leute, die diskutierend den Gerichtssaal verlassen.

Wilhelmine kehrt in ihre Gefängniszelle zurück, die sie nun schon seit Wochen bewohnt und sucht Trost im Gebet. Das schmale Abendbrot, das man ihr hinstellt, rührt sie nicht an. Nur geistige Nahrung will sie zu sich nehmen, die sie in den Erbauungsbüchern findet. Die hat sie mitgebracht. Dazu noch die Bibel. Sie braucht Schutz, den sie beim Lesen empfindet.

Nachts erwartet sie die Träume, von denen sie häufig erzählt. Der Teufel verlangt von ihr Untaten, fordert sie auf, sich zu rächen, für alles Ungemach, was man ihr antut.

Und das jede Nacht.

Einmal erzählt sie der Berta Fiedler, wie der Teufel in Gestalt eines Engels, sie beauftragt hatte, ein kleines Kind zu Tode zu bringen. Aber auch da, so die Harnisch, hätte sie Kraft genug gehabt, zu widerstehen und im Engel die teuflischen Zeichen zu erkennen.

Zuweilen fragt sie sich, ob sie vielleicht mehr mit dem Teufel im Bunde ist, als mit dem Herrgott. Aber bei diesem Gedanken erschrickt sie und flüchtet sich ins Gebet.

Sie legt sich auf die schmale Pritsche, das Gebetbuch neben das Kopfkissen, so spürt sie Zuversicht und so etwas wie Frieden, so erwartet sie den nächsten Tag.

Der Rechtsfall Wilhelmine Harnisch

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