Читать книгу Wie Opa und ich die Deutsche Einheit feierten - Katrin Pieper - Страница 4

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Früher sollen Oma und Opa ein ruhiges, angenehmes Ehepaar gewesen sein.

Sie hatten zwei Kinder: Papa, der mit richtigem Namen Alfred heißt und immer Freddy gerufen wird, was manchmal wie Teddy klingt, und Tante Sofie, dann noch einen Hund, der Bobby hieß und eine richtige bissige Töle gewesen sein muss, denn Opa zeigt heute noch gern und leidvoll sein zernarbtes Ohr, in das Bobby gebissen hatte, als Opa ihn streicheln wollte. Da hatte der Hund aber gerade über seinem Fressnapf gehangen und mochte keine Störungen.

Oma soll gelacht haben, als das Blut spritzte.

Das soll Opa damals sehr gekränkt haben und es war von Lieblosigkeit die Rede. Inzwischen haben sich die Dinge gewaltig verschärft.

Opa zog nämlich eines Tages seinen Rentnerreisepass hervor und fuhr zu Tante Sofie in das schöne Rüsselsheim - ohne Oma. Davor hätte schon ein Blinder merken müssen, dass sie sich nicht mehr so richtig leiden konnten. Wir jedenfalls in der Mehrgenerationenwohnung haben es schnell mitgekriegt und das konnte einem die Abende und Sonntage ganz schön versauen, denn da hockten wir alle im Wohnzimmer und stritten demokratisch um den Fernseher. Wie das ausging, kann sich jeder leicht denken, jedenfalls nicht zugunsten kleinerer und vor allem jüngerer Minderheiten.

Ich hab mal mit Suse, meiner älteren Schwester, die ja mehr Lebenserfahrung hat als ich, über Oma und Opa gesprochen. Die meinte, dass es eigentlich gar nicht möglich ist, ein ganzes Leben mit ein und demselben Mann oder derselben Frau zu verbringen.

"Pass auf", sagt Suse, die gerade dabei war, die Haarsträhnen lilagrün zu übersprayen. "Es ist ziemlich einfach. Erst ist man verliebt und denkt, das muss ein ganzes Leben lang halten. Ahnt ja keiner, wie lang so ein Leben sein kann. Dann kommen die Kinder, für gewöhnlich jedenfalls, da geht's auch noch ganz gut, die ersten Jahre jedenfalls, dann sind die Kinder groß und hatten Krach genug mit den Eltern, gehen also aus dem Haus und die Alten bleiben allein und sind erst mal froh, dass endlich wieder Ruhe ist, und dann, Pino, dann beginnt das große Elend und die geballte Langeweile. Das hält kein Schwein aus. Dann geht der Mann los und nimmt sich was Junges, Süßes, Blondes, damit er mal wieder angehimmelt wird und die Frau sucht sich einen gemeinnützigen Verein, weil sie mal unter die Leute muss. An dem Punkt sind die beiden alten Leutchen. Kannste glauben."

Suse holte Luft, sprayte noch einen Hauch Gelb über die Haare, die jetzt aussahen wie das Gefieder von Pizzi. Suses Lebenserfahrung hat mich überzeugt und mir taten meine Eltern irgendwie jetzt schon leid, weil die vielleicht noch gar nicht wussten, was ihnen noch so bevorsteht. Denn noch war die Bude voll. Und ich glaube nicht, dass Mama mit was Jungem, Süßen, Blonden gleich einverstanden wäre. Da sitzt doch bestimmt noch eine Menge Krach hinterm Berg.

"Kannst froh sein, dass es mich gibt. So klug." Suse betrachtete sich zufrieden im Spiegel, ich hatte fast den Verdacht, dass da ein neuer Lover im Anlauf ist. Gestern jedenfalls hatte sie einen an ihrer Seite, der verdammt punkig aussah.

Aber ich weiß auch, woher Suse ihre Lebenserfahrung hat, nämlich aus dem Internet. Sie war gestern wieder an Papas Laptop, was der nicht ausstehen kann, und hat gesurft. Ich muss sie mal fragen, wie sie das Codewort für Papas Programm herausbekommen hat. Aber hin wie her, Suse ist klug und weiß Bescheid und ich dann jetzt auch. Ich frag mich, wie wohl Papas Freundin später mal aussehen mag? Vielleicht wie Mama, bloß eben dreißig Jahre jünger oder so, vielleicht eben doch süß-blond und schöne Beine. Papa mag blond und schöne Beine. Mamas Haare sind schwarz und mehr so kurz und die Beine eher kräftig, wie Papa es nennt.

Opa sagte eines Morgens beim Sonntagsfrühstück, er wolle Tante Sofie besuchen. "Ich hör wohl nicht richtig", schrie Oma, "ausgerechnet du? Der letzte Besuch deiner Tochter hat dir wohl nicht gelangt. Wenn ich bloß an dein Geschrei über das bunte Hawaiihemd denke, das Sofie dir mitgebracht hat."

Opa schwieg ein Weilchen, gab aber dann unangenehm ruhig zurück:

"Erstens hab ich nicht geschrien und zweitens war das sehr aufmerksam von Sofie, denn sie weiß, ich bin ein Fan von Jürgen von der Lippe." Opa sah uns triumphierend an, denn das war ja nun wirklich eine ganz und gar einleuchtende Erklärung. Wir alle wussten, wie Opa an Lippes Lippen hing, wenn der seine Witze machte oder Peter Maffay nachahmte oder so ins Publikum schaute, als säße da gerade sein bester Freund und das wäre unser Opa. Aber dass er nun auch solch ein Hawaiihemd haben wollte, war uns allen sehr neu. Meine Eltern verhielten sich sonderbar friedlich und ich hatte fast den Eindruck, sie wünschten sich sehr, wenigstens einen der beiden Zankteufel aus dem Haus zu haben.


OPA PACKTE ALSO EINE ALTE BRAUNE REISETASCHE, in die so viel hineinging wie in zwei mittelgroße Koffer. Oma stand eisern daneben, schob ab und zu ihre Brille hoch und fragte, ob er denn bis Weihnachten wegbliebe. Opa knurrte etwas wie: Man weiß ja nie, besser reichlich als zu knapp und was vom rauen Wetter in Rüsselsheim, und dass er mal so richtig ausspannen und endlich seine Ruhe haben wolle.

Da verließ Oma Tür knallend das Zimmer und vom Flur her war irgendwas von einem alten Zausel, dem nicht zu helfen war, zu hören.

Opa guckte hoch.

"Siehste, das meine ich", sagte er leidvoll. "Kein vernünftiges Wort ist mehr möglich. Gleich ist sie eingeschnappt oder brüllt los."

Ich halte mich aus so was raus, weil ich da meine Erfahrungen habe. Wem immer man auch beisteht, man kriegt es mit dem anderen zu tun und schließlich hacken beide auf einem herum. Opa zog ächzend den Reißverschluss zu. Ich weiß nicht, wer mehr stöhnte, der alte Reißer oder Opa.

"Du hättest auch meinen neuen Koffer nehmen können", bot ich ihm an. Papa hatte im letzten Urlaub darauf bestanden, mir einen neuen Koffer zu kaufen. Später war klar warum, denn das ganze Anglerzeug, einschließlich Gummistiefel und Hochwasserhosen, mussten da mit hinein. Er hatte Mama geschworen, die Angelsachen zu Hause zu lassen.

Es wurde ein anstrengender Urlaub für ihn, denn morgens um vier stand er am Wasser und lag gegen acht Uhr wieder in seinem Beet. Mama klagte volle drei Wochen über einen leichten Fischgeruch im Zimmer, den sich keiner erklären konnte. Ich auch nicht. Aber ab September hatte ich endlich den neuen Lenker an meinem Fahrrad, wenngleich Papa versucht hatte, billiger davonzukommen, was ich aber nicht zuließ.

Bevor er seine Reise antrat, hatte Opa Tante Sofie gefragt, womit er ihr eine Freude machen könnte. Die Kuckucksuhrenphase war wohl vorbei, die Tante wünschte sich etwas Schmuck, vielleicht ein oder zwei Bernsteinketten.

Opa hat sie mir heimlich gezeigt.

"Und das ist erlaubt?", fragte ich zweifelnd. Opa zuckte die Achseln.

"Häng sie mir eben um den Hals. Was kann man gegen einen alten Mann sagen, der gern Bernsteinketten trägt. Manche haben einen Ohrring oder goldene Armbänder, ich trag eben was Natürliches, eben Steine."

Wir betrachteten Opas kräftigen Hals im Spiegel, den zwei Bernsteinketten leicht würgten.

"Kann sein, die glauben dir nicht, und dann muss Papa wieder herhalten, das geht auch mal schief", gab ich zu bedenken.

Opa starrte sein Spiegelbild an.

"Steht mir irgendwie nicht", nuschelte er.

"Außer du ziehst das Hawaiihemd an und die Jeans, die du nicht magst."

Opa zog sich um, legte die Ketten an, ich holte seinen alten Strohhut.

"Wie der alte Henry Fonda, bloß ohne Gitarre", sagte ich. "Nana", knurrte er, "so ein faltiger alter Hahn bin ich ja nun nicht."

Den Hut hätte er sowieso nicht mitgenommen, dafür aber Hawaiihemd, Jeans und Bernsteinkette - Suse würde das einen "scharfen alten Knochen" genannt haben. Aber Suse und der Rest der Familie durften ihn so nicht sehen. Was eigentlich schade war.

"Zieh ich mich eben auf dem Bahnhof oder im Zug, kurz vor der Grenze um", entschied Opa und riss den alten Reißer noch mal hoch. Am Abreisetag hätte uns eigentlich schon etwas auffallen müssen. Ganz gegen seine sonstige zärtliche Art, uns allen auf den Rücken zu hauen, dass man auch noch drei Tage danach wusste, wer sich da verabschiedet hatte, umarmte er uns, sogar Oma, schnäuzte gerührt in ein absolut sauberes Taschentuch. Ich hab ihm dann schließlich noch die Reinigungsmarke vom Hosenbund abgerissen - dann zog er davon. Zuerst schickte Opa alle paar Tage eine Karte, worauf zu lesen stand, wie gesund und munter er sei, wie sehr Tante Sofie ihn verwöhnte, was Oma zu kurzen schrillen Schreien veranlasste, dann aber gewöhnten wir uns an längere Pausen, denn dann kamen die bunten Karten aus Italien und Spanien, jedenfalls aus südlichen Ländern. Mama und Oma wurden immer stiller, wenn wieder so ein buntes, glänzendes Lebenszeichen eintraf. Manchmal trugen die Karten auch ein Kreuzchen, damit zeigte uns Opa, wo er gerade wohnte. Mama und Oma seufzten, aber aus sehr unterschiedlichen Gründen: Mama packte die südliche Reiselust, Oma fehlte der Zankpartner. Mir fehlte Opa. Opa war laut, hatte immer recht, schimpfte auf die Regierung, die alles einsperrte, was hinaus wollte, und wenig von dem hineinließ, was Opa sich wünschte. Opa war immer direkt und bei ihm wusste man, woran man ist. "Ich sag, wie's ist", war sein Lieblingssatz, auch wenn es nicht so war, wie er es sah.

Opa hatte immer seine Beziehungen, wie er es nannte.

Wenn man mit Opa einkaufen ging, zwinkerten die Verkäuferinnen ihm zu und holten unter dem Ladentisch etwas Eingepacktes hervor. Manchmal schob auch Opa was Eingewickeltes rüber, dann sagten die Verkäuferinnen verlegen: "Ach das ist doch nicht nötig", und ließen es dort verschwinden, wo Opas Päckchen wohl gelegen hatte.

Danach war Opa immer unverschämt guter Laune, weil er, wie er es nannte, dem "maroden System ein Schnippchen geschlagen" oder "der Mangelwirtschaft in die Hacken gebissen" hatte.

Opa war Autogegner und Umweltschoner. Opa fuhr Fahrrad mit Anhänger. Da passte auch mal ein ganzer Karton mit Ketchup rein, eine "Rarität" wie Opa betonte, und gab pro Woche immer nur eine Flasche zum allgemeinen Familienverbrauch heraus.

Papa war ein Ketchupgegner, weil er sich nicht korrumpieren lassen wollte.

Opa grinste dann über den Tisch und meinte, dass Papa doch sonst auf Rot stünde. Worauf Papa immer betonte, aber nicht, wenn es von einer solchen Flasche käme. Dann herrschte eine Weile Schweigen und Oma knurrte: "Na. Na. Irgendwann muss sich das doch mal geben."

Das hat es ja auch, denn Opa war nun mal weg.

Zu Anfang war Oma ja friedlich und betonte, wie sehr die Ruhe und die Harmonie unserem Familienleben und ihr guttäten. Aber dann ließ sie sich von mir eines Tages die Schularbeiten zeigen und wollte unbedingt mitwirken an der Gestaltung meiner Leistungskurven. Das klappte nun mal gar nicht, denn Omas und mein Schulbildungssystem waren, wie Papa es nannte, nicht kompatibel. Das hätte er so direkt nicht sagen sollen, außerdem: Oma verwechselte es mit kompetent.

"Aber fürs Kuchenbacken und Einkaufen", erwiderte sie spitz, "dafür bin ich kompatibel genug!"

Papa erklärte zunächst noch geduldig, aber Oma hörte nicht hin und schrie nur: "Ich weiß, was ich weiß und das lasse ich mir nicht nehmen."

So langsam kamen wir auch ohne Opa wieder in die Gänge, was Mama doch wieder veranlasste, über die Auflösung unserer Mehrgenerationenwohnung nachzudenken.

"Aber Oma ist doch jetzt allein", warf ich in Mamas lautstarke Überlegungen ein, "und zu alt ist sie auch."

"Oma ist nie zu alt und auch nie allein. Das müsstest du allmählich gelernt haben", erwiderte Mama nervös, was daran zu merken ist, dass sie mit beiden Händen in ihren Haaren herumfuhrwerkt. Danach sieht sie immer aus wie ein Mopp, was ihr eigentlich gar nicht so schlecht steht.

"Mit ein bisschen Gel ist das eine affengeile Frisur", stellte Suse fest, "solltest du echt mal machen."

Die Stimmung erreichte ihren Höhepunkt, als Opas Brief eintraf in dem er uns mitteilte, vorläufig nicht wieder zurückzukommen, denn hier hätte er alles, wonach er sich im Stillen immer gesehnt und nie so richtig hätte aussprechen können. Ich hatte eigentlich immer gedacht, dass Opa alles herausgebrüllt hätte, was so seine Sehnsucht gewesen war.

Nun sind die Menschen ja verschieden. Mancher plauzt alles raus und sehnt sich dennoch im Stillen. Das ist schwer herauszukriegen.

Oma warf sich schluchzend an Mamas Hals und heulte ihre neue Bluse nass, Mama hielt durch.

"Warten wir's doch mal ab. Vielleicht ist er auch in vier Wochen wieder hier, kennst doch deinen Mann, der sagt viel, wenn der Tag lang ist."

Oma ließ ihr nasses Taschentuch sinken.

"Ich hab's geahnt, was der alles eingepackt hat, nicht Pino, die alte braune Reisetasche wäre ja bald geplatzt. Ich hab's geahnt, ein Schlawiner ist er doch immer gewesen. Was weiß ich denn, was er noch so gemacht hat, wenn er sich immer so gesehnt hat und nach wem!"

Oma griff wieder zum Taschentuch und Mama holte Baldriantropfen.

Abends teilte sie Papa die Neuigkeit mit. Suse und ich saßen gespannt auf dem Sofa. Immerhin hatte er gerade seinen Vater verloren, war also gewissermaßen Halbwaise geworden.

Papa las Opas Brief mindestens dreimal. Wahrscheinlich hatte es ihm die Buchstaben verschlagen.

"Naja", sagte Papa schließlich, "irgendwann müssen wir ihn dann polizeilich abmelden. Herumsprechen wird es sich sowieso." Dann ging er hinaus, Mama hinterher, Suse und ich auch, wenigstens bis hinter die Küchentür.

Mama klirrte mit den Tellern, was ein ernstes Zeichen war, denn normalerweise halten das ihre Ohren nicht aus. "Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?", hörten wir sie fragen.

Suse verdrehte die Augen.

"In seinem Alter noch solche Sperenzchen zu machen", ächzte Papa. "Aber es verlangt schon einen amtlichen Vorgang, oder? ... "

"Tut es dir eigentlich gar nicht leid?", fragte Mama. "Immer so staatspolitisch, amtlicher Vorgang, ich bitte dich, ein Rentner mehr oder weniger, wer fragt danach. Entlastet auch diese sozialistische Wirtschaft."

"Aber in den Westen", antwortete Papa mit gequälter Stimme. "Wär' er doch nach Bulgarien gegangen. Da hat es ihm doch immer so gefallen."

Irgendwas Schweres landete mit Wucht auf dem Küchentisch und wir hörten Mama zischen:

"Bulgarien! Hier wollte er nicht mehr leben, begreif das mal. Hier!"

Suse und ich schlichen in unser Zimmer.

"Verstehst du das?", fragte ich sie, "war doch immer alles gut. Er hätte ja auch nach drüben reisen können, so oft wie er wollte, aber wiederkommen, das hätte er doch müssen. Nun ist Oma richtig allein. Eigentlich ist Opa tot."

"Red nicht so einen Mist", erwiderte Suse seelenruhig.

"Hoffentlich schickt er wenigstens jetzt die richtigen Klamotten. Ich brauch Markenjeans und Shirts mit Madonna drauf. Man kann sich in der Schule kaum noch sehen lassen."

Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und musste nachdenken. Eigentlich hatten wir jetzt alle ein Problem, jeder auf seine Weise:

Papa ein staatspolitisches, Oma ein menschliches, Mama ein wirtschaftliches und ich ein schulpolitisches und ein menschliches dazu. Nur Suse hatte keines, sie hatte Hoffnungen.


Wie Opa und ich die Deutsche Einheit feierten

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