Читать книгу Wie Opa und ich die Deutsche Einheit feierten - Katrin Pieper - Страница 6
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ОглавлениеSo im Laufe der Zeit hatten wir alle Opas Abwesenheit verkraftet.
Mama regelte es auf die sozialistisch-demokratische Weise, wie Papa es nannte, sie verteilte Opas Aufgaben und fragte scheinheilig nach, ob es Gegenstimmen oder Vorschläge geben würde, und hatte dabei schon längst alles verteilt. Papa bekam am wenigsten ab, weil er jeden Sonntag am Auto herumschraubte und, wie Mama betonte, auch nicht mehr der Jüngste war. Außerdem stand noch die staatspolitische Aktion bevor: Opas Abflug musste vermeldet werden. Das machte Papa zu schaffen, er sah leidend aus und rauchte zuweilen sogar im Zimmer, was sonst streng verboten war, wegen der Gardinen.
Oma wurde geschont, jedenfalls vorübergehend, außerdem warteten die gemeinnützigen Vereine schon auf sie.
Suse und ich waren im Fokus, wie Suse es warnend nannte und Widerstand ankündigte.
"Wir drei Weiber werden ja wohl Opas Aufgaben schaffen", gurrte Mama und strich uns liebevoll über die Haare, die sich bei Suse jetzt mal blau-weiß sträubten. Mama nahm auch sofort ihre Hand zurück, wahrscheinlich aus Angst, nun für immer eine anämische Hand zu haben. Und ich wollte auch nicht nur wegen einer erzwungenen Amtsübernahme gestreichelt werden.
Opa war Einkäufer, Abwäscher und Gärtner gewesen.
Den Vorgarten, der eigentlich allen Hausbewohnern gehörte, hatte Opa zu seinem Ersatzgarten gemacht, denn den richtigen Garten in der Kolonie "Grüne Kehle" hatte er verkauft, auf Omas Wunsch, weil es ständig zu Missverständnissen, wie Oma es nannte, gekommen war. Oma wollte der Natur, die da stand, keinen Einhalt gebieten, aber die Gesetzgeber der "Grünen Kehle" verlangten Johannisbeersträucher, Apfelbäume, Radieschen und Kartoffeln. Nach zehn Jahren waren Opas Nerven am Ende, weil der "Krieg an zwei Fronten", wie Opa es nannte, einfach nicht durchzuhalten war.
Das Vorgärtchen brachte ihm liebe Worte aller Mitbewohner, weil schließlich jeder sah, dass da was gemacht werden musste. Suse war schnell wie immer. Suse übernahm den Einkauf, damit war klar, dass der Vorgarten an mir hängen bleiben würde. Beim Abwasch versprach Mama, auch mal einzuspringen und war mit dem Wahlergebnis zufrieden.
"So", sagte Papa dann eines Abends, "heute war ich beim Amt und hab denen mitgeteilt, dass Opa abgehauen ist."
"Halbwaise", sagte Suse grinsend.
"Blödsinn", fuhr Mama sie an, "Opa ist ja nicht tot."
"So gut wie", fuhr Suse ungerührt fort, "vielleicht stirbt er morgen, dann ist sowieso alles zu spät. Weiß ja keiner, ob die ihn dann wieder rüberlassen."
Da stand Papa auf, um sich einen Schnaps zu holen, auch das darf er jetzt.
Er trank mal gleich mehrere und setzte zu einer längeren Rede an, denn sechs Schnäpse oder acht machen aus Papa eine Schwatzdrossel.
Vorausschicken will ich mal, der Ort, in dem wir leben, ist nicht sehr groß, aber sehr gesund, denn hier gibt es jede Menge Bäume, Wiesen, Felder und Wälder.
Hier ist alles grün, auch die Leute, wenn sie sich auch manchmal untereinander nicht grün sind. Frau Lächler, die Leiterin des Einwohnermeldeamtes, so heißt die Stelle, wo Papa Opas Abflug mitzuteilen hatte, ist mit Papa in eine Klasse gegangen, als er noch zur Schule ging. Mit anderen Worten, sie kennen sich Langem und Frau Lächler, die mit Vornamen Brigitte heißt, sagt zu Papa Du und Freddy und er sagt Gitti zu ihr und er hat sie in der Sechsten auch heimlich geküsst.
"Ach", soll sie gesagt haben, als Papa seine Mitteilung los war, "ach, das tut mir aber leid. Und ihr habt davon alle nichts gewusst? Hat er denn nie davon gesprochen?"
"Nein", soll Papa gesagt haben, "nie, wie denn auch, so was teilt man doch nicht mit, oder?"
"Naja", meinte Brigitte, "immerhin ist es Republikflucht und die will ja vorbereitet sein!"
Das passte Papa nicht in den Kram.
"Mein Vater ist nicht geflüchtet. Er will nur bei meiner Schwester, seiner Tochter leben. Ein alter Mann, den es zu seinem Kind zieht."
Mama hüstelte. "Mir kommen die Tränen", schnaufte sie. Da war Papa schon bei Gläschen acht.
"Ist doch aber so", erklärte er, ohne seine Zunge groß zu bewegen.
"Wenn du so alt bist und eins deiner Kinder dort leben würde ..."
"… würde ich auch nach drüben gehen", vollendete Mama seinen Satz.
Papa sah traurig zu ihr hin.
"Wie du das so sagst ... und was wird aus mir?"
Suse wurde ungeduldig.
"Weiter", drängte sie, "und dann, was hat die Lächler, also Gitti, denn nun gesagt?"
"Gitti, also du meinst, Frau Lächler, hat dann gesagt, dass sie in ihren Unterlagen einen entsprechenden Vermerk machen muss und dass unser Abschnittsbevollmächtigter vielleicht auch noch mal auf Rücksprache drängen könnte. Denn der Bürger Otto Pächfogel hätte ja nun, hin wie her, die Republik verlassen. Da will er vielleicht die Gründe wissen."
Papa hatte noch mal darauf hingewiesen, dass der Bürger schon Rentner sei und fahren könne, wohin er wolle und auch die ohnehin sensible sozialistische Wirtschaft entlaste mit seiner Abwesenheit.
"Schon, schon", Brigitte Lächler hätte nachsichtig gelächelt, "aber er ist ja nun mal weg und kommt wohl auch nicht wieder, oder?"
Papa muss wohl sehr trübsinnig ausgesehen haben, auch ohne Schnaps, und da hat er der alten Schulkameradin echt leidgetan, denn sie sei aufgestanden und um den Schreibtisch herumgekommen und hätte ihn gestreichelt und zum Verlust des Vaters mitgeseufzt. Dann aber hat sie ihm zugezwinkert und ins Ohr geflüstert, dass so etwas auch manchmal gar nicht so schlecht sein muss. Hätte doch alles seine zwei Seiten.
Papa sah uns an.
"Was hat sie denn nun damit gemeint?"
Wir schwiegen, weil wir Papa nicht wehtun wollten.
"Papa", sagte Suse dann so sanft wie möglich.
"Es könnte doch sein, Opa macht sich Gedanken, womit er uns eine Freude machen könnte. Also Jeans für mich oder auch für Pino ..."
Dass Suse dabei auch an mich dachte, fand ich überraschend und war sicher, dass sie es nur Papa zuliebe gesagt hatte, weil der immer sagte: Gleiches Unrecht für alle.
"Dass ihr euch da man nicht irrt", erklärte Papa plötzlich, "Sofie hält ihr Geld zusammen und wird Opa schon zeigen, womit er auszukommen hat."
"Das walte Hugo", ließ sich Mama hören, "da wird sich wohl einiges ändern.
Jetzt hat sie den Vater aus dem Osten da; ich hör sie schon jammern, die aus dem Osten essen viel, sind wählerisch und kälteempfindlich. Opa, die Frostbeule! Da wird sie noch ihr blaues Wunder erleben." Mama bekam einen Lachkrampf, aber wir warteten geduldig bis der vorbei war.
Dann stand Papa auf und verließ schweigend und leicht schwankend das Zimmer.
"Jetzt ist er beleidigt", konstatierte Suse und verschwand mit Paul Hase.
Mama goss sich einen Schnaps ein.
"Pinchen", sagte sie und hielt das Glas gegen's Licht, "mit wem man verheiratet sein will und vielleicht für ein ganzes Leben, das will gut überlegt sein."
Ich werde wahrscheinlich gar nicht heiraten. Wie ich die Generationen in meiner Wohnung so sehe, steht es wirklich nicht zum Besten.
Mama mit dem Schnaps vor dem Fernseher, Papa schnarchend im Bett, Opa im Westen, Oma im gemeinnützigen Verein, nur Suse, blöde lächelnd, schlief mit Paul Hase im Bett und träumte sicher von diesem Punk, ihrer neuesten Errungenschaft. Sie färbten sich jeden Tag die Haare neu, und gingen nicht nur Hand in Hand, sondern Ton in Ton zur Schule und das manchmal auch nicht. Aber das weiß nur die kleine Schwester und die weiß auch, wohin Suse und der Punk gegangen sind.
Ich fühlte mich ziemlich schlecht und wäre gern bei Opa gewesen, denn er war es, nach dem ich mich gerade im Stillen sehnte. Nach seiner großen warmen Hand, denn Opa trug auch im Winter keine Handschuhe, und wenn er mich auf sein Fahrrad nahm, konnte ich mich fest gegen ihn lehnen und er hat mich auch vor Luises Oma in Schutz genommen, die immer behauptete, ich würde den ganzen Dreck mit ins Treppenhaus tragen. Opa hat das geregelt und ich hab meine Schuhe von da an immer vor ihrer Tür abgetreten.
Vielleicht hat Opa auch eine warme Hand gefehlt, bloß wir haben es nicht gemerkt.