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Pflastersteindepot

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An diesem Morgen hatte sich beim Läuten des Weckers Julis Motivation in die Kissen verkrochen und sich den ganzen Tag nicht mehr blicken lassen. Das verband sie übrigens mit Sissy, die auch erst am Abend gekommen war, gerade als Juli vor Erschöpfung im von Kundschaft belagerten Glühweinstand zusammenbrechen wollte.

„Ich hab jetzt schon zweimal den Kocher nachgefüllt und Tassen geschleppt“, stöhnte Sissy nach einer Stunde und klang dabei, als müsse sie den ganzen Christkindlmarkt alleine schmeißen. „Ich verstehe wirklich nicht, warum sich Oma nicht einfach von ihren Kindern helfen lässt. Sowohl Mama als auch deine Eltern würden sie doch gewiss nicht hängen lassen!“

„Es ist nicht jedem gegeben, frohen Herzens die Hand aufzuhalten. Und speziell Oma würde lieber sterben als um Geld zu bitten, weil sie selbst es nicht schafft.“

„Aber sie schafft es eben nicht. Darum müssen wir auch den ganzen Tag schuften. Das scheint sie weniger zu stören!“

„Ach Sissy“, seufzte Juli. „Wir wohnen doch auch bei ihr. Da ist es nur fair, dass man aushilft.“

„Stimmt auch wieder.“ Sissy gab sich einsichtig und schlüpfte in ihre Jacke. „Wann fahren wir?“

Juli warf ihr über die Schulter einen erschöpften Blick zu. „Bist du nur gekommen, weil du dich bequem nach Hause chauffieren lassen wolltest?“

„Statt dass du dich freust, dass wir mal wieder zusammen nach Hause fahren. Peter hat mich versetzt und da können wir die Zeit für einen schönen Mädels-Abend nutzen.“

„Super“, seufzte Juli, die nach zehn Stunden Dienst am Glühweinstand keine Lust mehr auf Sissys Männergeschichten hatte. Aber es war sinnlos, sich gegen Sissys Pläne zur Wehr zu setzen. Genauso gut konnte man versuchen einen Großbrand auszuspucken.

„Juliiii“, quengelte Sissy. „Jetzt trödle doch nicht so herum. Man sollte meinen, du willst gar nicht mehr heim.“

„Ich bin nur zu müde für schnelle Aktionen.“

„Jetzt hab dich nicht so.“ Sissy wedelte ungeduldig mit den Schlüsseln. „Ich hab immerhin auch gearbeitet und jammere nicht halb so viel. Und das, obwohl ich mir um ein Haar meinen wunderbaren neuen Schottenrock mit diesem Glühwein versaut hätte.“

Mit einem Lächeln zog Juli den Rollladen an der Auslage herunter, schnappte sich wortlos den Schlüsselbund und schloss ab. „Ich komme schon.“

Sissy nickte. „Wir könnten uns unterwegs noch eine Pizza mitnehmen und dann gemütlich vor der Glotze abhängen. Heute kommt ein ultra-spannender Zombie-Film. Da habe ich morgen gleich was, um mit Paul zu plaudern. Das ist der heiße Typ mit dem schweren BMW, den ich im Fitness-Studio getroffen habe. Was meinst du?“

„Klingt gut“, log Juli, die viel lieber gemütlich in eine Decke gekuschelt vor dem Kamin gelesen hätte.

Trotzdem war es irgendwie schön, wie sie nun gemeinsam durch den einsetzenden Schneefall zum Parkplatz schlenderten, wo die Schausteller ihre Wagen abstellen durften. Familie eben.

Sissy sah stirnrunzelnd zum Himmel: „So ein blödes Wetter.“

„Wenn es im Dezember schneit, ist das doch schön“, widersprach Juli und blinzelte eine Flocke von ihren Wimpern.

„Vielleicht“, grummelte Sissy und schlug ihren Mantelkragen hoch. „Aber es ist zu warm. Das bedeutet Matsch statt Schnee und überfrierende Nässe.“

Auch der alte Lieferwagen ihrer Großmutter ließ sich bitten. Erst beim dritten Anlassversuch sprang der Motor hustend an.

„Was für eine Schrottkarre“, stöhnte Sissy und verdrehte dabei die Augen, während Juli in den abendlichen Verkehr einschwenkte.

„Da! Nimm ein paar von den Pflastersteinen, die übrig geblieben sind.“ Juli lächelte versöhnlich und wies auf die Tüte mit den Plätzchen, die neben dem Schaltknüppel lag.

„Bäh! Ich hab keine Lust auf noch mehr Zucker! Was hast du nur mit dem Süßkram? Jede Nacht bäckst du als gäbe es kein Morgen.“

„Das bringt gute Zusatzeinkünfte und wenn man die Arbeitszeit nicht berechnet, sind Plätzchen lukrativer als Glühwein.“

„Ja, wenn man die Arbeitszeit nicht berechnet…“ Dann fiel Sissys Blick auf den Sternchen-Anhänger in der Mittelkonsole. „Und was ist das da?“

„Ein Geschenk von einer Kundin. Frau Durgan. Sie ist mit Oma befreundet.“

„Plunder. Bestimmt hast du diese alte Schachtel sofort zum Dank auf einen Glühwein eingeladen. Und einen Keks dazu!“ Sissy schüttelte den Kopf. „Ich werde dich und Oma nie verstehen, wie man sein Herz an solchen Krempel hängen kann. Kitsch und unnötiger Ballast. Wertlose Staubfänger. Statt dass ihr euch mal was Vernünftiges schenken lasst. Etwas, das man brauchen kann. Ich zum Beispiel …“

„Sissy, es reicht!“ Juli funkelte ihre Cousine böse an. Musste sie sich wirklich alles zerreden lassen, das ihr etwas bedeutete?

Dabei fiel ihr Blick auf einen Fahrradfahrer, dem ein Taxi die Vorfahrt nahm und der daraufhin ins Straucheln kam, auf dem vom Schneematsch seifigen Belag sein Fahrrad nicht mehr halten konnte und schließlich auf die Straße stürzte. Dort blieb er trotz der quietschenden Reifen liegen. Juli lenkte den Lieferwagen an den Fahrbahnrand und hielt an.

„Du und dein Samariter-Gen“, spottete Sissy vom Beifahrersitz aus.

„Das würde jeder tun.“

„Außer den tausend Autos, die weiterfahren, als sei nichts gewesen …“

Doch Juli ignorierte Sissys Einwand, hopste aus dem Wagen, wäre dabei selbst fast gestürzt. Es war wirklich seifenglatt da draußen.

„Schalt den Warnblinker ein und stell das Warndreieck auf“, rief sie, bevor sie zu dem gestürzten Radler eilte. Juli packte ihn an den Armen und zerrte ihn von der Fahrbahn, bevor er noch überfahren wurde. Behutsam drehte sie ihn um.

„Du schon wieder?“, entfuhr es ihr, als sie Tilos zerschrammtes Gesicht sah. „Man sollte meinen, dass es in der Stadt keine anderen Idioten mehr gibt.“

Doch Tilo reagierte nicht. Auch nicht, als sie ihn behutsam schüttelte.

„Was für ein Tag“, seufzte Juli und beugte sich über ihn, um ihn zu beatmen.

Dieser Kurs, den man zum Führerschein machen musste, lag schon eine Weile zurück und so musste Juli erst überlegen, wie genau das noch einmal ging. Unbeholfen hielt sie Tilo die Nase zu und legte dann ihre Lippen über die seinen …

Oder vielmehr – hätte es getan, wenn er nicht in dem Moment die Augen aufgeschlagen hätte. Entsetzt fuhr sie zurück. Aber Tilo griff nach ihr und hielt sie fest. Sein Blick fixierte Juli förmlich, als sie sich einander im Schneeregen auf dem Gehweg völlig ineinander verloren anstarrten. Ein zur Ewigkeit gefrierender Augenblick, der sie auf magisch anmutende Weise für immer verbinden würde.

Juli war überzeugt, dass Tilo sie nun küssen würde. So war das immer in den guten Geschichten.

Doch Tilo grinste stattdessen. „Was für ein Anblick“, näselte er. „Aber nimm deine Finger aus meiner Nase.“

Von“, rief Juli empört und riss ihre Hand zurück. „Von meiner Nase. Soviel Zeit muss sein.“

Sie lehnte sich zurück, stand auf und reichte Tilo die Hand, um ihn hochzuziehen.

„Geht’s?“

Tilo kam leicht schwankend auf die Füße, blinzelte mehrmals und schüttelte sich schließlich. „Muss ja“, erklärte er auf Julis Frage.

Gemeinsam begannen sie, Tilos über die Straße und den Gehsteig verteilten Sachen aufzusammeln.

„Hier!“ Sissy, die auf dem Beifahrersitz gewartet hatte, stieg aus und reichte Tilo ein Desinfektionstuch. Sie hatte immer solche Sachen in der Handtasche.

„Das ist aber nett“, sagte der Trottel und ließ sich von Sissy das Blut von der Wange tupfen, während Juli mit dem verbeulten Fahrrad und einer durchweichten Tasche daneben stand und verpassten Gelegenheiten nachweinte. Immerhin sah man im Regen ihre Tränen nicht.

„Ich kann doch nicht zulassen, dass so ein wunderschönes Profil verunstaltet wird“, gurrte Sissy gerade. „Obwohl Blutrot gut zu deinen wunderbaren grauen Augen passt.“ Sie lachte verführerisch und Juli ertappte sich dabei, neidisch zu sein. Ihr Lachen war Ausdruck der Heiterkeit. Damit konnte man… nun ja… lachen, oder vielleicht Verlegenheit übertünchen, aber gewiss nicht verführen.

„Ich bin übrigens Elisabeth“, hauchte Sissy, während sie behutsam mit einem Finger entlang der nun gesäuberten Schramme über Tilos Wange zu seinem Kinn strich. „Sissy für Freunde. Ich studiere Medizin und kann dir helfen.“

Juli runzelte erstaunt die Stirn. Sissy studierte Medizin wie andere sich im Fitness-Studio anmeldeten. Nach dem Prinzip Hoffnung. Doch während die einen Pfunde verlieren wollten ging es Sissy darum, Schwergewichte zu finden.

„Ah“, lächelte Tilo auf eine Weise, die Juli einen Stich in der Brust versetzte, denn es galt Sissy. „Das trifft sich ja hervorragend.“

„Kennen wir uns? Du kommst mir so vertraut vor.“

„Vom Glühweinstand“, setzte Juli an, doch Tilo kam ihr zuvor: „Nein, gewiss nicht. Das hätte ich mir gemerkt.“

Natürlich, dachte Juli. Am Stand zeichnete sich Sissy in der Tat durch auffallende Unauffälligkeit aus. Die Gefahr, Arbeit aufgehalst zu bekommen, war einfach zu groß. Juli seufzte leise. Es war nicht so, dass sie an diesem Rüpel interessiert wäre, der außer einem guten Aussehen und schlechten Manieren nichts zu bieten hatte – das sicher nicht! Aber sie wollte nicht, dass Sissy einfach immer alles bekam, ohne dafür zu arbeiten. Auch wenn Neid etwas war, was Juli fürchterlich fand.

„Und was machst du?“, fragte Sissy gerade, während sie sich mit heftig klimpernden Wimpern nun doch einen Pflasterstein zwischen die Zähne schob und dabei bedeutungsvoll ihren tadellos manikürten Finger ableckte.

Juli fiel auf, wie rotweinfleckig ihre Hände waren.

„Ich bin momentan auch in der Medizin tätig. Daher kenne ich auch Juli“, erklärte Tilo und brachte damit Sissys Augen zum Funkeln. „Allerdings nur als Pfleger.“

„Oh…“ Das Funkeln erlosch. „Pfleger?“

In dem Augenblick beendete ein ohrenbetäubendes Krachen den ohnehin erkalteten Flirt.

Ein dicker Mercedes war auf den Lieferwagen aufgefahren, da Sissy natürlich weder den Blinker eingeschaltet noch das Warndreieck aufgestellt hatte.

„Oh Gott“, entfuhr es Juli, als sie sah, wie der Lieferwagen einen Satz nach vorne machte und dann eine der Türen scheppernd zu Boden fiel. Das sah teuer aus.

„Wunderbar!“, freute sich Sissy. „Jetzt bekommen wir einen neuen Lieferwagen. Wer einem anderen auffährt, haftet für den Schaden.“

„Sagt mal, seid ihr verrückt“, brüllte der Unfallfahrer, als er ausstieg. „Wie kann man an dieser Stelle einen Wagen ungesichert anhalten? Seien Sie froh, dass keine Personen zu Schaden gekommen sind.“

„Na, hören Sie mal“, begehrte Sissy auf. „Sie haben uns gerammt, nicht umgekehrt!“

„Hier hätten Sie gar nicht stehen dürfen“, beharrte der Fahrer. „Sie bekommen auf jeden Fall mindestens eine Teilschuld. Das dürfen Sie mir glauben. Ich bin Rechtsanwalt.“

„Oh“, sagte Sissy und wandte sich ihm mit neu gewonnenem Interesse zu. „Dann werden wir sicherlich eine gütliche Einigung finden. Wenn wir ohnehin eine Teilschuld bekommen, können wir auch gleich den Schaden auf uns nehmen. Die Versicherung bezahlt und raufgestuft werden wir sowieso.“

„Ihr Entgegenkommen ehrt Sie …“ sagte der Jurist und lächelte. „Lassen Sie uns in meinem Wagen die Personalien austauschen. Da werden wir nicht nass.“

„Sissy! Spinnst du?“, rief Juli durch den stärker werdenden Regen. „Wir brauchen den Wagen dringend. Ohne ihn sind wir am Ende…“

Doch Sissy hörte Juli gar nicht mehr zu und war bereits mit dem Fahrer in dessen Wagen gestiegen, um die Details zu regeln.

„Das nennt man wohl friendly fire“, bemerkte Tilo trocken. „Anwalt sticht Pfleger, scheint mir.“

„Tja“, seufzte Juli. „Sissy steht auf diese arroganten Bonzen, die statt einem Herz eine Brieftasche unter ihrer Jacke tragen. Der Mercedes war ein Teaser, aber auf Vokabeln wie Rechtsanwalt oder Oberarzt fährt Sissy total ab. Je schnöseliger, desto besser. Echt peinlich.“

„Meinst du mit peinlich die Schnösel oder Sissy?“ Tilo wirkte belustigt.

„Muss ich mich festlegen?“, fragte Juli zurück und ging dann zu ihrem Auto. Unglücklich besah sie sich den Schaden am Lieferwagen, der wirklich sehr ungeschickt erwischt worden war. Das war eine Katastrophe!

„Du wirkst bedrückt?“ Tilo war ihr gefolgt.

„Das ist eine Katastrophe!“, wiederholte Juli ihren letzten Gedanken noch einmal laut. „Ich brauche den Wagen, um Waren für den Glühweinstand einzukaufen. Morgen muss ich in aller Früh in den Großmarkt, um Zutaten zu kaufen und weiß nicht, wie ich das machen soll.“ Sie schluckte und lächelte verlegen, weil ihre Stimme zuletzt schon ziemlich piepsig geklungen hatte.

Hinter ihr startete der Mercedes und fuhr langsam an. Sissy ließ am Beifahrersitz das Fenster herunter. „Ich habe Roland besänftigt“, raunte sie Juli mit einem verschwörerischen Zwinkern zu. „Sonst hätte er uns bestimmt verklagt, immerhin ist er demnächst Sozius bei Von Wattenberg & Partner, einer sehr vornehmen Kanzlei in der Widenmayerstraße.“

„Ah“, stammelte Juli. „Und was ist mit unserem Wagen?“

„Was soll schon sein, Dummerchen? Ruf den Abschleppdienst. Mit der ausgehängten Tür und dem eingedrückten Radlauf kannst du nicht mehr fahren. Ich kümmere mich um Roland. Er will mich auf den Schreck zum Essen einladen.“ Sie lächelte. „Du musst mir nicht danken.“

Und dann fuhr sie davon. Mit Roland.

Während Tilo sein verbeultes Rad in den Laderaum des Lieferwagens wuchtete, starrte Juli ihr unglücklich hinterher. Jetzt erst fiel ihr auf, wie nass sie inzwischen war. Sie zitterte.

Tilo ergriff ihre Hand und drückte sie. Eine kleine Geste des Mitgefühls, die bei ihm überraschte. „Und nun?“

„Ich weiß es nicht. Ich muss den Abschleppdienst rufen und mir überlegen, wie ich das alles geregelt bekomme“, antwortete Juli mit Grabesstimme. Verlegen wollte sie Tilo ihre Hand entziehen, doch der ließ nicht los.

„Da ich an deinem Missgeschick nicht ganz unschuldig bin, könnte ich vielleicht einspringen.“

„Hast du einen Lieferwagen?“

Tilo schüttelte bedauernd den Kopf. „Irgendein Auto genügt nicht?“

„Nun ja...“ Juli war nicht sicher. Allerdings hatte sie keine Alternativen und außer einem seltsamen Bauchgefühl keinen richtigen Grund, das Angebot abzulehnen. Inzwischen war ihr so kalt, dass sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte.

„Macht es dir was aus, mich abzuholen?“, fragte Tilo in diesem Augenblick. „Ich wohne in der Nähe vom Ostbahnhof, in der Kirchenstraße. Das ist gar nicht weit vom Großmarkt.“ Er drückte ihr doch tatsächlich eine Visitenkarte in die Hand.

Der Herr Pfleger machte also auf vornehm. Das überraschte sie so, dass sie Tilos Vorschlag erst etwas verspätet vollends erfasste.

„Ich… dich?“, stammelte Juli dann verwirrt. „Du hast doch das Auto!“

„Ja, das wohnt da auch. Es hat ein eigenes Zimmer.“ Tilo grinste und winkte einem vorbeifahrenden Taxi, das sofort dienstbeflissen den Blinker setzte.

„Na gut“, sagte Juli und gab sich geschlagen. „Dann stehe ich morgen um sechs Uhr vor der Garage deines Autos.“

Tilo, der schon fast im Taxi saß, stutzte und sah sie entgeistert an. „Wann? Das ist ja noch vor dem Frühstück!“

„Um sechs“, wiederholte Juli betont neutral. „Ich gehe davon aus, dass du fertig bist. Oder soll ich früher kommen?“

Die Zimtsternprinzessin

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