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Lebkuchenparty

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Eigentlich wechselte sich Juli mit Sissy auch bei den Besuchen ihrer Großmutter ab. Eigentlich.

Aber irgendwie hatte Sissy immer gute Gründe, warum es ihr an ihren Tagen nicht passte. Arzttermine, Migräne, Freundinnen, die sie vor liebesbekümmerten Selbstmord bewahren musste …

Juli, deren Gesundheit deutlich stabiler war, vermutete, dass das daran lag, dass ihr Leben auch sonst in viel langweiligeren Bahnen verlief. Und sie fragten auch Freundinnen nicht um Rat in Liebesaffären. Vermutlich, weil Juli – anders als Sissy – weder mit dramatischen Beziehungen noch mit spektakulären Trennungen aufwarten konnte.

Jedenfalls führte das dazu, dass es Juli war, die nun täglich vor Eröffnung des Christkindlmarktes im Krankenhaus vorbei sah, um dort ihrer Großmutter wenigstens ein bisschen Gesellschaft zu leisten. Es war schon traurig, dass die gesamte Großfamilie über die halbe Welt verstreut lebte. Auch Juli war erst zum Studium nach München zurückgekehrt und heilfroh, dass sie in dem alten Hexenhaus am Stadtrand bei ihrer Oma untergekommen war. Die Mieten in der Stadt hätte sie sich auch als ausgebildete Lehrerin mit Festanstellung nicht leisten können.

Sissy, die keine Hemmungen hatte, sich von ihrer hart arbeitenden Mutter, Studiengeld auszahlen zu lassen, wurde dagegen nicht müde, über die elende Bruchbude zu schimpfen. Trotzdem war sie auch im Hexenhaus untergekommen, nachdem das letzte Gym-Girl mit einem Babybauch die arme Sissy von ihrem goldenen Thron gestoßen hatte. Und seither ließ sie alle wortreich an ihrem Leid teilhaben.

Manchmal fragte sich Juli, die wann immer sie ein paar Euro verdienen konnte, Miete zahlte, warum sie das dumme Weib auch noch deckte, wenn wieder einmal Geschirr oder Wäsche liegen geblieben waren. Stattdessen räumte sie noch hinter ihr auf. Der Klügere gibt nach, hieß es.

Ja“, schnaubte Juli, während sie endlich einparkte und den Weg zur Klinik einschlug. „Solange, bis er selbst der Dumme ist.“ Soweit es sie betraf, konnte man kaum noch dümmer sein. Ein irgendwie deprimierender Gedanke. So oder so, denn dieses Verhalten besiegelte die Weltherrschaft der unverschämten Idioten.

„Juli!“, begrüßte sie eine übermüdet aussehende Schwester. „Wie schön, dass Sie da sind! Ihre Großmutter erwartet Sie schon. Sie hatte keine gute Nacht. Die Operation verlief gut, aber die Wunde schmerzt eben.“

„Die Ärmste“, seufzte Juli und zog ein Päckchen aus der Tasche. „Ich habe hier für euer Team ein paar Lebkuchen. Es ist nicht viel, aber es kommt von Herzen.“

„Das ist aber lieb“, sagte die Krankenschwester und nahm das Päckchen entgegen. Ihre Freude wirkte ehrlich.

Lächelnd ging Juli weiter.

„He!“ Fast wäre sie von einem Pfleger, der gerade ein leeres Bett vor sich her aus einem der Zimmer schob, über den Haufen gefahren worden. „Pass doch auf!“

„Entschuldigung …“, stammelte Juli, die den Kerl wirklich nicht gesehen hatte. „Ich war in Gedanken.“

„Das verstehe ich“, bemerkte der Pfleger bissig. „Das muss dich total überrascht haben. So unverhofft einem echten Gedanken zu begegnen.“

Kopfschüttelnd wollte er schon an ihr vorbeifahren, als er Juli erkannte und siegessicher angrinste. „Du bist das Zimtsternchen vom Glühweinstand! Was machst du denn hier?“

„Mir war nach schlechtem Benehmen und deshalb hab ich nach dir gesucht“, erwiderte Juli mit spöttisch schief gelegtem Kopf.

„Freut mich, dass ich einen so bleibenden Eindruck hinterlassen habe.“

Dieses Mal erreichte sein Lächeln tatsächlich seine Augen.

Wie konnte man nur auch noch stolz darauf sein, für einen Trampel gehalten zu werden. Der Kerl hatte ein Ego groß wie ein Kleiderschrank!

„Schau nicht so bös. Das gehört zu meiner Rolle als Bad Boy. Du musst dagegen süß sein, Zimtsternchen.“

„Ich heiße Juli“, sagte Juli betont würdevoll. Was bildete der Kerl sich denn ein?

„Dafür kannst du nichts.“ Er lachte, während er nun endgültig das Bett an ihr vorüberschob. „Aber mach dir nichts draus. Mein Name ist auch nicht besser.“

„Und wie heißt du?“, rief Juli ihm hinterher, doch zu spät. Er war schon in einem Aufzug verschwunden.

Also ging Juli weiter.

„Juli, mein Sonnenschein!“, begrüßte sie kurz darauf ihre Großmutter und kämpfte sich hektisch im Bett in eine aufrechte Position. „Wie schön, dass du kommst. Mit dir zieht immer ein Stück Sommer in diese tristen Hallen.“

„Dabei mag ich den Winter lieber“, erwiderte Juli und bückte sich zu ihrer Oma, um ihr ein Küsschen auf die Wange zu drücken.

Wie edles Pergament fühlte sich die Haut unter ihren Lippen an. Zart und trocken, kühl und sehr empfindlich.

„Ach Juli, man wünscht sich immer, was man nicht hat. Das ist der Fluch unserer Rasse, die uns immer weiter vorwärts treibt – zum Guten wie zum Schlechten.“

„Wie geht es dir denn, Oma?“

„Lohnt nicht zu jammern, meine Liebe. Im Alter heilt halt alles schlechter und die Einsamkeit schlägt einem auf die Laune. Es ist wirklich tragisch, dass all meine Kinder so weit fortgezogen sind.“ Sie ergriff Julis Hand. „Kommen deine Eltern denn zu Weihnachten?“

Juli schüttelte den Kopf. „Dad hat einen Job in Südafrika angenommen und Mama begleitet ihn natürlich. Sie haben mir höflich zu verstehen gegeben, dass es nicht nötig ist, sie zu besuchen. Wir sind also Weihnachten unter uns. Nur wir zwei.“

„Und was ist mit Sissy? Wie kannst du nur deine eigene Cousine vergessen?“

„Sissy…“, begann Juli gedehnt. Vergessen war nicht das richtige Wort. Verdrängt wäre treffender. „… bedauert es sehr, dass sie Weihnachten nicht mit uns feiern kann. Aber eine Freundin hat sie auf eine Skihütte nach Kitzbühel eingeladen. Nachdem die erst kürzlich von ihrem Freund verlassen wurde, konnte sie das nicht absagen. Singles müssen zusammenhalten.“

„Sissy ist immer so hilfsbereit.“ Ihre Großmutter seufzte. „Ein Herz aus Gold, findest du nicht?“

Und ungefähr genauso einfühlsam, dachte Juli und lächelte nur still.

„Wie geht es euch denn mit dem Stand? Ich bin so froh, dass Sissy mich vertritt. Und es ist auch sehr lieb von dir, dass du ihr so fleißig hilfst. Wenn ich könnte, würde ich dir auch etwas dafür bezahlen. Ach, dass immer so wenig Geld da ist.“

„Alles gut, Oma“, sagte Juli ruhig. „Reg dich nicht auf. Wir haben wirklich alles im Griff. Und der Umsatz ist trotz des furchtbaren Wetters nicht so schlecht.“

„Ihr seid so gut, alle beide, aber ich weiß wirklich nicht, wie ich künftig zurechtkommen soll. Mit der Pflege und den Zusatzkosten. Wenn das nicht besser wird, sterbe ich. Spätestens, wenn der Gerichtsvollzieher kommt.“

„Reg dich nicht auf“, wiederholte Juli. „Das bekommen wir schon alles irgendwie geregelt.“ „Ach Juli, das ist nett.“ Julis Oma drückte fest ihre Hand, die sie immer noch umschlossen hielt. „Und was gibt es Neues?“

Von der neuesten Post sollte Juli wohl besser nichts erzählen. „Gestern war eine Freundin von dir am Stand und hat nach dir gefragt.“

„Ah? Das ist ja nett! Welche war es denn?“

„Dahlia Durgan. Die war lustig, wie ein gealtertes Hippie-Girl.“

„Dahlia?“ Julis Oma blinzelte erstaunt. „Von ihr habe ich seit Jahren nichts gehört. Das ist ein gutes Omen, wenn sie jetzt auftaucht. Was hat sie denn gesagt?“

„Nicht viel. Außer, dass sie dich besuchen wollte.“

Juli lächelte und zog eine Tüte aus der Tasche. „Schau, das hat sie mir geschenkt. Drei Sternchen-Anhänger. Schade, dass wir keinen Christbaum haben.“

Ihre Großmutter nahm die Tüte entgegen und holte die Sternchen heraus. Schlichte, aber sehr filigrane Porzellan-Anhänger, weiß mit einem fein gezeichneten zimtbraunen Rand.

„Wieso hat sie dir etwas geschenkt?“

Juli sah erstaunt auf. In der Stimme ihrer Großmutter lag plötzlich ein misstrauischer Unterton. Mit so einer Reaktion hätte sie nun wirklich nicht gerettet.

„Nur so“, Juli zuckte ratlos die Schultern. „Vielleicht weil ich so charmant bin?“

„Lass dich nicht von dem schrillen Aufzug und bunten Kleidern täuschen, Juli. Dahlia tut nie etwas ohne Grund“, widersprach Oma ernst. „Was hat sie zu dem Geschenk denn gesagt?“

„Nicht viel“, erwiderte Juli etwas ratlos. „Dass manchmal das Glück Pfandmarken braucht. Wir hatten nämlich gerade über das Wünschen gesprochen.“

Oma warf ihr einen misstrauischen Blick zu, aber Juli, die eigentlich nicht hergekommen war, um sich über Frau Durgan ausfragen zu lassen, fuhr schnell fort: „Wünsche sind – da waren wir uns einig – dazu da, um erfüllt zu werden. Und deshalb habe ich auch was mitgebracht…“

Rasch zog sie eine Tüte mit frisch gebackenen Lebkuchen hervor, bei denen sie nach Omas Rezeptur ein wenig Zimt und Orangenabrieb in die Kuvertüre gegeben hatte.

„Oh, das duftet aber verführerisch. Woher wusstest du denn, dass ich mich nach einem guten Frühstück sehne?“

„Du hast mir von deiner Krankenhaus-Diät in all ihren schaurigen Details erzählt.“

„Wohl eher kümmerlich“, ließ sich Herr Koller aus dem Nachbarbett vernehmen. „Das Essen ist kümmerlich.“

„Deshalb habe ich genug Lebkuchen für alle dabei“, erklärte Juli, während sie lustige Rentierservietten aus ihrer Tasche zog und an Herrn Koller und Frau Dvorak verteilte. „Sogar für die Pfleger habe ich noch welche.“

„Hm“, sagte Frau Dvorak. Sie klang unentschlossen, wobei Juli nicht recht wusste, woran das lag. Frau Dvorak war zwar wegen einer Knie-OP im Krankenhaus, aber eine Schokoladenentzugskur hätte auch nicht geschadet. Ihr Bett war regelmäßig voller Schokoflecken und ihr Nachttisch sah aus wie die Auslage eines Süßwarenladens.

„Ich hole erst einmal für uns alle Kaffee auf dem Stationszimmer“, verkündete Juli und machte sich auf den Weg. „Braucht jemand Zucker oder Milch?“

Als sie kurz darauf ein Tablett mit vier dampfenden Kaffeetassen zurück zu Omas Krankenzimmer balancierte, war Juli froh, die Tür zum Zimmer offen vorzufinden.

„Also was ist jetzt?“, klang es ihr jedoch so unfreundlich entgegen, dass sie unwillkürlich in dem kurzen Gang am Badezimmer vorbei stehen blieb. „Frau Dvorak, ich kann Ihnen versichern, dass es mir auch keinen Spaß macht, Ihnen bei der Körperpflege zu helfen, aber davon sollten wir uns schon aus Rücksicht auf Ihre Zimmergenossen nicht aufhalten lassen.“

„Aber…“, protestierte Frau Dvorak verzweifelt, „… Sie sind ein Mann.“

„Das ist richtig und auch nicht weiter verhandelbar. Und ein vielbeschäftigter Mann noch dazu, also was ist jetzt?“ In der Stimme des Pflegers, der vor Frau Dvoraks Bett stand, schwang gereizte Ungeduld. Wie konnte es sein, dass das schon wieder dieser ungehobelte Kerl war, der sie gestern schon am Glühweinstand so geärgert hatte?

„Sie meint es nicht böse“, sagte Oma da gerade ruhig. „Es ist ihr nur peinlich. Verstehen Sie das denn nicht? Das ist gar nichts Persönliches.“

„Bei mir auch nicht“, sagte der Pfleger. „Das ist der Pflegenotstand. Wir haben uns das alle nicht ausgesucht.“

„Ich kann das machen“, rief Juli, ging zu dem Tisch, um das Tablett abzustellen und die einzelnen Kaffeetassen zu verteilen. „Das macht mir nichts aus, ist für Frau Dvorak angenehmer und entlastet Sie.“ Lächelnd hielt sie ihm die eigentlich für sie selbst vorgesehene Tasse hin „Möchten Sie auch einen Kaffee, frisch aufgebrüht und einen selbst gemachten Lebkuchen dazu?“

„Wir waren schon beim Du“, sagte der Pfleger, nahm aber tatsächlich den Kaffee. „Aber sag mal, stalkst du mich, oder was machst du schon wieder hier?“

„Äh … was?“ Irritiert blinzelte Juli. „Wenn überhaupt, wird da doch umgekehrt ein Schuh daraus. Du hast mich an meinem Glühweinstand angemacht, dann hier im Gang mit einem Bett gerammt und jetzt bist du schon wieder da, genau in dem Moment, in dem ich meine Oma besuche?“

„Tilo arbeitet auf der Station“, warf Herr Koller hilfsbereit ein. „Wobei er gut daran täte, wenn er so einem schlauen, fleißigen, lieben Mädel nachsteigen würde. Was Besseres wird er nicht finden.“

„Das ist gut möglich, weil er nicht auf der Suche ist“, bemerkte Tilo, lächelte aber dabei. Juli fiel auf, dass dabei das Grau seiner Augen gleich etwas heller, freundlicher wirkte. Faszinierend.

„Es ist auch einerlei.“ Entschlossen drückte Juli ihm einen Lebkuchen in die Hand und zog den Vorhang vor Frau Dvoraks Bett zu, die nun vor Erleichterung fast weinte. „Wir machen uns jetzt hübsch und ihr alle habt mal kurz Pause. Es sind noch Lebkuchen in der Tüte auf dem Tisch.“

„Und warum machst du das?“, fragte Tilo mit vollem Mund.

„Weil es mir nichts ausmacht und Frau Dvorak freut.“ Juli konnte ihn hinter dem Vorhang nicht sehen, aber es klang, als würde er solche Selbstverständlichkeiten wirklich nicht verstehen.

„Ich verstehe das nicht“, verkündete er prompt. „Diese Art von Gutmenschentum ist mir suspekt. Kein Mensch tut etwas ohne Grund.“

„In was für einer traurigen, kalten Welt du leben musst, wenn du immer nur an dich denkst.“ Juli blieb ruhig und half geduldig Frau Dvorak mit dem Waschlappen.

„Na ja“, klang es von draußen. „Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht. Ich pass auf mich selbst auf und falle damit keinem zur Last.“

Juli rollte mit den Augen. „Dann wünsche ich dir von Herzen, dass du in deiner traurigen, kalten Welt dann, wenn du doch einmal Hilfe brauchen kannst, auch einen dieser Gutmenschen findest, der dir hilft. Ich werde mich jedenfalls nicht dafür entschuldigen, dass ich versuche, mit meinen bescheidenen Mitteln, diese Welt wenigstens ein kleines bisschen besser zu machen.“

Frau Dvorak lächelte glücklich und drückte Julis Hand, bevor sie den Vorhang wieder aufziehen konnte. „Nicht nur ein kleines bisschen. Aber wenn Sie sich selbst ein kleines bisschen mehr gönnen würden, wäre das auch nicht schlimm.“

Erst auf dem Nachhauseweg bemerkte Juli, dass irgendwann an diesem langen Tag einer der Sternchenanhänger von Frau Durgan zerbrochen war.

Sicherheitshalber legte Juli die verbleibenden Sterne in die Mittelkonsole des alten Lieferwagens. Dort war er sicherer als in ihrer Tasche.

Die Zimtsternprinzessin

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