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a) Benedikt von Nursia, Cassiodor und die Rolle der Klöster
ОглавлениеMedizinische Fachliteratur im Frühmittelalter
Das hippokratische Corpus wie auch die Schriften Galens, Dioskurides’, Plinius’ oder anderer (spät)antiker Autoren, viele von ihnen der berühmten Schule von Alexandria zugehörig, fanden ihren Weg in die frühmittelalterliche Gesundheitspflege sowie die Heil- und Arzneimittelkunde über die Skriptorien der Klöster. Der überwältigende Teil der bis zum Ende des 5. Jahrhunderts überlieferten medizinischen Fachliteratur war in griechischer Sprache verfasst. Angesichts der weitreichenden Beherrschung des Griechischen unter den Gebildeten während der Blütezeit Roms, war die Ausformung einer eigenständigen lateinischen Medizinalliteratur weitgehend unterblieben. Das Erlöschen des weströmischen Kaisertums 476 / 480 und schließlich die siegreiche Schlacht des Frankenkönigs Chlodwig gegen den römischen Statthalter Syragius beim nordgallischen Soissons an der Aisne 486, mit der zugleich der letzte Überrest der einstigen Herrschaft beseitigt wurde, bedeuteten zugleich einen tiefen Einschnitt für Bildung und Geisteskultur im Allgemeinen wie für die Vermittlung medizinischen Wissens im Besonderen.
Kaum jemand beherrschte noch das Griechische, geschweige denn vermochte die in der fremd gewordenen Sprache verfasste medizinische Literatur zu verstehen. Erst die Gründung der berühmten Schule von Salerno im 11. Jahrhundert sollte den entscheidenden Wendepunkt medizinischer Wissensvermittlung im mittelalterlichen Westen und einen Neuanfang unter Anknüpfung an die antiken Wurzeln markieren. Dieser Neubeginn war derart herausragend, dass die davor liegenden rund fünf Jahrhunderte aus der Sicht der Medizingeschichte gemeinhin als die „vorsalertanische Periode“ bezeichnet werden. Diese war geprägt von der Kultur der Klöster, der geistigen Zentren des frühmittelalterlichen Abendlandes. In ihnen und in den Kathedralschulen schickte man sich an, die überlieferten Schriften zu kopieren und das antike Erbe durch Übersetzung zu bewahren, zu interpretieren und angereichert mit christlichen Vorstellungen zu überarbeiten. Zwischen dem 5. und dem 7. Jahrhundert wurden auf diese Weise griechische Medizinalschriften in breitem Umfang rezipiert. Die daraus resultierende Entstehung medizinischer Fachliteratur in lateinischer Sprache war zunächst gekennzeichnet durch die Erstellung mehr oder weniger umfangreicher Sammelhandschriften nach griechischem Muster, in denen maßgeblich erscheinende Texte verschiedener Autoren zusammengestellt waren. Eine Technik, die – wie sich bald zeigte – dem Bedarf nach kompakter, einfacher und anschaulicher Darstellung zuwiderlief. Zuviel Theorie lastete auf den klassischen Werken. Auch im griechischsprachigen Osten war man sich dieses Problems bewusst. Deshalb entstanden dort schon im 4. und 5. Jahrhundert vor allem kleinere Schriften, die in Form von Briefen oder Dialogen einfache Anleitungen für die ärztliche Praxis boten und die zwei Jahrhunderte später in großem Umfang ins Lateinische übertragen wurden.
Benedikt von Nursia
Eine besondere Rolle bei der Bewahrung des antiken Heilwissens und seiner Nutzbarmachung nach christlichen Leitlinien spielte dabei zunächst das 529 von Benedikt von Nursia gegründete Kloster Montecassino. Der Gründer des Benediktinerordens erhob in seiner für die Mönchsgemeinschaft geschaffenen Regel, der Regula Benedicti, die Fürsorge für Kranke, Schwache und Arme nach dem christlichen Gebot der Nächstenliebe zu einer Grundlage klösterlichen Lebens. Findet sich mit der Benediktsregel das weitreichende spirituelle Grundgerüst für die Ausübung heilkundlicher und gesundheitspflegerischer Tätigkeit in den Klöstern, so sorgte wenige Jahre nach dem Tod Benedikts am 21. März 547 ein anderer Klostergründer für die umfassende Weitergabe hierzu nötigen Wissens. Der um 490 geborene römische Politiker, Gelehrte und Schriftsteller Flavius Magnus Aurelius Cassiodorus verließ um das Jahr 550 seinen weltlichen Lebensweg und gründete in seiner kalabrischen Heimat nahe dem heutigen Squilace das Kloster Vivarium. In Cassiodors Mönchsgemeinschaft wurde nicht nur gemäß der benediktinischen Formel gebetet und gearbeitet. Vielmehr widmeten sich die Brüder den so genannten septem artes liberales, den sieben freien Künsten, und nicht zuletzt der Medizin.
E
Septem artes liberales
Die septem artes liberales, die sieben freien Künste, unterteilen sich in zwei Gruppen. Die erste, das so genannte Trivium, umfasst die in Verbindung mit der Sprache stehenden Wissenschaften der Grammatik, der Rhetorik und der Dialektik. Die zweite, das so genannte Quadrivium, befasst sich mit der Ordnung der Zahlen und setzt sich aus der Geometrie, der Arithmetik, der Astronomie und der Musik zusammen. Die Medizin wurde nur gelegentlich zu den Künsten gerechnet. Ausgehend von den Leitgedanken Cassiodors wurde das Modell der septem artes liberales zur Grundlage des Unterrichts an den mittelalterlichen Kloster- und Domschulen sowie der Ausbildung an den später entstandenen Universitäten.
Cassiodor
Im Rahmen seines Institutiones betitelten Werkes gab der Klostergründer von Vivarium den Angehörigen der monastischen Gemeinschaft die programmatische Weisung, das klassische Wissen zu studieren. Besondere Sorgfalt empfahl Cassiodor in seinem Werk für das Studium der Medizin. Zugleich umriss er für jene Brüder, die in der Krankenpflege wirkten, den Kanon der Schriften, die ihm für die qualifizierte Ausübung dieser verantwortungsvollen Aufgabe unerlässlich erschienen. Wer des Griechischen nicht mächtig sei, solle die lateinische Fassung des Kräuterbuches Dioskurides’ verwenden. Ferner sollten die pflegenden Brüder die Übersetzungen Hippokrates’ und Galens Therapeutik an den Philosophen Glaukon lesen, darüber hinaus den Traktat Caelius Aurelius’ über die Medizin, den Kräutertraktat Hippokrates’ und schließlich auch andere medizinische Kompendien der klösterlichen Bibliothek.
Isidor von Sevilla
Der um das Jahr 560 geborene Enzyklopädist und spätere Bischof von Sevilla, Isidor, wies der Medizin in seiner Auseinandersetzung mit Cassiodors Artes-Modell schließlich den Platz einer secunda philosophia, einer zweiten Philosophie, zu. Diese setzte nach Isidor die Kenntnis der sieben freien Künste bereits voraus, sodass sie nicht selbst zu den artes gehören könne. Zwar verfasste Isidor von Sevilla auch einige medizinisch bedeutsame Kapitel im Rahmen seiner Werke, doch gilt die Abfassung seiner so genannten Etymologiae für die weitere Entwicklung der frühmittelalterlichen Heilkunde und Gesundheitspflege als seine wichtigste Leistung. Seinem Titel entsprechend bietet das Werk Worterklärungen unter Rückgriff auf Ableitungen und Definitionen bekannter Verfasser medizinischer Schriften, mit deren Hilfe das Verständnis der klassischen Texte erst möglich wurde. Die entscheidenden theoretischen Grundlagen waren nunmehr gelegt. Das goldene Zeitalter der zu Recht so genannten Klostermedizin war angebrochen.