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Kapitel Drei

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Rhys

Mittwoch, 10:00Uhr

„Ha! Jetzt hab ich dich, du rotbärtiger Bastard!“

Rhys Macaulay grunzte, während er das Heft seines Langschwertes fester packte. Seine Lippe zog sich zurück, sodass er die Zähne bleckte, als seine Finger den Bruchteil eines Zentimeters verrutschen. Seinem Sparringpartner entging das natürlich nicht. Gabriel kreiste nach links, wobei seine Sneakers bei jeder Bewegung auf dem Gummiboden des Fitnessraums des Herrenhauses quietschten. Rhys veränderte seinen Griff erneut, aber es war vergebens. Er und Gabriel übten bereits seit fast zwei Stunden und Rhys‘ Hände waren schweißnass.

„Du trocknest deine Hände mit Magie, du englischer Scheißkerl“, beschuldigte Rhys ihn, dessen Wut seinen schottischen Akzent dermaßen verstärkte, dass er ihn selbst heraushören konnte.

„Ich dachte, du hättest gesagt, im Kampf gäbe es keine Regeln“, konterte Gabriel, dessen vornehmer Londoner Akzent an Rhys‘ Nerven zerrte. „‘Streu ihnen Sand in die Augen‘, hast du gesagt, ‘Wenn sich die Gelegenheit ergibt, tritt einen Mann, solange er unten ist‘.“

Rhys schnaubte über Gabriels Imitation seines schottischen Dialekts.

„So klinge ich nicht“, widersprach Rhys.

Gabriel wählte diesen Moment für seinen Angriff, indem er einen cleveren Schlag ausführte, um Rhys das Schwert aus der Hand zu schlagen, während er auf Rhys‘ ungeschützte Rippen zielte. Gabriel stoppte seinen Schwertschwung einen Zentimeter entfernt von Rhys‘ Haut, was an sich schon eine beeindruckende Leistung war. Rhys hatte sich in den ersten Monaten ihres Trainings zu genau diesem Zweck viel Mühe damit gegeben, Gabriel streng zu unterrichten. Es war vergebene Liebesmühe, jemanden zu trainieren, der nicht einmal die Kontrolle besaß, seinen Lehrer nicht zu verletzen.

„Ich würde das als Sieg verbuchen, was meinst du?“ Gabriel bedachte Rhys mit einem selbstgefälligen Grinsen. Anschließend trat er einen Schritt zurück, senkte sein Schwert und fuhr sich durch seine dunklen, schweißnassen Locken. Gabriel hatte es weit gebracht, seit sie alle im Herrenhaus angekommen waren. Nach einigen Monaten intensiver täglicher Workouts war seine Figur sehr viel kompakter geworden. Er war jetzt fast so breit und muskulös wie Rhys, aber etwas schlanker, was Gabriel eine zusätzliche Dosis Anmut verlieh.

„Halt verdammt nochmal den Rand, Schönling.“

Rhys rollte mit den Augen und tat so, als würde er den Kampf beenden. In der Sekunde, in der Gabriels Aufmerksamkeit nachließ, stürzte sich Rhys auf ihn und schon befand sich sein Schwert nur eine Haaresbreite von Gabriels Hals entfernt. Er zwang Gabriel auf die Knie und dazu, sein Schwert fallen zu lassen, während seine Augen boshaft funkelten.

„Ich gebe auf“, zischte Gabriel.

Rhys zog sein Schwert zurück und grinste und nach einem Moment ließ Gabriel ein verärgertes Glucksen verlauten.

„Du kannst es wirklich nicht ertragen zu verlieren, oder?“, fragte Gabriel und ergriff Rhys‘ dargebotene Hand.

„Das ist es nicht, Gabriel. Ich will, dass du verstehst, dass außerhalb dieses sicheren kleinen Kokons“, erklärte Rhys und drehte einen Finger im Kreis, um auf das Herrenhaus hinzuweisen, „die Leute nicht fair kämpfen. Sie kämpfen schmutzig, weil sie dadurch gewinnen. Wenn sie dich auf irgendeine Weise bewegungsunfähig machen können, dann haben sie gewonnen. Sie spucken auf Ehre.“

Gabriels Lippen kräuselten sich noch einmal und er zuckte mit den Schultern.

„Bald“, prophezeite er Rhys und deutete mit einem Finger auf ihn. „Wir trainieren mittlerweile ein Jahr zusammen. Letzte Woche habe ich Aeric geschlagen und du bist der Nächste.“

„In deinen Träumen, Junge“, sagte Rhys, lief zur Wand und hängte sein Übungsschwert an die dortige Halterung.

Gabriel folgte seinem Beispiel und warf Rhys einen skeptischen Blick zu.

„Ich bin nur vier Jahre jünger als du“, merkte Gabriel an.

„Ja und unser Leben, bevor wir Wächter wurden, hätte nicht unterschiedlicher sein können“, entgegnete Rhys achselzuckend. „Ich wurde als der erstgeborene Sohn eines Highland-Clanführers großgezogen. Von jungen Jahren an lastete eine große Verantwortung auf mir. Mit sieben Jahren war ich täglich auf dem Trainingsplatz, mit zwölf Jahren trainierte ich andere, mit zweiundzwanzig Jahren kämpfte ich für den König. Ich wusste immer, dass ich…“

Rhys brach mitten im Satz ab. Mein Volk regieren würde, hatte ihm auf der Zungenspitze gelegen, aber er konnte die Worte nicht aussprechen. Sein Kiefer verspannte sich, als er zum vielleicht tausendsten Mal im vergangenen Jahr darüber nachdachte, dass er in Wahrheit nie wieder irgendjemanden regieren würde. Er hatte dieses Recht in der Sekunde geopfert, in der er einen Deal mit Mere Marie eingegangen war.

„Rhys… wir haben nicht mehr 1764“, erinnerte Gabriel ihn und warf ihm einen halb mitleidigen Blick zu, bei dem sich Rhys‘ Magen verknotete. „Wir befinden uns im Jahr 2015 und du musst dich an die Tatsache gewöhnen, dass du jetzt ein Wächter bist. Eine einfache Arbeitsbiene in Mere Maries kleinem Bienenstock, der New Orleans beschützt. Es ist ja auch nicht so, als wärst du der Einzige, den sie einige hundert Jahre in der Zeit nach vorne befördert hat, damit er Soldat spielt.“

Rhys‘ Kiefer mahlte bei Gabriels lässigem Tonfall. Es stimmte wohl, dass Rhys seinen Clan aufgegeben und sein Recht zu Regieren gegen Mere Maries Versprechen eingetauscht hatte, dass sein Volk überleben und trotz zahlreicher Bedrohungen gedeihen würde. Das hieß aber nicht, dass Rhys sein ganzes vorheriges Leben vergessen oder so tun müsste, als würde er seine Entscheidung nicht betrauern. Rhys und Gabriel hatten exakt diese Diskussion im Verlauf des vergangenen Jahres mehrmals geführt, sowie die Macken und Schwächen des anderen kennengelernt, während sie daran gearbeitet hatten, zu einer geeinten Kampfeinheit zu werden.

Der dritte Wächter in ihrem Team… tja, er war ein großartiger Kämpfer, aber er war auch um einiges weniger freundlich. Für Rhys war Aeric, der Wikingerkrieger, der irgendwie in ihrer Gruppe gelandet war, immer noch eine Art Rätsel.

„Ich bin am Verhungern“, verkündete Gabriel, womit er Rhys aus seinen Gedanken riss. Rhys glaubte, dass Gabriel wahrscheinlich das Thema wechselte, um Rhys ungesunden Gedankengang zu unterbrechen. Rhys wusste, dass Gabriel dies wegen ihrer neuentdeckten Freundschaft tat. Die zwei Männer hatten im vergangenen Jahr zu einer Art stillschweigender Übereinkunft gefunden, anders als mit Aeric. Aeric war immer noch distanziert und blieb meist für sich.

„Na schön“, sagte Rhys und wischte sich über die Stirn. „Ich habe gesehen, wie Duverjay einige Sandwiches zubereitet hat, als wir auf dem Weg hierher waren.“

Gabriel und Rhys verließen den Fitnessraum und liefen nach draußen über die große Grünfläche, die den wenig genutzten Garten des Herrenhauses darstellte. Sie betraten das Haupthaus und passierten das Wohnzimmer, um stattdessen direkt in die Küche zu laufen, wo der Butler des Herrenhauses, Duverjay, mehrere Gatorades auf einer Schale mit Eiswürfeln drapierte. Der kleine Kreole war am ersten Tag nach Rhys Ankunft im Herrenhaus erschienen, bereit, sich um ihre Bedürfnisse zu kümmern. Rhys war sich allerdings ziemlich sicher, dass Duverjay außerdem Mere Marie jede einzelne ihrer Bewegungen meldete.

„Ah, Duverjay, du weißt wirklich immer, was ich möchte“, foppte Gabriel ihn. Duverjay zog eine Braue hoch, aber reagierte ansonsten nicht. Der Mann war ein Butler der klassischen Schule und würde genauso wenig auf Gabriels Geplänkel eingehen, wie er einen Arbeitstag in Flipflops beginnen würde.

Die Wächter triezten Duverjay gnadenlos wegen seines makellosen schwarzen Anzugs und dem weißen Hemd, das er jeden Tag trug. Der Butler wich nie von seiner selbst ausgewählten Uniform ab, was ihn jedoch nicht davon abhielt, jedes Mal missbilligende Blicke auf die Wächter abzuschießen, wenn sie nach einem langen Tag des Trainings in Sportshorts und Sneakers im Haus herumlümmelten.

Die Wächter waren von Mere Marie gegründet worden mit der speziellen Absicht, die Stadt New Orleans vor der zunehmenden Bedrohung durch böse Kräfte zu beschützen, insbesondere einer aalglatten, zwielichtigen Gestalt auch bekannt als Pere Mal. Daher verbrachten sie den Großteil ihrer Zeit damit, die Straßen der Stadt zu patrouillieren. Im Allgemeinen überwachten sie das Treiben der Kith, was die Bezeichnung für die paranormale Gemeinschaft war. Sie konnten jedoch auch gerufen werden, um Menschen zu helfen, falls das Anliegen dringend genug war. Wenn sie nicht auf Patrouille waren, fochten die Wächter Übungskämpfe miteinander aus oder übten sich im Waffengebrauch, was üblicherweise in der Form von Schießtraining mit Handfeuerwaffen oder einer Armbrust vollzogen wurde.

Der Butler hatte es sich zur Aufgabe gemacht, einen frischen Anzug und Krawatte gebügelt und griffbereit in dem Schlafzimmer eines jeden Wächters zu deponieren. Als ob Rhys jeden Moment seine Jeans wegwerfen und seine Stiefel in die Ecke treten würde, um stattdessen in Kleider zu schlüpfen, die einer Abendgarderobe nahekamen. Von all den modernen Annehmlichkeiten mochte Rhys die anschmiegsamen Jeans und schnellen Autos am meisten.

Auch wenn Rhys mit seinem alten Leben eine Menge hinter sich gelassen hatte, hatte er gewisse Teile dieses neuen Lebens schätzen gelernt. 2015 trumpfte beispielsweise mit einem ungeheuren Reichtum erlesener Weine und Whiskys auf. Die Bandbreite an Kleidungsstilen war verblüffend groß, obwohl Duverjay den Großteil der Einkäufe für die Wächter übernahm. Der Mann hatte wirklich ein Auge für die Passform eines Kleidungsstückes.

Das Essen hatte ebenfalls etwas für sich, da es eine augenöffnende Vielzahl an Auswahlmöglichkeiten gab, die jede Art Wild oder Federvieh umfasste, die Rhys jemals gekannt hatte, multipliziert um eintausend. Rhys liebte nichts mehr als ein Stück gebratenen Lachses, Fingerling-Kartoffeln und einen frischen Blattsalat. Üblicherweise wurde diese Mahlzeit mit einem Glas Port oder Scotch beendet, auch wenn er seinen Alkoholkonsum stark einschränkte.

Rhys Magen knurrte und er registrierte, dass er von Lachs träumte, weil er durch das Training mit Gabriel einen großen Appetit entwickelt hatte. Zum Teufel mit dem Mann, aber der andere Wächter war mit dem Schwert mittlerweile fast so gut wie Rhys und Rhys musste sich um einiges mehr anstrengen, um sie beide auf Trab zu halten.

„Essen?“, fragte Rhys den Butler.

„Gentlemen“, sagte Duverjay mit einer leichten Verbeugung. „Im Foyer wartet eine sehr aufgebrachte junge Dame auf Sie. Sie sollten sich vielleicht erst um sie kümmern, bevor Sie speisen.“

Rhys warf Duverjay einen neugierigen Blick zu und ging dann zur Eingangshalle. Eine hellhäutige junge Frau wartete dort und wrang die Hände. Sie trug ein königsblaues Kleid, das sich an ihre Kurven schmiegte. Gepaart mit himmelhohen weißen High Heels stand ihr Outfit in einem heftigen Kontrast zu ihrer elenden Miene.

Duverjay stellte sich zwischen das Mädchen und Rhys und legte ihr eine tröstende Hand auf den Arm. Rhys bemerkte, dass sich Gabriel zurückfallen ließ. Anscheinend war er damit zufrieden, den Austausch vorerst nur zu beobachten.

„Das ist Andrea“, stellte Duverjay das Mädchen vor und schenkte ihr ein mitfühlendes, freundliches Lächeln. „Ihre Mutter steckt in Schwierigkeiten. Ist es nicht so, Andrea?“

Die junge Frau nickte, wobei ihre Unterlippe zitterte. Rhys war völlig erstaunt, dass sich Duverjay aktiv darum bemühte, sie zu trösten. Duverjay zeigte nur selten irgendwelche sichtbaren Emotionen und Rhys hatte noch nie erlebt, dass der Butler irgendeine Art von Mitgefühl ausgedrückt hatte.

„Dieser Mann, Pere Mal, hat meine Momma geholt“, schluchzte Andrea. „Sie hat nichts Falsches gemacht. Der Mann kann sie doch nicht einfach so entführen, nur weil sie am Le Marchè arbeitet. Oder?“

Mere Marie, die launische Arbeitgeberin der Wächter, schritt eine der zwei großen Treppen hinab, die die Eingangshalle flankierten. Rhys hatte gar nicht bemerkt, dass sie zugehört hatte. Sie war eine zierliche Frau von vielleicht sechzig Jahren. Rhys wusste jedoch, dass Mere Marie mindestens vier oder fünf Mal so alt war wie sie aussah. Ihre Hautfarbe war typisch für eine kreolische Frau und erinnerte an Milchkaffee, doch ihre glatten grau melierten Haare und französisch angehauchter New Orleans Dialekt wiesen auf ein weitreichenderes gemischtes Erbe hin: haitisch, kreolisch und kaukasisch, vielleicht sogar etwas spanisch.

Wie immer war Mere Marie in eine fließende Baumwollrobe gekleidet. Heute trug sie ein zartes Gelb und hatte die Ärmel zu ihren Ellbogen hochgerollt. Rhys roch einen Hauch von Anis und bitteren Kräutern, wobei der Kräutergeruch stärker wurde, je näher sie kam. Ihre Finger und Unterarme waren mit grünen und gelben Flecken übersät, was darauf hindeutete, dass sie in ihrem Apothekenraum gearbeitet und kleine Säckchen hergestellt hatte, die sie Gris-Gris nannte.

Für eine Voodoopriesterin zu arbeiten, wurde niemals langweilig, so viel stand fest. Rhys rückte ein Stückchen weg von dem überwältigenden Lakritzgeruch, der Mere Marie umwehte, und wartete darauf zu hören, was sie dazu zu sagen hatte, dass der Butler Fremde in das Herrenhaus gebracht hatte.

„Ah, Duverjay, wie ich sehe bringst du deine Familie jetzt schon mit zur Arbeit“, stellte Mere Marie mit hochgezogener Augenbraue fest.

Rhys blickte zu Duverjay und Andrea und plötzlich war es ganz offensichtlich, dass sie verwandt waren. Sie hatten ähnliche Nasen und die gleichen schokoladebraunen Augen. Duverjay starrte Rhys und Gabriel finster an, als würde er sie stumm herausfordern, irgendetwas über ihn oder Andrea zu sagen.

„Meine Nichte, Ma’am“, erklärte Duverjay Mere Marie. „Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.“

Rhys warf Mere Marie einen Blick zu und fragte sich zum tausendsten Mal, was genau Mere Marie getan hatte, um sich die Loyalität und den Respekt dieses Mannes zu verdienen. Duverjay fügte sich nicht vielen Menschen, aber bei Mere Marie war er das Sinnbild von Höflichkeit.

„Dann lass hören“, verlangte Mere Marie und bedachte die junge Frau mit einem skeptischen Blick.

„Nun, ich war auf der Arbeit, im Stiletto’s, und redete mit einem meiner Stammkunden. Mit diesem Kerl Amos. Er gibt immer gutes Trinkgeld.“ Andrea hielt inne und holte zitternd Luft. „Ich erzählte ihm eine Geschichte über meine Momma und ihre Arbeit am Voodoo Markt und dass sie all diese Leute trifft. Hexen und Hellseher, Leute, die wegen Kräutern zu ihr kommen und so was.“

„Deine Mutter führt qualitativ hochwertige Produkte“, bestätigte Marie mit einem Nicken.

„Nun, mir war nicht klar, dass Amos für jemanden arbeitet… Ich wusste nicht, wer diese Kerle sind, aber sie haben meine Momma auf offener Straße entführt. Sie konnte nicht einmal ihren Laden schließen oder irgendetwas tun. Die Tür stand weit offen. Ein Glück, dass alle vor meiner Momma Angst haben.“ Andrea blickte düster drein.

„Und hat Amos dir erzählt, wo deine Mutter ist?“, erkundigte sich Duverjay.

„Nee. Ich schätze, dieser Kerl, Perma oder wie auch immer er heißt, hat irgendeine Bude auf der anderen Brückenseite, wo er Leute unterbringt. Amos ließ es so klingen als“, Andrea hielt inne und erschauderte, „als wäre es keine große Sache. Das ist so abgefuckt.“

„Ich denke, du meinst Pere Mal. Warum halten sie deine Mutter fest? Hat sie etwas, das sie haben möchten?“, fragte Mere Marie und legte den Kopf schief.

„Amos hat mir vor ein paar Wochen ein wirklich Hammertrinkgeld gegeben und mich gebeten, nach einer bestimmten Art von Person Ausschau zu halten. Ein Medium, hat er es genannt. Jemand wirklich Mächtiges ohne ein Schild, um die Leute abzuwehren, und niemanden, der nach ihm schaut. Momma liest Auren und so einen Mist, weißt du“, erzählte Andrea und kreiste mit der Hand um ihren Kopf, um eine Aura anzudeuten. „Sie sagte, diese Lady kommt als vorbei und kauft irgendein Kraut. Etwas, das dafür sorgt, dass sie keine Geister und so was sieht. Momma sagt, dass die Aura der Lady ein bisschen blau ist, was heißt, dass zu Hause niemand auf sie wartet. Wie auch immer, Amos fragte, also erzählte ich ihm von der Lady. Ich dachte, er wollte einen Geist kontaktieren oder so was.“

„Und er hat deine Mutter entführt, um die Lady zu finden?“, fragte Rhys, um die Lücken in der Geschichte zu füllen.

„Ja. Ihr Name ist Echo Caballero. Amos hat ihr auch noch einen anderen Namen gegeben… Ein Licht oder so ein Scheiß“, seufzte Andrea.

„Achte auf deine Wortwahl“, warnte Duverjay sie mit einem finsteren Blick.

„Sorry, Onkel George.“ Andrea blickte ihn entschuldigend an und Duverjay umarmte sie sanft.

„Dann wollen wir dir mal etwas zu trinken besorgen, hm?“, schlug Duverjay vor und warf Rhys einen bedeutungsvollen Blick zu, während er seine Nichte in die Küche lotste. „Überlass es ihnen, deine Mutter zurückzuholen.“

In der Sekunde, in der sie außer Hörweite waren, ließ Gabriel ein entnervtes Seufzen vernehmen.

„Ich wusste nicht, dass wir jetzt auch noch Duverjays persönliche Botengänge übernehmen“, lamentierte er.

„Das ist nicht der Grund, aus dem Duverjay sie hierhergebracht hat“, fauchte Mere Marie und warf Gabriel einen wütenden Blick zu. „Er hat sie hergebracht, weil Pere Mal in die Sache verwickelt ist. Und es ist gut, dass er es getan hat, wenn diese Frau das ist, was ich denke, dass sie ist. Die Drei Lichter müssen beschützt und um jeden Preis von Pere Mal ferngehalten werden.“

„Was sind die Drei Lichter?“, erkundigte sich Rhys.

Durch die Arbeit für Mere Marie hatte sich ihm eine völlig neue Welt eröffnet und jedes verdammte magische Ding schien einen besonderen Titel und Geschichte zu haben. Und da war die ganze verrückte Geschichte New Orleans und die Mythologie, in der Mere Marie und Duverjay so bewandert waren, noch nicht einmal mit eingerechnet. Gott bewahre, wenn man die Burgundy Street wie den Wein aussprach, obwohl die Einheimischen sie doch Ber-GUN-diii nannten.

„Wo ist Aeric?“, wollte Mere Marie wissen, während sie sich Luft zufächelte. „Ich brauche alle drei Wächter für diese Aufgabe.“

Gabriel drehte sich um, legte die Hände um den Mund und brüllte Aerics Namen in Richtung des ersten Stockwerks, wo sich die Zimmer des Wikingers befanden. Die vier oberen Stockwerke waren alle so gebaut worden, dass eine Reihe dunkler Holztüren auf eine lange, breite Galerie führten, die mit den Treppen verbunden war, die sich auf jeder Hausseite befanden. Das bedeutete, dass die Lautstärke seines Schreis besonders beeindruckend war, wenn er dabei auch noch nach oben schaute. Rhys grinste über Mere Maries angesäuerten Gesichtsausdruck, weil sie so nah neben dem Geschrei stand.

Sekunden später öffnete sich eine Tür im ersten Stockwerk und ein riesiger dunkelblonder Mann trat ins Blickfeld, der einen sehr wütenden Eindruck machte.

„Ja“, blaffte Aeric, lief zur Brüstung der Galerie und beugte sich darüber, um auf sie hinab zu spähen. Aerics Englisch wurde ebenfalls immer besser, wenn man bedachte, dass er bei seiner Ankunft im Herrenhaus kein Wort Englisch gekannt hatte. Trotzdem war er nach wie vor wortkarg.

„Die Mistress braucht uns alle“, erklärte Gabriel und benutzte den Titel, auf den Mere Marie bestand.

Aeric bedachte sie alle mit einem stählernen Blick und schlurfte dann den Gang entlang und die Treppe hinab.

„Ich bin gerade mit etwas beschäftigt“, informierte der ehemalige Wikinger sie. Sein mittelalterlicher norwegischer Akzent war so dick wie Matsch, wenn er sich denn mal dafür entschied zu sprechen, und Rhys hatte manchmal Probleme die Worte in Aerics Genuschel auszumachen.

„Nicht mehr“, erklärte ihm Mere Marie scharf, drehte sich um und führte sie zurück zu dem großen Wohnbereich. Duverjay und Andrea hatten sich in die offene Küche verzogen, wo sie an der Bar saßen und in gedämpftem Tonfall miteinander redeten.

Mere Marie lief zu Dem Tisch, wie ihn die Wächter nannten. Dabei handelte es sich um einen massiven Eichentisch, der von mehreren klobigen Bänken umringt wurde. Das war ihr üblicher Treffpunkt, wenn sie das Geschäft des Dämonentötens und des allgemeinen Kampfes gegen die bösen Kräfte besprachen, die New Orleans bedrohten.

Sie nahm am Kopfende Platz und überließ es Rhys, Aeric und Gabriel sich Plätze am Tisch auszusuchen.

„Pere Mal hat eine Verwandte von Duverjay entführt“, erzählte Mere Marie Aeric und wedelte mit einer Hand zu dem Butler.

Aeric schürzte die Lippen, vielleicht stellte er die Klugheit Pere Mals infrage, weil er jemanden entführt hatte, der in so enger Verbindung zu den Wächtern stand. Doch er sagte nichts. Ob sich Pere Mal der Wächter bereits bewusst war, war ein häufig diskutiertes Thema im Herrenhaus und jetzt war nicht der Zeitpunkt, um eine weitere hitzige Diskussion über dieses leidige Thema zu beginnen.

„Andrea sagte, dass Pere Mals Lakai die Frau ein Licht genannt hat. Wie eines der Drei Lichter“, sprach Mere Marie weiter und begann einen kurzen Vortrag. „Pere Mal ist besessen davon, den Schleier zu zerstören, die Schutzbarriere zwischen der Welt der Geister und unserer. Er möchte über die Geister seiner Vorfahren regieren können und ihre Kräfte die seinen nennen. Unglücklicherweise ist es ihm egal, was sonst noch durch den Schleier kommen wird.“

„Ich vermute, das wäre nichts, was uns gefällt“, meinte Gabriel.

„Lass uns einfach sagen, dass wir alle Geister in unserer Vergangenheit haben und rachsüchtige Geister ein Segen wären im Vergleich zu einigen der böseren Kräfte, die auftauchen würden“, erwiderte Mere Marie.

„Also was sind diese Lichter?“, hakte Rhys neugierig nach.

„Pere Mal glaubt, dass Baron Samedi, ein alter Voodoopriester, einen Weg gefunden hat, um den Schleier zu öffnen. „‘Sieben Nächte, sieben Monde, sieben Geheimnisse, sieben Gruften.‘ Manche Leute halten dies für den Schlüssel, um die Tore von Guinee zu finden und zu öffnen, durch die man direkt ins Reich der Geister gelangen kann. Von dort, könnten… gewisse… Sprüche benutzt werden, um den Schleier für immer zu zerreißen.“

Aeric meldete sich nun doch zu Wort, während er Mere Marie einen offenen Blick schenkte. „Ich bin neugierig, woher du diese Dinge über Pere Mal weißt.“

Mere Marie versteifte sich für den Bruchteil einer Sekunde und entspannte sich dann wieder. Es passierte so schnell, dass Rhys es sich vielleicht auch nur eingebildet hatte.

„Ich habe viele Informanten“, lautete ihre einzige Antwort.

Ihre Worte entsprachen natürlich der Wahrheit. Sie verfügte über ein breites Netzwerk an Informanten in der ganzen Stadt, die sich alle einander Informationen zuflüsterten und Geheimnisse von einem zum nächsten weitergaben, bis sie Mere Maries Ohren erreichten. Mere Marie besaß eine charmante Seite und eine Art, mit der sie die Leute bezauberte, sodass sie sich entspannten und lachten, bis sie ihr alles erzählen wollten.

„Richtig“, sagte Rhys und schüttelte ganz kurz den Kopf. „Also sind die Lichter Teil eines Rituals oder so etwas?“

„Ich bin mir nicht sicher“, antwortete Mere Marie, womit sie Rhys überraschte. „Sie dienen alle unterschiedlichen Zwecken. Andrea erwähnte, dass dieses Mädchen, Echo, ein Medium sei. Das würde darauf hindeuten, dass Pere Mal sie benötigt, um einen Geist anzurufen und mit ihm zu kommunizieren.“

„Wir können unmöglich wissen, mit wem er reden möchte“, sinnierte Gabriel. „Könnte Baron Samedi selbst sein oder ein Mitglied seiner Familie. Könnte…“

„Jeder sein“, beendet Rhys seinen Satz mit einem Nicken. „Ich bin mir nicht sicher, wie wir gegen etwas kämpfen sollen, das wir nicht finden können, weil es keine Möglichkeit dazu gibt.“

„Das Mädchen. Wir finden das Mädchen“, sagte Mere Marie. „Wir müssen sie benutzten, um das Geheimnis aufzudecken, bevor es Pere Mal tut.“

Mehrere lange Herzschläge herrschte Schweigen.

„Schlägst du etwa vor, dass wir sie auf genau die gleiche Weise benutzen wie der Mann, vor dem wir sie retten wollen?“, fragte Gabriel, dessen Augenbrauen sich vor Missfallen zusammenzogen.

„Ja. Und ich glaube…“ Mere Marie tat einen Augenblick so, als sähe sie sich im Haus um. „Ah, ja. Hier habe immer noch ich das Sagen. Also, wenn ich euch auftrage, das Mädchen zu finden und zwar schleunigst… denke ich, dass ihr das besser tun solltet.“

Sie erhob sich auf ihre Füße und durchbohrte sie alle mit einem bedrohlichen Blick.

„Nutzt den magischen Spiegel. Findet das Mädchen. Ich will sie bei Sonnenaufgang im Herrenhaus haben“, befahl sie. Sie ließ den Kopf kreisen, wobei es mehrmals laut knackte, und verließ das Zimmer, ohne nochmal zurückzuschauen.

„Nun… alles klar“, sagte Gabriel, auf dessen Gesicht sich deutlich Unmut abzeichnete. „Ich schätze, ich werde mal den Spiegel holen.“

Sieh nichts Böses

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