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Prolog

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Je höher ich komme, desto langsamer werden meine Schritte. Der Boden im Treppenhaus ist hässlich, liebloses Terrazzo aus den Fünfzigerjahren, rot-graue Splitter in schmutzigem Weiß. Ich hätte auch den Aufzug nehmen können, aber in Aufzügen kriege ich Beklemmungen. Vor der Tür im zweiten Stock bleibe ich stehen. »Berliner Krisendienst« steht neben dem Klingelschild. Ich höre Schritte hinter mir. Eine Frau schnauft die Treppen herauf, ich tue unbeteiligt, krame in meiner Handtasche, senke den Blick. Sie verschwindet in der Lungenfacharztpraxis nebenan.

Unschlüssig trete ich einen Schritt zurück und schaue aus dem Fenster. Es regnet, die Pfützen stehen auf der Straße wie ganze Teiche. Noch ist nicht Abend, aber es kommt mir vor, als wäre ich in die dunkelste Stadt der Welt gezogen. Voller Sprühregen und hängender Mundwinkel und voller Hundekot und einsamer Mädchen mit weinrotem Lippenstift. Nur diese großen, weiten Plätze, auf denen man atmen kann, die sind meine Rettung. Aber auch das klappt in letzter Zeit nicht mehr so gut und hier, in dem Treppenhaus, das nach billigem Parfum riecht und nach Schweiß, schon gar nicht.

In meiner rechten Manteltasche suchen meine Finger nach dem Pfefferminzöl. Ich drehe die Verschlusskappe auf, lege den Kopf in den Nacken und lasse einen Tropfen auf meine Zunge fallen. Tränen schießen mir in die Augen. Der ätherische Nebel zieht in Sekundenschnelle durch meinen ganzen Kopf, den Rachen, die Nebenhöhlen, bis in die Ohren. Ich lehne mich an die Wand und schließe die Augen. In meinem Kopf wird es still. Langjährige Konditionierung macht das möglich. Allein der Geruch von Pfefferminze hat mittlerweile eine beruhigende Wirkung auf mich. Skill nennen das die Therapeuten: einen Reiz setzen, der die überstarke Spannung im Körper bei Angstzuständen regulieren soll. Es funktioniert. Nicht immer, aber zumindest jetzt, für den Moment. Langsam öffne ich meine Augen, wische mit dem Handrücken die Tränen ab. Was jetzt? Klingeln oder umkehren?

Berliner Krisendienst. Ich starre auf die Schrift, blau auf weiß. Darüber das Logo, konzentrische Kreise mit Lücken darin, wahrscheinlich wie in den Köpfen der Menschen, die hier klingeln. Die nicht mehr wissen, wie es weitergehen soll.

Wer hat wohl schon alles auf diesen Knopf gedrückt und warum? Ist es bei mir überhaupt schlimm genug?

Ich bin doch nur eine von Hunderten junger Frauen, die jedes Jahr nach Berlin ziehen, um sich ein besseres Leben aufzubauen, und die schließlich an einem Sonntagnachmittag feststellen, dass sie ihren ganzen seelischen Grießbrei in ihrem Koffer mitgebracht haben. Zählt das überhaupt in der Hauptstadt der Einsamkeit?

Immerhin, eine kaputte Ehe steht schon in meiner Bilanz. Und eine hübsche Reihe von Psychotherapien, aufgereiht in meinem Lebenslauf wie auf einer Perlenschnur, zwischen den Jahren 12 und 32. Sie alle haben geholfen, aber keine genug. Die Leere ist immer noch da, die wehtut, wenn alles andere still wird und man im Bett liegt und so früh wach wird, dass die feierwütige Nachbarin schräg unten links noch nicht einmal zu Bett gegangen ist. Wenn ich in letzter Zeit allein in meiner Wohnung bin, bekomme ich ernsthaft Angst, verrückt zu werden. Deshalb renne ich seit Wochen durch die Stadt, studiere Schaufenster in Einkaufscentern und Bildbände über längst verstorbene Schauspieler in den Bibliotheken, laufe über Wochenmärkte und Stadtteilfeste, nur um unter Menschen zu sein. Betont langsam, damit der Kontakt zur Welt möglichst lange hält. Abends bin ich davon so erschöpft, vom Einsam-unter-vielen-Sein, dass ich gerade noch so die Futterdosen für die Katzen öffnen kann, bevor ich mich im Mantel aufs Bett lege und bei laufendem Radio einschlafe. Mich weckt der Wetterbericht, und er ist immer schlecht. Wegen der Ängste und der Leere kann ich nicht mehr arbeiten, und ich weiß nicht, wovon ich im nächsten Monat meine Miete zahlen soll. Okay, es ist doch schlimm genug. Mein Finger ruht für drei Sekunden auf dem Klingelknopf. Nichts passiert. Ist niemand da? Gerade als ich mich umdrehen will, geht die Tür auf. Ein Mann Mitte vierzig im Wollpullover, mit Bart und Brille schaut mich an, ohne zu lächeln.

»Hallo«, sagt er. »Haben Sie einen Termin?«

Mir wird heiß und kalt zugleich.

»Nein, äh, ich komme einfach so.«

Er nickt.

»Na, dann kommen Sie rein.«

Ich mache zwei Schritte über die Türschwelle. Meine Stiefeletten sinken in blaugrauen Filzteppich.

»Einen Augenblick bitte.«

Der Krisendienstmitarbeiter deutet auf eine Reihe Sessel ohne Armlehne und verschwindet. Ich nehme Platz und sehe mich um. An der Wand hängt ein Regal mit Flyern von Selbsthilfegruppen. Rote, pinke, gelbe, blaue. Als ob Probleme weniger wiegen würden, wenn man sie auf farbiges Papier druckt. Hilfe für Depressive, Unterstützung bei Partnerschaftskonflikten, eine Selbsthilfegruppe für Alleinerziehende, eine Gruppe für Angehörige von Alkoholiker*innen, Austausch für Betroffene von Esssucht, eine Trauergruppe. Es scheint, als ob es in Berlin eine ganze Menge Menschen mit Lücken gäbe.

Der Kopf des Mitarbeiters erscheint um die Ecke: »Kommen Sie bitte?«

Ich folge ihm. Ein kleines quadratisches Zimmer, zwei sich gegenüberstehende Sessel. Typisches Therapiesetting, denke ich. Damit kenne ich mich aus. Ich schäle mich aus meinem Mantel. Interessiert, aber ohne sensationslustigen Beigeschmack, richtet der Berater seinen Blick auf mich und faltet seine Hände im Schoß.

»So …«, sagt er. »Was kann ich für Sie tun? Warum sind Sie hier?«

Eine einfache Frage. Tausend Antwortmöglichkeiten: die Trennung von meinem Mann. Der Umzug, weit weg von allem Vertrauten, ins sechshundert Kilometer entfernte Berlin. Mein Kontostand. Die Unfähigkeit, allein zu sein. Die Unfähigkeit, mit anderen zusammen zu sein. Oder die starke Anziehung, die Bahngleise und Hochhausdächer in letzter Zeit manchmal auf mich ausüben. Dabei will ich dieses Leben. Ich will es wie jemand, der Bäume umarmt und sich nicht darum schert, ob sie nass sind.

Ich seufze. Schüttele den Kopf. Öffne den Mund und schließe ihn wieder.

»Ich weiß nicht«, sage ich schließlich. »Ich weiß einfach nicht … Wie findet man den Mut, trotz all der Angst zu leben?«

Die Vögel singen auch bei Regen

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