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1. Kapitel

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Da fährt er dahin, der Umzugswagen, der mir meine beste Freundin entreißt. Als er um die Ecke biegt, winke ich ihm nach, obwohl ich genau weiß, dass mich Lillian nicht mehr sehen kann. Nach zehn Minuten stehe ich noch immer an derselben Stelle und sehe mit leeren Augen auf die Straße, die um diese Uhrzeit menschenleer ist, doch in einer knappen halben Stunde werden alle Erwachsenen aus ihren Häusern hetzen, der eine noch mit einer Scheibe Toast zwischen den Zähnen, der andere stolpert regelrecht hinaus, da er sich nicht einmal die Zeit zum Schuhezubinden nimmt.

Warum sind Erwachsene immer so im Stress? Sie nehmen sich nie Zeit für sich selbst und leben nur für ihre Arbeit. Zumindest kommt es mir so vor. Das Szenario ist fast jeden Tag dasselbe.

Die warmen Arme meiner Mutter umarmen mich und ich schließe instinktiv die Augen, um nicht schon wieder losheulen zu müssen. Das habe ich in den letzten Tagen schon oft genug getan. Lillian hatte mir erst drei Tage vor ihrem Auszug Bescheid gegeben, sie war verzweifelt und hatte nicht gewusst, wie sie mir die Situation schonend beibringen könnte.

Wie soll man auch der besten Freundin ruhig erklären, dass man sich von nun an nicht mehr sehen wird? Außerdem hasse sie Abschiede, hat sie gesagt. Unter Tränen, nein, unter einer Fontäne. Noch nie habe ich sie so weinen sehen. Und sie mich ebenfalls nicht.

An diesem Tag zerbrach in mir etwas. Wir waren seit dem Kindergarten miteinander befreundet, hatten nie Streit, haben vieles zusammen durchgemacht und erlebt. Ich kenne es zwar aus Filmen oder Büchern, dass die zwei besten Freundinnen voneinander getrennt werden, da einer der zwei Elternteile einen besser bezahlten Job im Ausland annimmt, doch habe ich niemals damit gerechnet, dass es auch mich treffen könnte.

Mein Vater setzt sich für den Tierschutz und den Regenwald ein und ist deshalb fast nie zu Hause, aber er hätte deswegen nie von uns verlangt, dass wir alles stehen und liegen lassen und mit ihm fahren. Dafür bin ich ihm auch dankbar, auch wenn ich ihn fürchterlich vermisse, aber wir telefonieren drei bis viermal in der Woche. Lillians Vater hatte seiner Familie ein Ultimatum gestellt, und da seine Frau wie Honig an ihm klebt, war die Entscheidung gefallen.

„Mum?“ flüstere ich, kaum hörbar. Sie weiß genau, was ich jetzt brauche. Sie schließt mich fester in die Arme.

„Ja?“, antwortet sie ruhig und liebevoll. Ich kämpfe noch härter mit den Tränen.

„Sie ist weg“, sage ich bibbernd und atme tief durch. Meine Unterlippe zittert wieder, also kaue ich darauf herum. Sie dreht mich zu sich um und sieht mir mit ihrem fürsorglichen Mutterblick in die Augen. Sie spricht langsam und leise:

„Du weißt, wie leid mir das wegen Lilly tut. Aber ihr werdet weiterhin in Kontakt stehen. Ihr habt doch beide Internet, ihr könnt jeden Tag skippen.“

Ich muss lächeln. „Skypen, Mum!“, korrigiere ich sie und umarme sie ganz fest.

Wir bleiben noch eine Weile stehen und genießen die frische Morgenluft. Mr. Hatcher stürmt als Erster aus einem der Häuser.

„Verdammt noch mal, schon wieder zu spät.“

Gleich darauf hetzt Ms. Gordon aus der Tür und ruft ihrem Mann „Um zehn Uhr beim Kinderarzt! Denk dran!“ zu.

Ich wusste schon immer, dass sie die Hosen anhat. Sie sieht etwas Furcht einflößend aus mit ihrem strengen Dutt und der markanten Wangenpartie, ihr Mann hingegen ist klein, schmal und eingeschüchtert. Gerenne und quietschende Autoreifen, qualmender Rauch und nerv tötende Hupen, weil jeder als Erster losfahren will, ein ganz normaler Morgen in unserem sonst so ruhigen, kleinen Viertel.

Nur aus dem Haus, in dem Lilly gewohnt hat, kommt niemand. Nach weiteren zehn Minuten ist die Straße wie leer gefegt. Ab und zu winkt zumindest mal jemand oder nickt uns zu.

Wahrscheinlich fragen sich alle, warum wir wie angewurzelt blöd in der Gegend herumstehen. Wie bestellt und nicht abgeholt. Die meisten interessieren sich hier nicht für den jeweils anderen, wahrscheinlich haben sie noch nicht einmal das „Zu verkaufen“- Schild vor Lillians Haus gesehen.

Wir gehen die Straße entlang, zurück zu unserem Haus. Ein letztes Mal werfe ich einen Blick auf die hellrote Fassade des Hauses. Ausgerechnet mitten in den Sommerferien musste sie mich verlassen.

Wir hätten noch drei Wochen gehabt. Und was jetzt? Es gibt in der Nachbarschaft nicht viele in meinem Alter.

Da wäre zum einen Miss Ich-nehme-an-jeder-Schönheitswahl-teil-weil-ich-nichts-im-Kopf-habe-und-gutes-Aussehen-alleine-vollkommen-ausreicht, die mit wirklichem Namen Samantha heißt. Ich hasse ihre goldblond gelockten Haare, die ihr bis zur Taille reichen, das Biest sieht aus wie ein Engel. Ein Wolf im Schafspelz, sozusagen.

Ich bin wirklich kein Mensch, der über andere lästert, aber bei dieser Dummheit und dazu noch dieser Arroganz, da bleibt einem wirklich die Spucke weg, und man spürt förmlich seinen eigenen IQ sinken, wenn man sich länger als fünf Minuten in ihrer Nähe aufhält. Es reicht auch schon ein Radius von fünf Metern, mindestens. Jedenfalls sollte man ihr wirklich nicht zu nahe kommen.

Dann wäre da noch Rima. Man könnte sagen, dass sie der Schatten von Samantha ist. Ein Dackel, der treu seinem Besitzer folgt.

Anders ausgedrückt könnte man es auch so erklären, dass sie ihr einfach nachrennt, weil diese Person null Selbstbewusstsein hat und vermutlich etwas von ihrer Beliebtheit abhaben will. Und da Samantha mit ihren Misswahlen gar nicht so wenig Erfolg hat, wie ich es mir wünschen würde - denn dann wäre ihr Selbstbewusstsein jetzt nicht so überirdisch und unerträglich – versucht Rima, sie als Freundin zu gewinnen.

Sie läuft ihr nach, sagt ihr, wie toll sie aussieht, fragt, bei welchem Casting sie dieses Mal war…

Das nächste Mal bittet sie noch auf Knien nach einem Autogramm. Das will ich sehen, wie sie auf dem Asphaltboden herumrutscht. Der Schatten und die Sonne, ich muss sagen, dass ich ganz schön froh bin, einfach nur ich zu sein. Ich laufe niemandem nach und werde auch nicht gestalkt.

Samantha ignoriere ich total, sie existiert für mich gar nicht, aber ein Mädchen wie Rima kann man nicht so leicht ignorieren, erst recht nicht, wenn sie in die Parallelklasse derselben Privatschule geht und in dem Haus direkt gegenüber wohnt. Sie ist sehr anhänglich, und an sich völlig in Ordnung, sie ist ein liebenswürdiger Mensch, aber diese Besessenheit zu Samantha ist schon fast krank. Aber seine Nachbarn kann man sich nun mal nicht aussuchen, und seine Mitschüler auch nicht.

Ich habe Rima im Scherz gesagt, sie könne sich ja entweder die Haare natürlicher färben oder sie zumindest wachsen lassen, aber mit ihren kurzen, knallroten Haaren, die sie sich alle paar Monate wieder umfärbt, dem Sidecut auf der linken Seite und dem eher maskulinen Kleidungsstil sieht sie aus wie eine Lesbe.

Man kennt ja diese Klischees, und genau diesem entspricht sie. Sie gab mir keine Antwort darauf, sondern sah mich nur verdutzt an. Es wunderte mich nicht, dass Samantha nichts von Rima hielt, sie entsprach nicht ihrem Schönheitsideal.

Sie war einfach eine arrogante Schnepfe. Wenigstens wohnt sie vier Häuser weit entfernt, ich kann also immer rechtzeitig zurück ins Haus fliehen, wenn ich sie entdecke. Habe ich schon oft gemacht, aber ohne, dass es tatsächlich danach aussieht.

Einmal habe ich gerade die Katze der Gordons gestreichelt, die zwei Häuser weiter wohnen, da hörte ich auf einmal dieses ätzende

„Du hast so was von Recht, Amelie!“

Selbst ihre hohe Quietschstimme ist unerträglich, sie selbst meint aber, dass sie damit sexier wirkt. Einmal habe ich davon sogar Kopfschmerzen bekommen, als ich mich völlig wehrlos mit ihr auseinandersetzen musste. Ich armes Ding.

Jedenfalls hatte ich, als ich sie gehört hatte, sofort mein Handy gezückt und so getan, als würde mich meine Mutter um etwas Wichtiges bitten. Den Herd ausmachen zum Beispiel, den man aber eigentlich gegen sechs Uhr morgens nicht benutzt, und um die Zeit kommt meine Mutter von der Arbeit nach Hause, aber Samantha ist so strohdumm, dass ich ihr alles erzählen könnte. Dann mache ich ein ganz aufgeregtes Gesicht und forme mit den Lippen ein "Oh mein Gott!“ zusammen, sodass man mir die Schmierenkomödie auch abkauft, und schwupps, nehme ich auch schon die Beine in die Hand und düse Richtung trautes Heim.

Oder, wie ich es gerne nenne, die Samantha-freie-Zone. Schade, dass man noch keinen unsichtbaren, elektrischen Kuh-Zaun erfunden hat, der allen ungebetenen Gästen, die sich dem Haus gefährlich nah nähern, einen kleinen Stromschlag verpasst. Ich stelle mir bildlich vor, wie Samantha stundenlang gegen die Barriere läuft und ein peinlich berührtes Lächeln entweicht meinen Lippen.

Für dieses Mädchen kann man sich nur noch fremdschämen. Lillian wollte sich mit Sam anfreunden, als sie vor drei Jahren in dieses Viertel zog, zusammen mit ihrem stinkreichen Vater, er ist Gehirnchirurg oder so. Von ihrer Mutter weiß ich nichts, aber ihre Großmutter wohnt bei ihnen, Mr. Langfield geht jeden Samstag und Sonntag mit ihr spazieren, und unter der Woche kümmert sich eine Pflegerin um sie, weil Samantha sich mehr Sorgen darum macht, was sie zum nächsten Casting anziehen soll, und ob lockige oder glatte Haare mehr gefragt sind.

Ein Fauxpas könnte ihre Misswahlen- und Modelkarriere abrupt beenden. Würde sie zu einem pinken Rock grüne Ohrringe tragen, würden sie die Juroren sofort auf den Mond schießen. Das darf natürlich nicht passieren, da muss die Oma schon Rücksicht darauf nehmen.

Mir kam sie von Anfang an nicht ganz koscher vor, als ich sie zum ersten Mal sah, mit ihrem neonpinken Bustier Top, dem weißen Faltenmini und dazu passende pinke High Heels mit weißem Absatz. Außerdem trug sie einen weiten Strohhut mit rosa Schleife - die bei ihren raschen, großen Schritten vom Auto zur Veranda passend zu ihrem Rhythmus hin und her flatterte - und eine riesige schwarze Sonnenbrille.

Noch dazu hielt sie sich schützend einen bonbonfarbenen Sonnenschirm mit weißen Rüschen über den Kopf.

Ich dachte, Barbie steht plötzlich vor mir. Neugierig sah ich mich nach Ken um, doch es stieg niemand mehr aus dem dunkelroten Porsche. Ihr Vater wartete bereits lächelnd an der Haustür und hielt ihr diese auf. Sam schrie hysterisch auf, als sie in das riesige Haus trat. Mein Gott, es ist nur ein Flur, dachte ich insgeheim.

Auf der Veranda halte ich noch einmal inne und sehe mich um. Ich atme den Duft der Orchideen tief ein, nein, sauge ihn auf und starre mit leeren Augen auf die zwei Gartenstühle, auf denen wir gestern noch gesessen hatten, alles Revue passieren ließen und dabei anfingen zu heulen wie Schlosshunde. Gerade, als ich merke, dass mir die Tränen erneut in die Augen schießen, schiebt mich meine Mutter durch die bereits geöffnete Eingangstür, und meint munter:

„Ich bin zwar hundemüde, aber wenn du willst, mache ich dir noch schnell ein paar leckere Pfannkuchen mit Ahornsirup! Was sagst du?“

Ich schüttle wie betäubt den Kopf, schlüpfe aus meinen weißen Ballerinas und latsche die Treppe hoch.

„Nein danke, mir ist nicht nach Pfannkuchen.“

Eine Umarmung, tröstende Worte, oder ein leckeres Frühstück helfen zwar oft, aber nicht bei jeder Art von Schmerz. Als ich mit dreizehn das erste Mal Liebeskummer hatte, hätte ich den ganzen Tag Pfannkuchen mit Sirup essen können. Ich glaube, das habe ich auch getan.

Natürlich war es nichts Ernstes, erst recht nicht mit dreizehn Jahren, aber da ist man eben in einem Alter, in dem man denkt, dass dein Schwarm genau der Richtige für dich ist und man für immer zusammen sein wird. Klar, und die ganze Welt besteht aus rosa Marshmallows.

Ich brauche jetzt einfach Zeit, um das, was gerade passiert, überhaupt erst zu realisieren, ich glaube nämlich, das habe ich bis jetzt noch nicht richtig getan, obwohl Lilly jetzt tatsächlich weg ist. Ich hoffe nur, dass wir wirklich für immer in Kontakt stehen werden, wie es meine Mutter gemeint hat. Es ist doch auch in der Schule so, dass man sich mit allen super gut versteht und man sich schwört, auch danach noch die besten Freunde zu sein und man sich immer noch genauso oft trifft, wie während der gemeinsamen Schulzeit.

Und was geschieht dann wirklich? Man trifft sich vielleicht wirklich noch ein paar Mal, dann werden es langsam nur noch ein paar Anrufe oder SMS in der Woche, dann im Monat. Und schließlich beginnt auch schon die „Sorry, heute passt es mir leider gar nicht.“-Phase.

Ich frage mich, warum sich das so schnell ändern kann. Warum hat man sich in der Klasse so gut verstanden, so viel gelacht und Blödsinn veranstaltet, wenn man sich im Grunde gar nicht so sehr leiden konnte, wie es sein müsste, um eine Freundschaft dauerhaft am Leben zu erhalten. In den meisten Fällen bleibt einem nur eine beste Freundin. Bei mir war es Lillian.

Ich hatte auch noch eine sehr gute Freundin namens Jill, aber auch sie entwich mir nach und nach, obwohl wir uns in der Schule täglich gesehen haben, ab und zu auch privat, im Einkaufszentrum oder im Café. Aber als sie sich nur noch für Jungs, Schminke und Mode interessierte, war sie wie ausgewechselt. Sie kam sich cool und reifer als die anderen vor, weil sie so früh Erfahrungen mit Jungs gesammelt hatte, und sie viele Mädchen um Rat gefragt haben, wie sie das denn anstelle, dass sie auf einmal so beliebt geworden ist.

Da ich fand, dass sie billig war und sich verkaufte, da sie jede Woche einen anderen Freund hatte, manchmal auch zwei zur gleichen Zeit, und sie das über mehrere Ecken mitbekommen hatte, hasste sie mich abgrundtief und setzte Gerüchte über mich in die Welt. Ich würde bei jeder Gelegenheit versuchen, ihr den Freund auszuspannen, wäre total neidisch, weil ich niemanden hätte und all so einen Quatsch.

Doch damit bewies sie mir und meinem Freundeskreis nur, dass ich im Recht war. Dass alles stimmte, was ich vermutet habe.

Da ich niemand bin, der sich unterbuttern lässt, und es mir ziemlich egal war, dass jemand zu der Zeit einen blöden Kommentar abgelassen hat, verlor sie auch schnell den Spaß an der Sache, Leute gegen mich aufzuhetzen und mich fertigmachen zu wollen. Ignoranz ist für solche Menschen das Schlimmste, denn sie sehnen sich danach, dass das “Opfer“ leidet und man sich vor dieser Person auf die Knie fallen lässt und um Verzeihung bittet. War mir aber alles egal, ging bei einem Ohr rein und bei dem anderen wieder raus.

Nach zwei Wochen war die ganze Sache gegessen. Niemand sagte mehr etwas dazu, nach und nach verloren alle ihre Anhänger die Lust, denn eigentlich hatten sie gar nichts gegen mich, und da ich alles ignorierte, wussten sie nicht, was sie sonst hätten tun sollen. Seitdem haben wir nicht mehr miteinander gesprochen, und nach und nach kam ans Tageslicht, dass sie ihre Freunde wie Unterwäsche wechselte.

Von da an war sie bei den meisten unten durch, und jeder sah sie nun mit anderen Augen. Die Jungs jedoch freuten sich und nahmen ihre Chance war. Und Jill ebenfalls.

Wenn es sich nicht vermeiden lässt, dass wir Blickkontakt aufnehmen, dann ist sie jedes Mal die Erste, die naserümpfend wegsieht. Auch, wenn mich die Gerüchte um meine Person nicht gestört haben, habe ich ihr dennoch nie verziehen, dass sie es gewagt hat und mir so in den Rücken gefallen ist.

Ich könnte versuchen, mich mehr mit Rima zu unterhalten. Sie ist ja gar nicht so übel, vielleicht fehlt ihr nur eine richtige Freundin. Eine, die nicht Samantha heißt und blonde Locken hat, und deren IQ auch ein bisschen höher ist. Es ist jedenfalls einen Versuch wert.

Ich nehme die zweite Tür auf der rechten Seite, die in mein Zimmer führt, und lasse mich direkt in mein Bett fallen. Nach einigen Minuten drehe ich mich auf den Rücken, ziehe mein Handy aus der Hosentasche und starre auf das Display. Sie wird jetzt noch Stunden unterwegs sein, ich werde spätestens heute Abend eine Nachricht von ihr bekommen.

Ich lese mir noch ein paar alte Nachrichten von ihr durch, verziehe manchmal die Lippen zu einem Lächeln, dann lege ich das Handy beiseite. Wir haben manchmal ganz schönen Mist zusammengeschrieben. Ich käme mir blöd vor, ihr bereits nach einer halben Stunde eine Du-fehlst-mir-SMS zu schreiben.

Da es erst halb acht ist, beschließe ich, noch ein paar Stunden zu schlafen, das ist wohl das Beste. Ich höre die Schritte meiner Mum, die langsam die Treppe hochkommt. Sachte klopft sie an meine Tür.

„Hm?“, antworte ich bloß.

„Liebling, alles in Ordnung? Ich lege mich jetzt hin, es war eine lange Nacht. Schlaf du auch noch ein bisschen“, sagt sie behutsam.

„Ja, mach ich“, antworte ich, und meine Stimme klingt gedämpft, da ich mich bereits unter der Decke vergraben und eingerollt habe.

Ich weiß genau, dass sie jetzt da draußen überlegt, ob sie noch einmal reinkommen und mich fest in die Arme schließen soll, oder ob ich schon genug Mutterliebe abbekommen habe. Ich sage ihr nämlich manchmal, dass sie übertreibt. Sie ist die Art von Mutter, die andere Mütter hasst, die ihre Kinder ab einem gewissen Alter einfach vor sich hinleben lassen und sich gar nicht mehr wirklich um sie kümmern, die sie nicht einmal mehr fragen, wie es ihnen geht, wie es in der Schule war, oder ob sie über irgendetwas reden möchten.

Das war meistens das Gesprächsthema Nummer Eins, wenn sie mit Lillys Mutter, Patricia, telefonierte. Sie ging dann immer im Wohnzimmer auf und ab, fasste sich immer wieder verzweifelt, wütend - oder beides - an die Stirn und meinte immer:

„Mein Gott, wenn man schon ahnt, dass man mit einem Kind im Teenageralter überfordert ist, da man doch weiß, wie es einem selber ergangen ist, dann setzt man doch bitte erst gar keines in die Welt. Stell dir vor, heute habe ich schon wieder die arme Nancy weinend aus dem Haus laufen sehen. Sie strengt sich doch so an in der Schule, und trotzdem reicht es den Stones nicht!“

Ich gab ihr vollkommen recht. Nancy geht in dieselbe Klasse wie ich, doch sie ist durch ihre Eltern so dermaßen eingeschüchtert, dass sie kein Wort spricht. Nicht einmal mit den Lehrern, sie nickt bloß und fängt schnell an zu weinen.

Früher war sie ganz anders. Und das alles, weil sich ihre Eltern nicht einmal mit einer Drei zufriedengeben und sie immer so laut anschreien, dass wir es hören können, wenn wir auf der Veranda sitzen. Wenn man solche Rabeneltern hat, ist es nur natürlich, dass man sich immer mehr vergräbt und die Motivation irgendwann tot ist.

Und dann lässt man sich gehen und tut gar nichts mehr. Als es so weit war und sich ihre Noten noch mehr verschlechterten, kam es letztendlich sogar zu Schlägen. Aber nur an Stellen, an denen man die blauen Flecken und Blutergüsse nicht sehen konnte.

Es muss zu dem Zeitpunkt angefangen haben, ab dem sie sich, wenn wir Sport hatten, nur noch auf der Toilette umzog. Als sie eines Tages in der Kabine des Damen-WCs einen Nervenzusammenbruch erlitt und der Klassenlehrerin, die gerufen worden war, ihre Wunden zeigte, da sie schlichtweg am Ende war, änderte sich ihr Leben endlich zum Positiven.

Ihre Eltern wurden angezeigt und sie lebte von nun an in einer betreuten WG mit zwei anderen Mädchen, die ein ähnlich schlimmes Schicksal erleiden mussten. Doch die Narben bleiben, aber sie hat in Luna und Grace zwei sehr gute Freundinnen gefunden. Gleiche Schicksale schweißen zusammen, auch wenn es traurig ist, dass man sich auf diese Art und Weise kennenlernen muss, und nicht zufällig im Einkaufscenter, bei einer Tasse Kaffee, oder weil man zeitgleich nach demselben Sommerkleid greift, das stark reduziert wurde und nur noch in einer Größe vorhanden ist.

Seufzend grabe ich mich noch einmal aus meinem Nest aus und gehe zu meinem Schreibtisch. Aus der ersten Schublade hole ich ein Buch heraus und schlage es auf. In der Mitte liegt eine gepresste Orchidee, die von unserer Veranda.

Ich überlege kurz und klappe das Buch doch wieder zu. Ich lasse sie noch eine Weile drin, und klebe sie später in Lillys und meinem Freundschaftsbuch ein. Das haben wir bereits seit der Grundschule und es ist eine Erinnerung fürs Leben.

Auf der ersten Seite sind unsere Handabdrücke mit roter Farbe zu sehen. Unsere Daumen und Zeigefinger berühren sich. Darunter steht in ziemlicher Krakelschrift “Beste Freundinnen für immer!“ und ein paar lachende Smiley-Sticker.

Auf den ersten Seiten haben wir nur so etwas Kindisches gemacht – wir waren ja auch noch Kinder. Wir haben viele Comicfiguren abgezeichnet, die damals so beliebt waren, eine der Seiten komplett mit unseren Lieblingsstickern vollgeklebt, die wir in der Schule alle gesammelt und getauscht hatten, oder, wenn ein Tag besonders lustig war oder etwas Aufregendes passiert ist, alles haargenau notiert, sodass wir uns für immer an diese Zeit und die ganz besonderen Tage erinnern.

Mit diesem Buch konnte ich jederzeit all die schönen Jahre Revue passieren lassen. Mit sechzig wird es bestimmt lustig sein, dieses Buch noch einmal aufzuschlagen und sich zu denken „Die guten alten Zeiten!“ oder „Waren wir bescheuert…“

Als ich um zwölf Uhr Mittag wieder aufwache, realisiere ich zuerst gar nicht, dass ich mich vor ein paar Stunden von Lillian verabschiedet habe, doch es geht mir nun besser mit dem Gedanken, sie lange nicht mehr zu sehen. Vor lauter Heulerei habe ich die Nacht fast nicht geschlafen, ich war übermüdet und hatte Kopfschmerzen. Wenn ich an unsere Freundschaft glaube, dann wird sie auch nicht zerbrechen.

Wir werden jeden Tag zusammen chatten und ein paar Mal in der Woche telefonieren und Tratsch austauschen. Ich werde sie außerdem über Samantha und Rima auf dem Laufenden halten. Und ich werde ihr an ihrem Geburtstag in zwei Monaten unser Freundschaftsbuch schicken, damit sie irgendeinen Mist hineinschreiben kann.

Ich kneife die Augen zusammen, als ich den blickdichten Vorhang zur Seite ziehe und mir die Sonnenstrahlen ins Gesicht scheinen, obwohl ich mich schon längst daran gewöhnt haben müsste, dass ein blickdichter Vorhang nun mal wirklich blickdicht ist. Wenn sie geschlossen sind und kein Licht brennt, meint man, es wäre mitten in der Nacht. Mein Blick wandert über Rimas Haus.

In ihrem Zimmer, das ich von hier aus gut sehen kann, brennt Licht. Vermutlich sitzt sie vor dem Laptop und spielt Sims oder wieder irgendein Point & Click Adventure, davon hat sie alles, was neu ist. Die meisten davon sind aber wirklich gut, ab und zu spiele ich selber gerne eines.

Auch wenn ich es noch nie geschafft habe, ein Spiel zu Ende zu spielen, ohne nicht mindestens einmal im Internet nach der Komplettlösung gesucht zu haben, und mich hinterher zu ärgern, weil es ja doch ganz einfach gewesen wäre, doch ich denke meistens viel zu kompliziert, sodass logische Schlussfolgerungen für mich automatisch falsch sein müssen, denn das wäre ja zu leicht.

Außerdem habe ich keine Geduld für lästige Rätsel, wenn die Story gerade so spannend ist, dass man sich am liebsten wünscht, durch den PC direkt in das Spiel hineingesaugt zu werden und im wahrsten Sinne des Wortes live dabei zu sein. Deshalb liebe ich Point & Click Adventures. Einmal hat sich am Ende eines Spiels der Hauptcharakter selbst umgebracht, das war allerdings nicht so rosig.

Ich war ganz schön erschrocken, als er das tat, ich dachte, der Hauptcharakter stirbt nie. In Filmen, ja, aber doch nicht in einem Spiel. Ich wollte am liebsten „Was machst du denn da, du Idiot?!“ rufen. Warum tun die Spieleentwickler einem so etwas an? Da spielt man eine Figur über mehrere Stunden lang und dann? Schwupps, tot. Da war ich wirklich mitgenommen, wo ich doch so ein zartes und sensibles Pflänzchen bin. Rima meinte zu dem Ende ganz trocken:

„Ist doch genial, endlich mal was anderes!“

Das Licht in Rimas Zimmer erlischt. Ich sehe auf die Uhr. Stimmt, Essenszeit. Nun habe ich doch Hunger auf Pfannkuchen mit Ahornsirup, aber ich habe keine Lust, den Teig vorzubereiten.

Ich werfe einen raschen Blick in den Spiegel, der auf meinem Schreibtisch steht, und richte mir den zerzausten Pony. Außerdem fällt mir der dunkelblonde Haaransatz auf, ich muss mir meine Haare wieder Kupfer färben. Das mache ich schon regelmäßig seit zwei Jahren, und ich will nie wieder eine andere Haarfarbe, erst recht nicht meine natürliche.

Diese Farbe schmeichelt meiner nicht allzu gebräunten Haut, und die haselnussbraunen Augen kommen richtig schön zur Geltung. Ich hätte aber liebend gerne blaue Augen, ich werde immer neidisch, wenn ich Mädchen mit rötlichen Haaren und blauen Augen sehe, das sieht einfach hammermäßig aus.

Aber man will doch immer das, was man nicht haben kann. Hätte ich blaue Augen, würde ich mir braune wünschen. Als ich in meine riesigen Plüschhausschuhe schlüpfe und die ersten Stufen geschafft habe, was mit den Plüschdingern gar nicht so einfach ist, stolpere ich und entgehe nur knapp dem Tod infolge eines Genickbruchs.

Da mir das öfters passiert und ich dann mit den Armen rudere, was etwas an einen Kolibri erinnert, habe ich schon Übung darin, mir selbst das Leben zu retten. Und obwohl es in den letzten zwei Wochen schon viermal vorgekommen ist, ziehe ich sie immer noch an und versuche jeden Tag aufs Neue mein Glück, nicht zu stürzen. Sie waren ein Geschenk meines Vaters, weil er weiß, wie sehr ich Schneerobben mag.

Eigentlich ist der Gedanke makaber, ein solches Geschenk zu machen, wenn man den Beruf meines Vaters ausübt und man weiß, was aus Robben gemacht wird, wie sie zugrunde gehen. Aber ich glaube fest daran, dass mein Dad die Welt verbessern kann. Für mich war er schon als Kind ein Held, und das ist er immer noch.

Er kann das und er wird. Jeder kann die Welt ein Stückchen verbessern, wenn er es nur will. Und wenn es nur ein Lächeln ist, das man jemandem schenkt.

Da ich noch nicht weiß, was ich essen soll, schaue ich zuerst, was der Kühlschrank zu bieten hat. Ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen, als ich eine Rührschüssel mit Pfannkuchenteig entdecke. Meine Mum ist einfach die Beste.

Ein rosa Post-it klebt auf der Frischhaltefolie “Hab dich lieb“ steht darauf.

„Ich dich auch“, antworte ich leise, auch wenn sie es gar nicht hören kann. Vielleicht habe ich telepathische Fähigkeiten, von denen ich nichts weiß und sie träumt jetzt davon, dass ich ihr sage, wie lieb ich sie habe. Ich stelle eine Pfanne auf die bereits erhitzte Platte und sehe dem Stückchen Biobutter beim Schmelzen zu, als es plötzlich klingelt.

Ich erwarte doch niemanden, und alle wissen, dass meine Mutter nachts arbeitet und tagsüber schläft. Von der Küche aus kann ich sehen, wer vor der Haustür steht, und ich spähe vorsichtig hinaus. Rima? Was hat sie denn mit ihren Haaren gemacht? Das wäre übrigens das erste Mal, dass ich wirklich sagen könnte:

„Sorry, keine Zeit, ich hab was auf dem Herd.“

Gefrorene Kirschblüten

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