Читать книгу Gefrorene Kirschblüten - Kei Baker - Страница 4

2. Kapitel

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Rima sitzt mir gegenüber und auf unseren Tellern häufen sich Pfannkuchen, in Ahornsirup getränkt, oder besser gesagt, ertränkt. Ihr weiß-grau-schwarz gestreiftes Over Size Shirt entblößt Teile ihres Fake-Tattoos auf der linken Schulter, das ihr eine Schulfreundin gemalt hat. Ein Adlerkopf, der seinen Schnabel weit aufgerissen hat und zum Angriff bereit ist.

Rima sieht nicht danach aus, aber sie hat panische Angst vor Nadeln, es trifft sich also gut, dass ihre Freundin Holly eine Staffelei zum Üben hat, da sie nach der Schule Kunst studieren will und alles bekritzelt, was nicht weglaufen kann, und Rima alle zwei Wochen ein Gratis-Tattoo bekommt, das von Weitem sogar echt aussieht. Und auch von Nahem merkt man, dass sie ziemlich viel Talent hat. Mit je einem hell- und dunkelgrauen Tattoo-Stift hat sie den Adler sogar perfekt ausschattiert.

„Tut mir leid, dass ich einfach unangemeldet vorbeikomme“, entschuldigt sie sich, nachdem sie mich hundertmal gefragt hat, ob ihr die Farbe stehe, und streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht.

Platinblond. Sie hat sich die Haare tatsächlich platinblond gefärbt.

Wieso hat ihr ihr Friseur nicht davon abgeraten? Ihre Haut ist zu dunkel dafür, ihre Augen fast schwarz. Sie war schon mal blond, aber das goldblond sah wenigstens natürlicher aus. Ich antworte, während ich mir mein Glas mit Milch nachfülle:

„Das macht doch nichts. Ich weiß ohnehin nicht, wie ich die letzten drei Ferienwochen verbringen soll. Ohne Lilly ist es hier ziemlich öde.“

Rima lässt die Gabel fallen, die klirrend auf dem Tellerrand landet, und sieht mich entsetzt an.

„Das war heute?“

Ich nicke bloß und meine Augen verengen sich. Wieso hat sie das vergessen? Wir waren Nachbarn. Jahrelang.

„Scheiße… Tut mir leid, ich wollte mich wirklich von ihr verabschieden. Aber momentan weiß ich gar nicht, wo mir der Kopf steht, ich bin mit meinen Gedanken ständig bei… „ Sie bricht den Satz abrupt ab.

„Woanders“, vollendet sie ihn nach einer kurzen Pause und stochert wie wild in ihren Pfannkuchen herum.

Sie ist öfters gedankenverloren, da hat sie recht. Obwohl ich doch etwas gekränkt bin, versuche ich so normal wie möglich zu antworten:

„Ist okay, sie ist ja nicht ausradiert, du hast sie bestimmt noch in Skype. Ich soll dich übrigens ganz lieb grüßen.“

„Danke…“, antwortet sie verlegen und kaut an ihren Nägeln herum.

Ihr scheint es wohl wirklich peinlich zu sein, mal so nebenbei den Auszug der Nachbarin, mit der man befreundet war – zwar nicht so gut wie ich, aber immerhin – vergessen zu haben. Während wir aufessen, reden wir nicht mehr viel miteinander. Zwischen uns ist es eben mehr eine Zweckfreundschaft, und außer Games haben wir nichts gemeinsam, vielleicht ändert sich das ja noch.

Sie erzählt mir, dass ihre letzten Wochen, bevor die Schule wieder beginnt, ebenfalls ziemlich langweilig sein werden, und sie wohl die meiste Zeit vor dem Laptop verbringen wird. Ich dränge mich nicht gerne auf, aber da ich sowieso nicht viel zu tun habe, und sie mir gesagt hat, wie knuffig doch meine Robbenhausschuhe sind – damit kriegt man mich -, biete ich ihr an, dass wir doch auch etwas Zeit miteinander verbringen könnten. Sie nimmt meinen Vorschlag dankend an, und schlägt mir auch gleich vor, dass ich doch einmal bei ihr übernachten solle und wir gemeinsam ein Horrorgame spielen.

Obwohl ich denke, dass sie dann doch auch wieder vor ihrem Laptop sitzt und ich eher an ein Café oder die Einkaufsmeile gedacht habe, sage ich zu, da mir jede Ablenkung recht ist, und sie hört vielleicht auf, Sam hinterherzulaufen, wenn ich mich mit ihr beschäftige. Und mit etwas Bacardi Cola, Baileys, sauren Apfelringen und Erdnussflips wird es bestimmt ziemlich lustig. Ich muss gestehen, dass ich mir, wenn ich alleine ein Horrorgame spiele, fast die Hosen vollmache, aber die Story mich immer wieder so fesselt, dass ich einfach nicht aufhören kann.

Rima verabschiedet sich rasch, als sie einen Anruf erhält, den sie jedoch nicht annimmt. Sie starrt bloß überrascht auf das Display. Ich begleite sie zur Tür und beobachte, dass sie ihr Smartphone wieder aus der Hosentasche fischt, gerade, als sie den Vorgarten zu ihrem Haus betritt.

Merkwürdig. Wieso macht sie um diesen Anruf so ein Geheimnis? Wer könnte das wohl sein? Vielleicht hat sie seit Neuestem einen Freund und möchte es noch niemandem erzählen, solange sie sich noch nicht sicher ist, ob es passt. Das wird wohl der Grund sein.

Ich werde sie bestimmt zum Reden bringen, wenn ich bei ihr bin und wir uns etwas betrinken. Das muss auch mal sein. Normalerweise würde ich jetzt mit Lilly in unser Stammeiscafé fahren, uns einen riesigen Eisbecher bestellen und uns danach darüber aufregen, dass er so viele Kalorien hat.

Allein in ein Café zu gehen will ich nicht, das sieht so aus, als hätte ich keine Freunde. Rima ist schon weg und spontan fällt mir niemand ein, mit dem ich gerne Zeit verbringen würde. Ich habe nicht viele Freundinnen, mehr Bekannte, die ich aber gar nicht so oft sehen will.

Und männliche Freunde habe ich gar nicht. Doch, einen, Howard, privat haben wir aber noch nie was unternommen. Was mach ich jetzt? Was mach ich jetzt? Wie vertreibt man sich ohne beste Freundin die Zeit? Ich habe noch nie wirklich alleine etwas unternommen.

Was machen denn Leute, die Niemanden haben? Sitzen sie den ganzen Tag in ihrer Wohnung und gehen nur vor die Tür, wenn es nicht anders geht? Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen.

Ohne soziale Kontakte geht man früher oder später ein, wie eine wunderschöne Blume, die man einfach vergessen hat zu gießen. So viele Menschen zerbrechen innerlich und niemand bemerkt es. Wenn man lachend durch die Welt geht, stellt niemand unangenehme Fragen.

Rima gehört ja auch eher zu der Gattung Einzelgänger, aber trotzdem hat sie ein paar Freunde, mit denen sie ab und zu etwas unternimmt. Aber die meiste Zeit ist sie doch gerne allein – und stalkt Samantha. Hoffentlich fängt sie nicht auch noch bei mir so an.

Nein, vermutlich nicht, ich bin nicht auffällig oder so hübsch wie Sam, ich habe keine 90-60-90 Figur und ich könnte mich auch bei keiner Misswahl blicken lassen, alleine schon wegen meiner Größe von 1.63 m, da gibt es doch garantiert wie beim Modeln ebenfalls eine Mindestgröße, oder? Außerdem bin ich zu normal, nichts Besonderes, der totale Durchschnittsmensch. Egal, ich will auch gar kein Model werden, ich will generell nicht im Rampenlicht stehen.

Der Gedanke, irgendwann berühmt zu sein und sich ohne Verkleidung nicht mehr auf die Straße trauen zu können… Nein danke. Da habe ich lieber einen normalen Job und bin glücklich und zufrieden. Mir fällt gerade – mal wieder – auf, dass ich einfach viel zu viel nachdenke. Über alles. Jeden Tag. Ich kann einfach nicht abschalten.

Nachdem ich das Geschirr abgewaschen habe, mache ich es mir auf der weißen Couch im Wohnzimmer gemütlich, um nicht an Lilly denken zu müssen, und zappe wahllos durch die Kanäle. Müll, Müll, Müll, hab ich schon gesehen, Müll,… Das TV-Programm ist auch nicht mehr das, was es einmal war.

Und dann wundern sich noch alle, dass sich jeder Zweite alles Mögliche nur noch übers Internet ansieht und somit weniger Geld für DVDs ausgegeben wird. Ich bin da genauso. Na und holt mich doch!

Bereits nach zehn Minuten ertrage ich den Mist nicht mehr, der da läuft, was auch immer ich mir da gerade antue, - eine Vierzehnjährige liegt gerade in den Wehen und schreit sich die Seele aus dem Leib - und schalte den Fernseher aus. Gerade rechtzeitig kann ich mich noch davon abhalten, mich zu fragen, warum man eigentlich “Fernseher“ und nicht “Fernsehgerät“ sagt, denn die „Fernseher“ sind doch wir.

Also schnappe ich mir den Thriller aus unserem Bücherregal, den meine Mutter gerade liest, und schlage es beim Lesezeichen auf. Gespannt lese ich die ersten Zeilen.

„Igitt! Mum, was liest du da nur für Sachen?“

Wie kann sie nur immer gemütlich Tee oder Kaffee trinken, während sie liest, wie gerade jemand ausgeweidet wird? Ich habe wohl soeben die Buchdiät erfunden. Einfach den ganzen Tag mit einem Thriller rumlaufen und wenn man Hunger bekommt, anfangen zu lesen, dann vergeht einem der Appetit ganz von allein.

Hm, die Idee ist wirklich nicht übel. Ich nenne sie ganz lässig die Jack-the-Ripper-Diät. Sollte ich nach Weihnachten mal anwenden. Oder am besten noch davor.

Nein, danach, die Kekse und der Früchtekuchen müssen sein, meine Oma macht nämlich die besten Leckereien der Welt. Sie will nicht einmal mir ihre Geheimrezepte verraten, da ist sie total eisern und stur.

Ich gehe wieder hoch auf mein Zimmer und schaue erneut auf mein Handy. Nichts. Das weiß ich doch, dass noch keine Nachricht von ihr da sein kann, warum schaue ich trotzdem ständig auf das Display?

Am liebsten würde ich ihr jetzt schreiben:

„Hey! Hast du Lust, schwimmen zu gehen? Und danach ins Eiscafé?“ und sie würde darauf antworten:

„Na klar, bin in zwanzig Minuten bei dir!“

Sie fehlt mir. Und niemand kann sie ersetzen. Wie lange werde ich dieses leere Gefühl in mir ertragen müssen?

Vielleicht finde ich im Internet eine Community „Beste Freundin verloren – wie geht man damit um“, oder so. Ich ziehe eine Augenbraue hoch und überlege kurz. Zwei Minuten später ist mein Laptop komplett hochgefahren und ich google das eben Gedachte tatsächlich.

Es gibt einige Beiträge zu dem Thema, jedoch alle auf komplett unterschiedlichen Seiten, aber das dachte ich mir bereits. Trotzdem klicke ich ein paar der Seiten an und lese mir den jeweiligen Thread durch. Wirklich hilfreiche Tipps finde ich jedoch nicht, dass ich mir eine neue Freundin suchen sollte ist mir schon selber klar, und dass ich mich nicht verkriechen und in Depressionen verfallen soll, auch.

Man kann aber auch übertreiben. Wir werden uns weiterhin gut verstehen, nur eben übers Internet und per Handy. Trotzdem muss ich jetzt erst einmal einen neuen Zeitvertreib finden.

Wir haben immer so viel zusammen gemacht, dass für andere Hobbys gar keine Zeit war, außer lesen, ab und zu. Und da fällt mir schon wieder die Buchdiät ein. Nein, da surfe ich lieber noch etwas im Internet.

Jeder, der schon einmal Sims gespielt hat, weiß, dass aus ‘etwas‘ schnell drei bis fünf Stunden werden können.

„Was? Schon sechzehn Uhr? Wie ist denn die Zeit so schnell vergangen? Ist die Uhr kaputt? Kann die Uhr am Laptop überhaupt kaputtgehen? Hab ich noch nie gehört.“ Hör auf zu denken, Claire!

Bevor ich noch bis Mitternacht vorm Laptop sitze, schalte ich ihn doch lieber aus und widme mich sinnvolleren Dingen. Hm, sinnvoller, sinnvoller… Es sind Sommerferien, verdammt, ich muss nicht lernen oder ein Referat vorbereiten.

Hach, wie gerne würde ich jetzt ein Referat vorbereiten. Niemand versteht mich, aber ich liebe sie einfach. Das kann ich aber in der Schule nicht laut sagen, da mich sonst jeder nur noch komisch ansehen würde. So, als hätte ich gerade laut gesagt, dass ich gerne Referate vortrage.

Da fällt mir ein, dass ich mein erstes Referat mit Lillian vorbereitet habe. Es war richtig lustig, aber auch ein kleines Chaos. Sie kann Dinge absolut nicht auswendig lernen.

Sie musste ständig auf ihre Kärtchen glotzen, hat vor Aufregung angefangen zu stottern und ich war mir sicher, dass sie inständig um einen Feueralarm bat, ob echt oder Probe war ihr dabei garantiert egal. Mein aufmunterndes Lächeln hat ihr bestimmt etwas geholfen, sie erwiderte es zumindest immer und dann lief es besser. Zwar nur für die nächsten drei, vier Sätze, aber sie wurde besser und besser, bis sie genug Selbstvertrauen gefasst hatte und irgendwann gar nicht mehr stottern musste.

Das hat zwar ein ganzes Jahr lang gedauert, aber damals hätte ich nicht damit gerechnet, dass sie es schafft, ihre Angst, vor anderen zu reden, zu besiegen. Sie hat sich selbst oft als zu schwach angesehen, aber das war sie nicht. Hoffentlich bekommt sie das jetzt an der neuen Schule ohne mich hin, es könnte nämlich gut sein, dass sie ihre Angst gar nicht überwunden, sondern sich nur an die Leute, die sie während eines Referats anstarrten, gewöhnt hatte.

Ich sehe sie schon über Skype verzweifeln. Nur bin ich dann zu weit weg, um ihr richtig helfen zu können. Manchmal hilft es einfach nur, wenn man in den Arm genommen wird.

Wenn es eine Person tut, die man mag und der man vertraut, dann ist eine Umarmung viel hilfreicher als tausend lieb gemeinte Worte, wenn sie von jemandem ausgesprochen werden, der einen nicht gut kennt. Diese ganzen Phrasen, die man eben von sich gibt, weil es höflich ist, nicht, weil einem die Person, der es schlecht geht, wirklich am Herzen liegt.

Genauso mit der ewig bescheuerten Standardfrage „Wie geht’s?“ Wie ich diese Frage doch hasse, wirklich. Wenn sie von jemandem kommt, von dem ich weiß, dass ihm die Antwort vollkommen egal ist.

Ich höre, wie jemand den Flur entlanggeht und sich die Tür zum Bad öffnet, meine Mutter ist also wieder wach und muss sich für die Arbeit fertigmachen. Sie ist nachtaktiv wie ein Hamster, solch eine Arbeit wäre nichts für mich, nur Sterne beobachten und so was, die ganze Nacht, aber sie ist Astronomin aus Leidenschaft. Obwohl ich bestimmt auch später einmal öfters nachts arbeiten muss, wenn ich Journalistin werden will.

Falls mich das dann noch interessiert. Es macht mir zumindest unglaublich viel Spaß, an unserer Schülerzeitung mitarbeiten zu dürfen. Von selbst wäre ich wohl nicht darauf gekommen, so etwas auch beruflich zu machen, aber ich wurde von der Direktorin höchstpersönlich für mein Engagement gelobt, und dass das genau mein “Ding“ wäre.

Das oder Schriftstellerin, da wäre ich wenigstens mein eigener Boss. Naja, so gut wie. Es würde mich reizen, einen Krimi zu schreiben, aber ich schätze, ich bin zu dumm für dieses Genre, obwohl ich die Beste unseres Jahrgangs bin. Ich habe bereits einige Agatha Christie Krimis verschlungen und noch nie richtig geraten.

Wie schlau sind Krimiautoren eigentlich? Was für einen IQ muss man da haben? Nein danke, dann schreibe ich doch lieber einen kitschigen Liebesroman. Obwohl, ich muss gestehen, ich hatte noch nie einen Freund, und so viel Fantasie für eine liebesumwobene Romanze besitze ich bestimmt nicht.

Wenn man nicht weiß, wie es ist und wie es sich anfühlt, wenn man eine Person aus tiefstem Herzen liebt und für sie sogar eine Kugel abfangen würde, dann kann man auch keine Story darüber schreiben.

Es ist so heiß geworden, ich hätte das Fenster geschlossen lassen sollen. Bei geschlossenen Fenstern ist es im Haus angenehm kühl, darum schwitze ich auch in meinen Plüschhausschuhen nicht, aber ich vertrage keine Hitze, darum werde ich auch nicht so braun wie beispielsweise Rima, - obwohl sie schon von Natur aus eine schön gebräunte Haut hat - ich verstecke mich lieber vor der Sonne.

An heißen Sommertagen kühle ich bestimmt mindestens zwanzig Mal meine Handgelenke mit kaltem Wasser, das hilft mir etwas, nicht zu krepieren. Meine Mutter ist noch im Bad, also gehe ich runter in die Küche. Das kalte Wasser tut echt gut, ich könnte den ganzen Tag einfach nur blöd rumstehen und meine Hände unter den Wasserstrahl halten.

Meine Mum lässt einen kurzen Lacher los, als sie die Küche betritt und mich sieht. Ich weiß, was jetzt kommt.

„Der Wasserverbrauch im Sommer ist Deinetwegen fast doppelt so hoch als im Winter.“

Seufzend antworte ich:

„Ich weiß, ich sagte doch, du sollst mir eine Rechnung ausstellen, dann geh ich jobben und bezahle meinen Anteil des Wassers.“

Das ist meine merkwürdige Art von Humor. Ich sage Sachen, die total dämlich und unrealistisch sind, in einem so stinknormalen, monotonen Ton, als wäre es das Normalste auf der Welt, sodass man einfach darüber lachen muss.

Mir selber fiel das zuerst gar nicht auf, ich will auch gar nicht gewollt lustig sein, aber manchmal ernte ich wegen ein paar meiner Aussagen Lacher, obwohl ich es selber gar nicht als lustig empfunden habe. Deswegen wurde mir in der Schule auch die „Frag Claire“-Rubrik für die Schülerzeitung aufgehalst, in der Hoffnung, ich würde damit die Leser zum Lachen bringen, daraus wurde aber bald mehr. Ich hatte mich anfangs wie sonst was dagegen gewehrt.

Ich und so eine Art Dr. Sommer, oder wie? Ohne mich! Obwohl so etwas überhaupt nicht mein Ding ist, habe ich mich nach und nach doch immer mehr damit angefreundet.

Ich wurde vom “Chef“ der Schülerzeitung, Howard, gebeten, es zuerst zu versuchen, bevor ich ihn für diese ‘schwachsinnige‘ Idee mit Tischen und Stühlen bewerfe – den Stuhl hatte ich bereits in der Hand - und das habe ich getan. Man entwickelt nach den ersten ernst gemeinten Fragen eine Art Muttergefühl für die Schützlinge. Klingt total verrückt, oder?

Auf einmal wollte ich allen so gut helfen wie nur möglich, ihnen die besten Ratschläge geben, die sie nur von mir bekommen können. Als ich damit anfing, dachte ich, ich würde nur Scherzfragen bekommen und die Leute würden sich mehr über mich lustig machen, aber das Gegenteil war der Fall, und ich wurde wirklich eine Art Dr. Sommer.

Howard wusste über meine überemotionale Seite Bescheid und hat das eiskalt ausgenutzt.

„Ja, das habe ich“, sagte er, als ich ihn zur Rede gestellt hatte, mit einem so charmanten Lächeln, dass ich nicht weiter darauf eingehen konnte, also setzte ich mich schmollend wieder an den Computer und beantwortete weiter Fragen.

„Gut machst du das!“, sagte er grinsend.

Die Schüler wussten, wer ihre Fragen beantwortete, schließlich trug die Rubrik meinen Namen, aber ich wusste nichts darüber, wer mir was geschrieben hatte, natürlich konnte mir jeder anonym schreiben. Manchmal läuft ein Mädchen an mir vorbei, lächelt mir schüchtern zu und säuselt

„Danke, Claire!“

Daran musste ich mich erst einmal gewöhnen, da es, als es die Rubrik erst ein paar Wochen gab, jeden Tag mehrmals vorkam. Die ersten Male habe ich immer nachgefragt

„Danke für was?“ und als mir schüchtern geantwortet wurde, dass ich eine von ihren Fragen beantwortet hätte und ihnen das geholfen hatte, gab mir das ein irres Gefühl von Selbstzufriedenheit. Wenn mir das jetzt immer noch passiert, dann nicke ich bloß und sage

„Keine Ursache!“, auch wenn ich gar nicht weiß, wer das Mädchen war und was ich ihr geraten habe.

Manchmal sitze ich am Montag bis abends in der Schule und beantworte Mails, da sich über das Wochenende so viel angesammelt hat. Mir wurde geraten, mich nicht privat darum zu kümmern, da ich mich sonst zu sehr reinsteigern und alle zehn Minuten nachsehen würde, ob jemand meine Hilfe braucht, darum logge ich mich zu Hause nie ein.

Stella, eine gute Schulfreundin, mit der ich aber privat nicht sehr viel zu tun habe, und ich suchen uns die besten Fragen raus, die letztendlich auch gedruckt werden. Meistens sind es entweder lustige Fragen, damit die Leser auch was zu lachen haben und vom stressigen Schulalltag abgelenkt werden, oder Probleme, dessen Antwort von mir auch anderen hilfreich sein könnte, zum Beispiel Lerntipps. Da ich sehr gut in der Schule bin, fragen mich viele, wie ich das denn anstelle.

Es gibt keinen speziellen Trick, um bessere Noten zu schreiben, finde ich. Entweder, es fällt einem leicht, oder eben nicht. Da das meinen Lesern aber nicht genügt, gebe ich so Tipps wie

„Schreibe dir alles Wichtige zusammen und lese es dir immer wieder langsam durch. Mach dann eine Pause von fünf Minuten und dann versuche, das eben Gelernte noch einmal zu wiederholen, ohne nachzusehen. Das machst du so lange, bis du dir sicher bist. Natürlich solltest du auch verstehen, was du liest und nicht stur jeden einzelnen Satz auswendig lernen.“

Klingt einfach, oder? Und trotzdem kriegen es viele nicht gebacken, da eben doch jeder anders tickt. Dafür kann ich nicht kochen. Selbst dann nicht, wenn ich mir ein narrensicheres Rezept ausgedruckt habe. Irgendetwas geht immer schief, obwohl ich mich genau an Angaben und Zubereitung halte.

Darum will mir Oma also nicht ihre Rezepte hinterlassen. Rätsel gelöst. Ich kann sie sogar verstehen. Würde ich das Rezept ihrer Weihnachtsplätzchen in die Finger kriegen und groß ankündigen, sie dieses Jahr nachzubacken, dann würde meine Oma sich spontan für einen kleinen Urlaub nach Schottland entschließen, um ihren Bruder zu besuchen, der sowieso nicht mehr weiß, wer sie ist.

Ich würde auch nicht dabei sein wollen, wenn ich eine leidenschaftliche Köchin und Bäckerin wäre und so ein junges Gemüse wie ich, das gerade mal Nudeln kochen kann, mein absolutes Lieblingsgericht versaut. Ich hätte davon ein Trauma, sodass ich es selber nicht mehr kochen könnte. Also ich denke zumindest, dass ein wahrer Gourmet so tickt, und meine Oma war früher immerhin Restaurantkritikerin, ich sage das also nicht im Scherz, wenn ich meine, dass sie von meinen Kochkünsten tatsächlich ein Trauma bekommen würde.

Sie würde es mir nicht ins Gesicht sagen, da ich ja so ein liebes Kind bin, aber trotzdem. Ein Hoch auf Fertiggerichte und Tiefkühlfraß. Also überleben werde ich, wenn ich irgendwann einmal auf eigenen Beinen stehe und Geld verdiene.

„Willst du Kaffee?“, frage ich Mum und nehme ihre Lieblingstasse aus dem Küchenschrank, der mit Stickern vollgeklebt wurde – von mir, mit fünf, und sie kleben immer noch darauf!

„Gerne, gerne“, antwortet sie und ich glaube, sie hat die Frage gar nicht richtig mitbekommen, sie steckt nämlich mit der Nase mitten in der Tageszeitung.

„Bekomme ich mehr Taschengeld?“, frage ich und starre herausfordernd das Titelblatt an, hinter dem sich langsam Mum‘s Kopf erhebt. Unsere Blicke treffen sich und keine von uns wagt es, zuerst zu blinzeln. Sie fordert mich schon wieder heraus.

„Netter Versuch, Liebling. Und schon wieder gescheitert.“

Sie weiß doch, dass ich bei so einem doofen, von ihr ins Leben gerufenen Blinzel-Wettbewerb dauernd grinsen muss! Jedes Mal, egal bei wem, ich würde sogar gegen meinen Hamster Knoppers verlieren. Ich werde nie mehr Taschengeld bekommen.

Wenn das in Zukunft für alles die Bedingung ist, dann darf ich bald nicht mehr das Haus verlassen. Sie nimmt einen Schluck des von mir mit viel Liebe zubereiteten Milchkaffees und seufzt plötzlich vor sich hin.

„Was ist denn los? Jemand Bekanntes bei den Todesanzeigen? Ein Rezept, bei dem du die Hälfte der Zutaten nicht kennst? Oder sagt dir dein Horoskop, dass du deiner Tochter mehr Taschengeld geben solltest?“

Sie sieht mich ernst an und antwortet mit besorgtem Klang in ihrer Stimme:

„Nein, nichts von alldem. Hier steht nur, dass schon wieder ein Mädchen vergewaltigt wurde. Zwar nicht hier bei uns, aber das zeigt mir nur wieder, dass ich die Suche nach deinem Zukünftigen wohl wirklich selbst in die Hand nehmen muss. Der bekommt dann von mir erst einmal einen Fragebogen in die Hand gedrückt, der sich gewaschen hat.“

Nicht schon wieder ihr Fragebogen.

„Und du stehst dann mit einer Knarre hinter ihm, oder was?“

„Aber nicht doch.“ Sie schmunzelt.

„Warum meinst du eigentlich, dass ich mir meinen Freund nicht selber aussuchen kann? Nicht alle sind Vergewaltiger.“

„Das nicht, aber wenn ich mir diesen Kerl hier ansehe… Genau dein Typ, oder?“

„So ein Quatsch, zeig mal h…“ – sie hält mir das Bild direkt vor die Nase, sodass es für die ersten Sekunden verschwimmt und ich mir die Augen reiben muss.

„Tatsächlich! Der sieht aus, als hätte er gerade mit Bravour sein Abitur bestanden und würde jetzt sein Medizinstudium angehen. Hellbraunes, ordentlich gekämmtes Haar, weißes Hemd mit Krawatte, grüne Augen und einem Blick, der innere Ruhe und Vertrauen ausstrahlt, sodass man selbstverständlich als Kind mit ihm in den Wagen steigen würde, um ein leckeres Bonbon zu erhaschen, man würde bei diesen Augen nicht glauben, dass er lügen könne.“

„Ich mache mir nur Sorgen um dich, Claire.“

„Aber du hast nur die Vergewaltiger erwähnt. Denk doch auch mal an die Drogenjunkies und die Schlägertypen da draußen!“ Sie wird blass.

„Weißt du was, ich bleibe einfach mein ganzes Leben lang solo, wäre das Okay für dich?“

„Damit tätest du mir einen großen Gefallen.“ Und schon nimmt ihr Gesicht wieder Farbe an.

Ich verstehe die Ängste einer Mutter schon, total, darum will ich selber erst gar kein Kind mehr in diese schreckliche und verdorbene Welt setzen. Das habe ich bereits mit dreizehn Jahren beschlossen, aber sie sollte wirklich aufhören, zu denken, dass auch ich so einen abbekommen könnte. Das motiviert mich nicht gerade, im Gegenteil.

Aber so, wie ich Mum kenne, würde in ihrem Fragebogen (Das meinte sie wirklich todernst) die Frage "Hast Du schon einmal a) jemanden vergewaltigt, b) jemanden verprügelt oder c) Drogen verkauft/selbst genommen“ auftauchen. Nicht, dass es jemand zugeben würde. Vielleicht ist auch das der Grund, warum ich gar nicht erst suche.

Irgendwann wird sie wieder für zwei Wochen meinen Vater besuchen, dann vielleicht. Das wäre ja was, wenn ich in dieser kurzen Zeit tatsächlich einen Freund finden würde. Wenn ich das meiner Mum am Telefon beichten würde, wäre sie mit dem nächsten Flieger wieder hier, würde japsend die Tür aufsperren, zu ihm gehen, sich ihm – immer noch halb am Hyperventilieren – vorstellen, und ihm freundlich lächelnd einen Stapel Papier in die Hand drücken.

Aber eigentlich geht es mir gut so, wie es ist. Um mich herum gehen immer alle Beziehungen in die Brüche, ich will nicht, dass es bei mir auch so endet. Ich weiß nicht, ob ich es verkraften könnte, wenn mich die Person, die ich über alles liebe, betrügt oder verlässt. Solange ich Freunde habe, komme ich gut ohne Partner zurecht.

Meine Mutter ist bereits auf dem Weg zur Arbeit und ich sitze wieder herum wie bestellt und nicht abgeholt. Die Zeitung liegt noch, mit der Seite dieses Vergewaltigers aufgeschlagen, auf dem Tisch.

„Du Schwein!“, zische ich verachtend und lege die Zeitung zum Altpapier.

Auf einmal hämmert jemand wie wild gegen die Haustür und ich breche vor Schreck fast zusammen. Ich habe mich eben noch gefragt, wie schrecklich es sich anfühlen muss, und ob man sich danach überhaupt noch im Spiegel anschauen kann. Diese Scham kann man nicht mehr abwaschen.

Als ob jetzt einer vor der Tür stehen und sagen würde Guten Tag, ich bin gekommen, um Sie zu vergewaltigen. Ich stelle mich aber auch wirklich an. Es ist Rima, die mich, gleich als ich die Tür nur einen Spalt geöffnet habe, am Handgelenk packt und nach draußen schleift.

„Schau mal, schau mal! Es schauen sich welche das Haus von Lillian an!“

Von hier aus erkennen wir nicht wirklich viel, nur zwei fremde Autos, und es ist nur logisch, dass das eine den Interessenten und das andere der Maklerin gehört. Also laufen wir den neuen Vielleicht-Nachbarn einfach mal entgegen, um zu sehen, ob denn jemand in unserem Alter dabei ist. Die paar Meter, Kinderspiel, meine Kondition war schon immer ausgezeichnet.

„Ich krieg Seitenstechen!“, jammere ich und bleibe ruckartig stehen, Rima kann nicht mehr rechtzeitig bremsen und reißt mir beinahe den Arm aus, und ich taumle noch ein paar Schritte vorwärts.

„Du warst schon immer die Schlechteste in Sport, dabei siehst du so aus, als hättest du es drauf“, stichelt Rima und grinst.

Ich bin einfach zu schnell losgelaufen. Ohne aufwärmen und das alles. Da bekomme ich immer Seitenstechen, schon nach ein paar Metern. Ich gehe in die Hocke, halte mir den Bauch und atme langsam ein und aus.

„Na komm, geht’s wieder?“

Diesmal klingt Rima sogar leicht besorgt, wie nett und fürsorglich von ihr. Sie weiß, dass ich bei Hitze und Anstrengung sehr schnell Kreislaufprobleme bekomme, noch dazu bin ich mit Schoko-Mini-Muffins vollgefressen und könnte sowieso gerade platzen, ein Glück, dass alles dringeblieben ist. Wir beschließen nun doch, uns unauffällig anzupirschen und die eventuell neuen Nachbarn aus sicherem Abstand zu beschatten.

Man, fühlt sich das cool an, als wären wir Privatdetektive, die von einer verzweifelten Hausfrau engagiert wurden, um herauszufinden, ob ihr Ehemann tatsächlich irgendwelche Weibsbilder einlädt, während die ahnungslose Ehefrau beim Einkaufen ist.

Wir verstecken uns hinter den Hortensiensträuchern, die uns den perfekten Blick auf Lillys Haus gewähren.

„Sag mal, Rima…“, flüstere ich und zupfe ihr am Ärmel.

„Hm?“

„Warum gehen wir eigentlich nicht wie normale Menschen auf die Neuen zu und stellen uns vor?“

„Keinen blassen Schimmer!“

Wir prusten los und halten uns gegenseitig die Hand vor den Mund. Niemand hat uns gehört, aber wir sind genau zum rechten Zeitpunkt gekommen, es betreten gerade alle das Haus, ich erkenne gerade noch die letzte Person, die eintritt.

Ein junger Mann, vermutlich Mitte zwanzig, blondes Haar mit dunklem Ansatz, einen Teil seiner dichten Haare, die ihm bis zum Ohrläppchen reichen, zu einem kleinen Zopf gebunden, schmales Gesicht, generell sehr dünn und schmächtig, mit einer hellblauen Nerd-Brille auf der Nase, und einem Puschelschwänzchen, das auf der Rückseite seiner Jeans befestigt ist und lustig herumbaumelt, während er sich bewegt.

So etwas habe ich mal in einem Video über den besonderen Style von Japanern gesehen, er selbst ist aber ganz eindeutig europäisch. Er schmiegt sich an die Schulter der Person vor ihm, ich erkenne aber nur noch etwas Weinrotes. Sein schwarz-gelber Collegepullover bestätigt den Eindruck noch, dass es sich hierbei um einen Streber handeln muss.

An seiner Jeans sind hellblaue Hosenträger, passend zu seiner Brille, befestigt, die jedoch einfach lasch herunterhängen. Wenn die wieder modern werden, will ich tot umfallen. Warum müssen die aber auch fast immer dem Klischee entsprechen?

„Ich bin auch gut in der Schule und laufe nicht so rum, bessert mal euer Image auf!“, würde ich ihm am liebsten nachbrüllen. Obwohl wir doch einige Meter entfernt sind, können wir fast alles verstehen, was die Maklerin den Interessenten erzählt, kein Wunder, das Haus ist leer geräumt und die Haustür steht offen. Man hört ein paar Mal das Knipsen einer Kamera.

Ich frage mich gerade ernsthaft, was ich hier eigentlich mache, es ist mir doch egal, wer hier einzieht, Rima hat mich schließlich rausgezerrt und mit ihrem „Schau mal, schau mal!“, neugierig gemacht. Aber dieses kleine Beschattungsspielchen ist ganz witzig, es bringt mich auf andere Gedanken, auch wenn ich natürlich an Lilly denken muss, wenn ich hier hocke und ihr Haus anstarre. Aber was soll ich machen? Schon wieder weinen?

Selbst wenn ich wollte, es sind keine Tränen mehr übrig. Wenigstens können wir uns nun ein Bild von den Leuten machen, ohne dass wir uns zu erkennen geben müssen. So können wir uns schon vorab darauf einstellen, ob wir ihnen in Zukunft lieber aus dem Weg gehen werden, wenn wir ihnen zufällig begegnen, oder eben nicht.

Es ist nun einmal so, der erste Eindruck zählt, und indem wir sie von Weitem beschnuppern, sehen wir, wie sie wirklich sind und nicht wie sie wollen, dass andere sie sehen. Wenn mich der Typ von eben beispielsweise schon während der ersten Minuten fragen würde, ob ich denn Single sei, dann hätte er es sich bei mir schon verscherzt. Wie plump und abgeschmackt, so etwas hasse ich.

Ich bin, was das Thema Männer angeht, wirklich sehr, sehr überempfindlich. Man kann bei mir eigentlich so gut wie alles falsch machen. Rima würde dazu nur sagen

„Mein Gott, er hat nur gefragt, ob du einen Freund hast!“, und ich würde mich mit

„Nach drei Minuten!“ rechtfertigen.

Ich denke da sofort „Der gräbt dich an!“, und meine Alarmglocken schellen und ich verbarrikadiere mich hinter einer imaginären, aber dicken und steinharten Wand. Okay, vielleicht bin ich wirklich etwas seltsam. Aber das erklärt doch immerhin, warum ich noch nie einen Freund hatte.

Mir kann man es einfach nicht recht machen, ich schieße Jungs sofort auf den Mond, wenn sie mir nur einmal blöd kommen, dabei bin ich selber nicht perfekt. Wenn man mich nicht gut kennt und beobachten würde, wie ich jedem einen Korb gebe, würde man meinen, ich sei eine selbstverliebte, arrogante Zicke, die nur an Männern mit jeder Menge Moneten interessiert ist, dabei will ich doch einfach nicht verletzt werden.

Was so viel heißt wie: Ich werde tatsächlich für immer Single bleiben. Was soll‘s.

Ein dunkelroter Porsche biegt nach ein paar Minuten des Wartens um die Ecke und kommt quietschend vor dem „Zu verkaufen“-Schild zum Stehen. Samantha. Oh nein. Rima und Samantha, beide zur gleichen Zeit am selben Ort.

Als sie aussteigt, fallen mir fast die Augen aus dem Kopf. Die fährt doch tatsächlich mit vierzehn Zentimeter Absätzen Auto. Unverantwortlich ist so etwas.

Sie zupft sich ihren rosa Minirock zurecht und läuft mit kleinen Trippelschritten – der gepflasterte Weg ist eben kein Laufsteg - auf die Veranda zu und verschwindet im Haus. Hoffentlich gibt sich Rima nicht zu erkennen.

„Die ziehen garantiert nicht hier ein, wenn sie gleich Sam kennenlernen“, sage ich voller Schadenfreude.

„Hallo, Erde an Rima!“

Rima verfolgte Samantha vom Auto bis hin zur Haustür und gafft jetzt immer noch auf dieselbe Stelle.

„Was ist denn in dich gefahren?“ Ich versuche es noch einmal mit der menschlichen Sprache, dieses Mal hört sie mich, sie fährt erschrocken herum, als hätte sie vergessen, dass ich schon die ganze Zeit neben ihr hocke.

„Wa...? Sorry!“ Sie wird knallrot. So richtig, richtig knallrot.

„Ich weiß… Ich verstehe dich“, sage ich und klopfe ihr fürsorglich auf die Schulter, doch Rima reißt die Augen auf und sieht mich entsetzt und zugleich ängstlich an, sodass ich sie wieder zurückziehe.

„Du verstehst überhaupt nichts!“, fährt sie mich an.

Jetzt bin ich erschrocken. Erschrocken, verwirrt und ratlos.

„Was meinst du damit? Warum tickst du so aus? Ich wollte nur andeuten, dass ich mich genauso schäme, dass die da drinnen jetzt Sam kennenlernen.“

Rima beruhigt sich schlagartig, lässt sich wieder neben mich sinken und starrt in den leicht bewölkten Himmel. Ihr Blick wirkt traurig.

„Du schätzt sie falsch ein“, stammelt sie emotionslos.

Ich antworte darauf nicht, sondern begebe mich wieder in die richtige Beschattungsposition. Man kann mit ihr nicht über Sam diskutieren. Jemand anderes hätte sich diesen Fehler, nämlich den, zu behaupten, man würde sich schämen, wenn andere Leute Bekanntschaft mit ihr machen müssen, nicht erlauben dürfen.

Es wundert mich, dass ich einfach so davonkomme. Aber genauso wundert es mich, dass Rima sie immer wieder verteidigt. Ich würde mir diese Frage nicht stellen, wenn die beiden gute Freundinnen wären, aber das sind sie nicht.

Sam gibt sich nur mit Leuten ihresgleichen ab, also mit Models und nur mit Models, und auch wenn Rima schlank ist, ist sie mit ihren 1.70 m sowieso zu klein, um je als erfolgreiches Model arbeiten zu können. Das Modelgeschäft würde sie umbringen.

Obwohl ich sie mir gut als Gesicht einer Kosmetikmarke vorstellen könnte, sie hat reine Haut, hohe Wangenknochen, schmale Lippen, dafür aber schöne, große Rehaugen und dünn gezupfte, dunkle Augenbrauen, die sie zusätzlich immer mit einem Augenbrauenstift nachzieht. Ein starker Kontrast zu ihren nun platinblonden Haaren.

Samanthas Kichern ist nicht zu überhören und ich verdrehe, Rima zuliebe, nur in Gedanken die Augen, obwohl sie mich sowieso nicht ansieht, sondern einfach nur dahockt und die Arme um ihre Knie geschlungen hat. Die Maklerin, der junge Typ von eben, noch ein Mann, der sieht aber ein paar Jahre älter aus, und Samantha verlassen das Haus, bleiben auf dem Rasen stehen und besprechen anscheinend irgendwelche Details, ich höre gar nicht richtig zu, sondern beobachte nur den einen Typ mit der Nerd-Brille, den anderen, den ich vorhin nicht gesehen habe, und Sam.

Sie lächelt den Streber im Collegepullover verschmitzt an und erntet ein gezwungenes Ich-finde-dich-auch-nett-Lächeln. Der andere, fast einen Kopf größer – nebenbei bemerkt mit einem extrem coolen Undercut-Schnitt - und im weinroten Anzug mit orangefarbener Krawatte, greift nach seiner Hand – in der anderen hält er ein Buch, ich kann aber nicht erkennen, was für eins - und hält sie mit leichtem Druck fest, dabei sieht er ihr einschüchternd in die Augen. Sie versteht sofort, was er ihr damit sagen will und ihre Gesichtszüge entgleisen für einen kurzen Moment.

Es hat sie doch tatsächlich jemand abblitzen lassen. Sie wirft ihr langes, blondes Haar nach hinten und lächelt prompt wieder wie gewohnt. Das künstliche Lachen hat sie drauf, aber das eignet man sich wohl automatisch an, wenn man schon an mehreren Misswahlen teilgenommen hat.

Freundlich verabschiedet sie sich mit einem Gelogenen und viel zu hohem

„Ich habe ja noch so viel zu erledigen!“ und steigt wieder in den Porsche ihres Vaters.

Warum war sie überhaupt da? Als sie sich umdreht, kann ich genau ihr wütendes Gesicht sehen. Bitte, Rima, steh nicht auf und dackel ihr hinterher, das wäre so unglaublich peinlich.

Und wenn doch, dann lass wenigstens mich nicht auffliegen. Sicherheitshalber halte ich meine Hand knapp über ihrer Schulter, um sie im Fall der Fälle schnell packen und zurückhalten zu können, doch zum Glück ist es ihr selber zu blöd, plötzlich aus einem Busch hervor zu kriechen und alle Blicke auf sich zu ziehen. Sie mag es sowieso nicht, angestarrt zu werden.

Als Sam den Wagen startet und losfährt, fällt mein Blick auf den anderen Typen im Anzug. Er wird etwa fünf Jahre älter sein, sein Gesicht ist etwas härter und markanter als das des jüngeren, und er hat zwar noch keine Falten – so alt ist er nun auch wieder nicht – aber man sieht ihm die Reife mehr an. Auch sein dunkler Dreitagebart lässt ihn noch erwachsener wirken.

Er wirft seinem Freund einen fragenden, aber gleichzeitig kritischen Blick zu. Der Jüngere lächelt ihn entschuldigend an, schüttelt dabei den Kopf und schmiegt sich an seinen Arm. Sein linkes Auge ist von ein paar dünnen Strähnen seiner blondierten Haare verdeckt, sein Partner streicht sie ihm sachte aus seinem Gesicht und lächelt, als hielte er ein Neugeborenes im Arm.

Mir wird ganz warm ums Herz, wenn ich das so sehe. Aber was wollte Sam überhaupt von dem Blonden? Ob die sich kennen?

Könnte ja sein, dass sie sich einmal in einer Bar kennengelernt haben, Sam genehmigt sich ein- bis zweimal in der Woche einen Cosmopolitan oder Apfelmartini im “Velvet“, eine Bar, in der sich alles aufhält, was sich wichtig vorkommt. Sie befindet sich etwas außerhalb des Zentrums, es ist eine ruhige Gegend – zu Fuß etwa dreißig Minuten von unserer Straße entfernt – neben ein paar Nobelgeschäften und einem Café gegenüber.

Die Fenster sind riesengroß, sodass man wirklich alles von draußen beobachten kann, sogar den Barkeeper. Drinnen ist alles in dunkelrot und braun gehalten. Ich selbst war noch nie da, mir sind die Drinks einfach zu teuer, außerdem schmeckt mir gar kein Alkohol, ich trinke selten etwas.

Aber Sam habe ich, wenn ich mir im Café einen Caffè Latte mit Karamellaroma gegönnt habe, schon oft auf einem der dunkelroten Hocker an der Bar sitzen sehen und man geht dort nicht rein, um sich ein Glas Wasser zu genehmigen. Jedes Mal standen mindestens zwei Männer neben ihr, die sie bezirzten. Aber betrunken habe ich sie noch nie erlebt, oder sie gehört zu den seltenen Exemplaren, denen man ihren Rausch absolut nicht ansieht, und wenn sie eigentlich noch so voll sind.

Ob sie diese ganzen Verehrer alle abblitzen lässt? Fünf Minuten vom Café entfernt befindet sich ein kleiner Park, zu dem ich mich gerne zurückziehe und lese, er ist nämlich nicht voll von obdachlosen Alkoholikern. Nur Pensionisten, Eltern mit Kinderwagen und Hundebesitzer sind dort anzutreffen.

Dahinter befindet sich nichts mehr, nur ein Feld mit Mais und anderem Gemüse. Es tut gut, von all dem Schulstress dort einfach mal die Seele baumeln zu lassen, mit einem schönen heißen Kaffee auf dem Bänkchen und einem guten Buch in der Hand. Oder Lernstoff.

Muss auch sein, von nichts kommt nichts. Schließlich will ich auf der besten Uni überhaupt aufgenommen werden, der Adrian K. West Universität. Um da rein zu kommen, muss man wahrlich perfekt sein.

Und es werden jährlich so gut wie keine Schüler von unserer Privatschule aufgenommen, obwohl es immer ein paar Überflieger gab, mehr als einer hatte nie das Glück. Ich will es nächstes Jahr sein! Somit wäre ich die erste Frau seit vier Jahren, die es geschafft hat, es werden viel öfters Männer aufgenommen, ungerecht!

Jetzt steigt die Maklerin ebenfalls in ihren Wagen und fährt davon, so auch die zwei Männer. Ist das jetzt gut oder schlecht, dass es so schnell ging? Haben sie sofort zugesagt? Leider habe ich gar nicht mitbekommen, was sie eben besprochen haben.

Wahrscheinlich überlegen sie es sich noch. Eigentlich haben wir jetzt umsonst einen auf James Bond gemacht, wir wissen überhaupt nichts über die – eventuell – neuen Nachbarn. Nur, dass es sich ganz offensichtlich um ein Pärchen handelt.

„Meinst du, die kennen sich?“, Rima sieht mich nicht an, während sie das fragt, ihre Finger krallen sich an einem Grasbüschel fest und ihr Blick wirkt leer. Das würde ihr wohl sehr viel ausmachen. Warum?

Zwar denke ich schon, dass sie sich von irgendwoher kennen müssen, dem Verhalten nach zu urteilen, aber er scheint sie vergessen zu wollen, auf jeden Fall schien er mehr peinlich berührt als erfreut gewesen zu sein, sie zu sehen – ich versuche trotzdem, ihr das auszureden, sie sieht gerade echt fertig aus, innerlich zerrissen.

„Sie wollte bloß höflich sein, sie hat nur im Gegensatz zu uns die Initiative ergriffen und sich nicht hinter einem Busch versteckt.“ Das, was ich nun vorschlagen werde, bereue ich hoffentlich nicht.

„Hey, weißt du was? Wir wollten uns doch sowieso gemeinsam die Zeit vertreiben und zocken. Wir fangen sofort damit an, was hältst du davon?“ Mit einem Hops springe ich auf die Beine und strecke euphorisch die Faust in die Höhe.

„Dieses Mal mache ich dich kalt!“, sage ich mit einem leicht dämonischen Grinsen, wie ich es immer mache, wenn ich mir bei etwas absolut sicher bin. Oder, wenn ich schon weiß, dass ich haushoch versagen werde, aber trotzdem versuche, mein Gegenüber mit meiner gespielten Selbstsicherheit zu verunsichern.

„Okay“ ist alles, was sie dazu sagt. Und das nach meinem tollen, motivierenden Auftritt. Aber ihre Stimmungsschwankungen kenne ich schon, nichts Neues also. Vielleicht lasse ich sie großzügigerweise gewinnen, weil sie gerade so mies drauf ist. Sie sitzt immer noch da wie ein Sack Reis und sieht dem Gras, welches sie noch nicht ausgerissen hat, beim Wachsen zu, also packe ich sie an beiden Armen und ziehe sie hoch.

„Was… ist denn los?“, stammle ich überrascht und lasse sie los. Sie erwidert kurz meinen Blick, dann senkt sie den Kopf.

„Weinst du etwa?“ Die Frage sprudelt einfach aus mir raus. Ich blöde Kuh. Das sieht man doch.

„Was?“, antwortet sie ebenso überrascht wie ich und streicht sich mit den Fingerspitzen vorsichtig über ihre Wange, über die eine schwarz gefärbte Träne entlangläuft, gefolgt von einer Zweiten. Sie wischt sich die Backe trocken und sieht dann fragend in ihre Handfläche, als würde sie selbst nicht verstehen, warum sie weint.

Mit „Alles in Ordnung!“, blockt sie ganz Rima-like meine Frage ab. Mit ihr stimmt doch was nicht.

Gefrorene Kirschblüten

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