Читать книгу Daddy Übernimmt Die Zügel - Kelly Dawson - Страница 5
Kapitel Eins
Оглавление„Ich hab den Job, Annie!“, rief Bianca triumphierend und stieß die Faust in die Luft, als sie ins Wohnzimmer ihres Elternhauses kam. Dort saß ihre Schwester im ledernen La-Z-Boy-Sessel, eine bunte Strickdecke über den Knien und eine aufgeschlagene Zeitschrift neben sich auf dem Couchtisch. „Ich fange morgen an.“
Annie lächelte zu ihr auf. „Das freut mich“, sagte sie. „Ich wusste, du schaffst es.“
„Ich hab schon gemerkt, dass Mr. Lewis – Tom – mich nur ungern nehmen wollte, wo ich doch ein Mädchen bin und so. Aber er wollte mir wenigstens eine Chance geben, nicht wie die anderen Ställe.“
„Du wirst tolle Arbeit leisten, Bee“, murmelte Annie. „Du hast eine Gabe im Umgang mit Pferden. Denk immer daran. Lass nicht zu, dass dein Tourette dich von deinen Träumen fernhält.“ Sie seufzte leise und sank zurück in den Stuhl; das Sprechen hatte sie ermüdet.
„Sie wissen nichts von meinem Tourette“, gab Bianca zu.
Annie setzte sich abrupt auf. „Was? Du hast es ihnen nicht erzählt? Warum nicht?“
Bianca zuckte mit den Schultern. „Du weißt doch, wie es ist“, sagte sie. „Niemand macht sich die Mühe, mich zu fragen, wie es bei mir ist. Sie denken, sie wüssten schon alles, weil es die Medien so breit treten.“
Annie nickte leicht. „Das stimmt vermutlich. Aber du musst es ihnen sagen, Bee. Erzähl ihnen, wie es bei dir ist. Sorg dafür, dass sie deine Tics verstehen, dass du unruhig wirst. Vielleicht bemerken sie deine Tics nicht, Bee, aber du musst ihnen davon erzählen.“ In Annies Stimme lag ein drängender Unterton und Bianca wusste, dass sie recht hatte. Es war schon lange her, dass ihr Tourette-Syndrom ihr das Leben schwer gemacht hatte, aber sie wusste auch, wie schnell sich das wieder ändern konnte. Sie seufzte.
„Okay Annie“, stimmte sie zu. „Ich erzähl's ihnen.“ Dann lächelte sie. „Weißt du, ist schon lustig. Du bist doch hier die Kranke und trotzdem beschützt du mich.“ Bianca griff nach der Hand ihrer Schwester und drückte sie sanft. Annies Griff war leicht; sie fühlte sich so zerbrechlich an. Aber ihr Lächeln war warm.
„Wir haben uns immer gegenseitig beschützt, Bee; wir waren schon immer füreinander da.“
„Ich weiß nicht, was ich ohne dich machen soll, Annie“, murmelte Bianca leise und in ihrer Stimme lag Traurigkeit. „Ich werde dich so sehr vermissen.“
„Noch bin ich nicht tot, Bee“, sagte Annie entschlossen. Doch beide wussten, dass es nur eine Frage der Zeit war – Annies Prognose war nicht gut. Vor drei Jahren war bei ihr Krebs im Endstadium diagnostiziert worden, und obwohl sie tapfer gekämpft hatte, lief ihr doch die Zeit davon. Mit gerade mal fünfundzwanzig, und nur fünfzehn Monate jünger als Bianca, war sie nur noch ein Schatten ihres früheren Selbst. Die früher so lebhafte junge Frau war jetzt kaum mehr als ein kahlköpfiges Skelett. Die unwirksame Chemo hatte ihr erst die Haare geraubt und dann die Kraft, um mehr als ein paar Schritte am Stück zu machen, bevor Schwäche und Übelkeit sie überwältigten.
Bianca legte sich auf das Sofa neben Annies Sessel und machte es sich bequem, um so den Abend mit ihrer Schwester zu verbringen. Jetzt, da die Krankheit schon so weit und so schnell fortgeschritten war, blieb Annie nicht gerne allein und ihr Vater war ein Workaholic, der zweifellos gerade in der Kneipe saß und dort seine Ängste in Alkohol ertränkte. Ihre Mutter hatte sie als Kinder verlassen und hatte halbherzige Versuche gestartet, wieder Teil ihres Lebens zu werden, nachdem sie von Annies Krankheit erfahren hatte, doch Bianca hatte ihre Annäherungsversuche zurückgewiesen. Sie fühlte nur Bitterkeit gegenüber der Frau, die sie als kleine Kinder verlassen und sie bei ihrem Vater gelassen hatte, um ein neues Leben mit einem Yogi zu beginnen, mit dem sie sich angefreundet hatte. Sie wollte sich in Indien ‚selbst finden‘, wie sie es ausdrückte. Bianca hatte keine Ahnung, ob sie ihre Mission erfüllt hatte, doch was sie wusste, war, dass sie dabei ihre zwei Töchter verloren hatte. Annie war versöhnlicher als Bianca, doch auch ihre Toleranz für die alberne, nutzlose Frau hatte ihre Grenzen.
Da ihr Vater so lange arbeitete, war Annies Pflege abends Bianca zugefallen. Verschiedene Damen aus Annies Kirche kamen stundenweise tagsüber vorbei, doch das war alles. Bianca übernahm den Rest. Doch das machte ihr nichts aus – gar nichts. Annie war ihre Schwester, ihre beste Freundin, die wichtigste Person der Welt für sie. Doch manchmal war es anstrengend und sie wusste, dass Annie eher früher als später Hospizpflege brauchte.
Nachdem sie Abendessen gekocht und die Küche aufgeräumt hatte, legte sich Bianca mit Annie in das große Doppelbett in Annies Zimmer. Sie wollte nicht immer bei ihr schlafen, doch heute Nacht, wo sie doch morgen ganz früh losgehen würde, wollte sie die ruhige, gelassene Schwester neben sich fühlen.
* * *
Sie erreichte die Ställe um genau sechs Uhr früh, wie es Mr. Lewis verlangt hatte. Schon zu so früher Stunde war der Stallbereich hell erleuchtet und viele Leute waren unterwegs.
„Morgen, ich bin Clay. Du musst Bianca sein? Dad sagte mir, dass du kommst.“ Der Mann, der in der offenen Doppeltür zu den Ställen stand, lächelte und hielt ihr die Hand hin.
Was für ein Kerl! Sein Griff war fest, als er ihre Hand schüttelte. Sie ließ ihren Blick schnell über seinen Körper wandern, versuchte aber, ihn möglichst unauffällig abzuchecken. Lange, schlanke Beine, die in Bluejeans steckten und in schwarzen Stiefeln endeten. Er war groß gewachsen, hatte breite Schultern und schlanke Hüften. Die Ärmel seines blau karierten Hemdes hatte er bis zu den Ellbogen hochgekrempelt, sodass seine muskulösen Unterarme zum Vorschein kamen. Doch das Beste an ihm waren die freundlichsten, blauesten Augen, die sie je gesehen hatte, umrahmt vom aschblonden, zotteligen Haar, das ihm ins Gesicht fiel und an seinem Kinn sah sie den Schatten eines Ziegenbartes. Lachfältchen lagen um seine Augen und er war braun gebrannt. Sie schätzte ihn auf Ende zwanzig. Der Job als Auszubildende zum Jockey in Tom Lewis‘ Stall war schon für sich allein genommen toll, doch dieser perfekte Mann, der in der Tür stand und immer noch ihre Hand hielt, würde die Arbeit noch besser machen.
„Äh, ja“, stammelte sie und unterdrückte einen Tic. „Ich bin Bianca.“ Nervosität machte ihre Tics schlimmer und der Druck, der sich in ihrem Gesicht, hinter ihren Augen und in ihrem Kiefer ausbreitete, wollte unbedingt raus. Sie konzentrierte sich darauf, sich zu beherrschen. Sie war noch nicht bereit dafür, dass dieser gut aussehende Fremde jetzt schon diese besondere Seite von ihr zu sehen bekam. Dafür war später noch genug Zeit.
„Also, komm mit. Dad hat mich gebeten, dir zu zeigen, wie hier alles abläuft. Er kommt später dazu.“
Sobald sich Clay von ihr abgewandt hatte, ließ Bianca ihrem Tic, den sie so lange zurückgehalten hatte, freien Lauf: Sie knackte mit ihrem Nacken und Kiefer und hielt die Hände vors Gesicht, als sie die Augen weit aufriss und sie wild in den Höhlen rotierten. Dann rollte sie mit den Schultern im Versuch, die Muskeln wieder zu entspannen, denn sie wusste, dass Ruhe der Schlüssel dazu war, die Tics zu minimieren.
Bianca ließ ihre Tics weiterhin nur zu, solange Clay nicht zu ihr sah, während er ihr die Boxen zeigte, sie den Pferden und dem Personal vorstellte, ihr die morgendliche Routine erklärte und ihr das Schwarze Brett mit den Informationen für die Ritte des Tages zeigte, das vor der Sattelkammer hing.
„Du wirst morgen auf der Reiterliste stehen“, versicherte er ihr. „Wir werden dich heute langsam anfangen lassen. Du kannst die Pferde striegeln und füttern und sie so erst mal kennenlernen.“
„Aha“, murmelte Bianca geistesabwesend. Er hatte einen weit ausgreifenden Schritt und wenn sie so leicht hinter ihm stand, stellte sie fest, wie gut sein fester Hintern seine Jeans ausfüllte. Sogar von hinten sah er gut aus. Sein zotteliges Haar fiel ihm bis in den Nacken und sie wollte ihre Hände ausstrecken und mit den Fingern hindurchfahren.
„Und hier“, er blieb stehen und öffnete eine Tür am Ende des Gebäudes hinter den Boxen. „Das hier ist der Lagerraum für das Futter.“ Mit einem Arm zeigte er auf die Futtersäcke, die in einer Ecke aufgestapelt lagen, die Fässer mit vorgemischtem Getreidefutter und die Vitaminergänzungspulver, die an der hinteren Wand aufgereiht standen. Heunetze hingen über den Fässern und ein halbes Dutzend Heuballen war entlang der Seitenwand unordentlich aufeinandergestapelt.
Jemand hatte achtlos ein Heunetz auf den Boden geworfen. Wie es so dalag, wirkte es vollkommen fehl am Platz im sonst so akribisch organisierten Raum und Clay beugte sich hinunter, um es aufzuheben. Er war ihr so nah, dass sie sein Deo riechen konnte und ein Schauer der Erregung durchfuhr sie, als seine Schulter ihren Brustkorb berührte. Sie hielt den Atem an, als der Blitz durch ihren Körper schoss, ihr Herz schneller schlagen und ihre Nippel hart werden ließ. Hatte er es auch gespürt? Sie konnte den Blick nicht von ihm abwenden, war vollkommen hypnotisiert, als er das Netz auf den Haken hängte, an den es gehörte. Sie war fasziniert davon, wie anmutig er sich bewegte, wie sein Haar seinen Kragen berührte. Als er sich wieder zu ihr umdrehte, schüttelte sie den Kopf, um wieder klar denken zu können, und zwang sich, aufzupassen. Kein Mann hatte je einen solchen Effekt auf sie gehabt. Was hatte Clay nur an sich? Warum hatte eine einfache Berührung eine solche Wirkung?
Die Tour ging weiter und Bianca war beeindruckt von der Art und Weise, wie der Komplex geführt wurde. Während Clay sie herumführte, stellte er sie auch den anderen Stallburschen vor, denen sie begegneten und die Kameraderie zwischen ihnen war offensichtlich. Die Arbeitsatmosphäre war unbeschwert, fröhlich und witzig und Bianca wusste, dass sie hier gut hineinpassen würde.
Sie folgte ihm den Gang entlang und wich den Schubkarren aus, die am Ende vor den Boxen standen. Ein paar junge Leute waren gerade dabei, die Ställe auszumisten, und Bianca konnte nicht anders, als sich auszumalen, wie Clay wohl beim Schaufeln von Sägemehl aussah. Sie sah das Bild vor sich, wie sich seine Muskeln mit jeder Bewegung des Rechens anspannten und er sich anmutig über den Stallboden bewegte.
„Du kannst hier anfangen und dann zur nächsten gehen.“ Clay nahm den Rechen von der Wand und reichte ihn ihr. „Du hast schon mal eine Box ausgemistet, oder?“, fragte er sie.
Könnte sie denn? Sie schüttelte den Kopf und schaffte es, keine Miene zu verziehen, obwohl sich ein Lächeln auf ihre Lippen schleichen wollte. „Nein“, sagte sie. „Du musst mir zeigen, wie das geht.“
Sie behielt ihr Pokerface bei, als er sie einen Moment lang prüfend ansah. Er glaubte ihr doch nicht wirklich? Nur weil sie zuvor woanders gearbeitet hatte ... Sie hatte schon während ihrer Schulzeit im Stall mitgeholfen und konnte ihn blind ausmisten! Sie spürte, wie sich ein Tic vordrängeln wollte, doch sie zwang ihn zurück, wodurch sie, wie sie wusste, nur noch ernster wirkte. Sie konnte Clay noch nichts von ihrem Tourette-Syndrom erzählen; er würde sie sicherlich feuern lassen. Das war schon früher passiert.
Sie konzentrierte sich darauf, ihr Lächeln zu verbergen, als er die Box betrat und ihr zeigte, wie sie das schmutzige, nasse Sägemehl aufnehmen und es in den Schubkarren werfen musste. Sobald er ihr den Rücken zuwandte, ließ sie den Tic zu, den sie zurückgehalten hatte und ihr Gesicht zuckte und verzerrte sich zu einer Grimasse. Ihr Nacken knackte befriedigend und sie zuckte zusammen, als der scharfe Schmerz vom Nacken in die Schultern schoss. Doch der kurze Stich war besser als der Druck der aufgestauten Tics. Sie rollte mit den Schultern und versuchte, die brennenden Muskeln zu entspannen. Es funktionierte.
Sobald sich ihr Gesicht wieder entspannte, beobachtete sie fasziniert, wie sich Clays geschmeidiger, muskulöser Körper in der großen, luftigen Box bewegte und er mit Leichtigkeit das Sägemehl zur Seite schob, um die feuchten Flecken auf dem Betonboden trocknen zu lassen. Er ist schon ein verdammt gut aussehender Mann! Sie lächelte zufrieden. Es war schon eine ganze Weile her, seit sie etwas so schönes wie Clay gesehen hatte.
Sie unterdrückte ein Kichern, als Clay die letzten Reste des feuchten Sägemehls entfernte und sich dann zu ihr umdrehte. „Glaubst du, du schaffst die Nächste?“ Er hielt ihr wieder den Rechen hin.
Sie schüttelte wieder ihren Kopf, konnte aber ihr Lachen nicht verstecken. „Ich kann nicht glauben, dass du darauf reingefallen bist!“, rief sie. „Ich hab schon im Stall geholfen, als ich noch in der Schule war, bevor ich meine Ausbildung zum Jockey angefangen habe. Natürlich kann ich einen Stall ausmisten!“ Sie lächelte ihn frech an. „Ich wollte nur dir dabei zusehen!“
Er sah sie einen Moment sprachlos an und lachte dann ebenfalls ein tiefes, polterndes Lachen, das von tief drinnen zu kommen schien und sie noch stärker kichern ließ. „Dir sollte der Hintern versohlt werden!“, schimpfte er sie immer noch lachend.
Einen Moment lang war sie schockiert und starrte ihn mit offenem Mund an. Hatte sie das richtig verstanden? Erregung durchfuhr sie. Ihr ganzes Leben lang hatte sie darauf gewartet, dass ein Mann das zu ihr sagte.
Sie stand noch immer da, sprachlos, aber aufgeregt, als er sie angrinste, zwinkerte und ihr den Rechen in die Hand drückte.
Während sie ihm nachsah, fragte sie sich, woher die schmerzende Hitze zwischen ihren Schenkeln kam. Klar war er sexy, aber keiner der anderen Männer, denen sie bisher begegnet war, hatte eine derartige Wirkung auf sie gehabt. Es war die Androhung der Schläge auf den Hintern. Ganz klar!
* * *
„Er ist so toll, Annie!“, erzählte Bianca ihrer Schwester. Sie war zum Mittagessen nach Hause gekommen. Wie in jedem Rennstall waren es der frühe Morgen und der späte Nachmittag und Abend, wo am meisten los war, sodass sie mittags ein paar Stunden für sich hatte, was ihr gut passte, da sie sich so um Annie kümmern konnte.
Annie lächelte schwach zu ihr auf. „Das freut mich“, sagte sie leise. „Ich hoffe, er ist auch nett; du verdienst einen guten Mann.“
„Also noch ist er ja nicht mein Mann“, stellte Bianca fest. Dann drückte sie Annies Hand. „Aber er scheint nett zu sein. Und er liebt Pferde, also fängt das schon gut an.“ Dann lächelte sie und beugte sich näher zu ihrer Schwester. „Und ich glaube, er ist ein Spanker.“
Annies Lächeln erhellte ihr ganzes Gesicht. „Oh, Schwesterherz, ich freu mich so für dich!“, rief sie. „Jetzt kann ich glücklich sterben, wo ich weiß, dass du den perfekten Mann gefunden hast.“ Sie drückte sanft die Hand, die sie hielt und auch diese kleine Anstrengung schien ihre ganze Kraft zu kosten.
„Du kannst mich noch nicht alleine lassen“, flehte Bianca und eine einsame Träne rann ihr übers Gesicht. „Ich kann dich noch nicht gehen lassen.“ Sie griff beide Hände und hielt sie fest in ihren Eigenen.
„Noch nicht“, stimmte Annie zu. „Aber bald. Es wird eine Erleichterung sein, Schwesterchen. Ein Ende der Schmerzen.“
Bianca streckte sich neben ihrer Schwester auf dem Bett aus. Mit Annies Gesundheit ging es schnell bergab. Der Krebs zerstörte ihren Körper; es war eine brutale Art zu sterben.
Viel zu früh schon waren die wenigen Stunden ihrer Pause vorbei und sie musste zurück an die Arbeit. Annie schlief schon fast, lächelte jedoch, als sich Bianca hinunterbeugte und sie sanft auf die Wange küsste, ehe sie leise das Zimmer verließ.
* * *
Clay sah ihr seit einer Viertelstunde bei der Arbeit zu. Er hatte ihr geschickt einen Heuballen aus dem Stapel im Futterlager geholt, der größer war als sie und beobachtete jetzt von der Tür seines Büros aus, wie sie durch den Stall ging und die Heunetze auffüllte. Die einfache, mondäne Arbeit konnte ihre Gedanken nicht fesseln, sodass sie wieder an ihre Schwester dachte. Das Leben war so unfair! Annie war die wundervollste Person, die sie kannte – schön von innen und außen – und sie starb. Sie verdiente es nicht zu sterben.
„Was machst du da mit deinem Gesicht?“
Sie zuckte zusammen. Sie hatte seine näherkommenden Schritte nicht gehört. Dann stöhnte sie. Er hatte es früher bemerkt, als sie gehofft hatte. Ihre Tics mussten schlimmer sein, als sie dachte, dass er sie an ihrem ersten Arbeitstag schon bemerkte.
„Und?“, drängte Clay und klang wütend.
Sie seufzte und senkte den Blick. „Warum?“, fragte sie.
Clay sah sie finster an. „Als dein Vorarbeiter hier im Stall habe ich das Recht, Bescheid zu wissen. Nimmst du Drogen?“
„Nein!“, rief sie aus. „Es hat nichts damit zu tun.“ Mit einem Seitenblick auf ihn stellte sie fest, dass er nicht lockerlassen würde. Sie seufzte. Nicht schon wieder. Ihr ganzes Leben lang hatte sie gegen das Klischee gearbeitet, das die Medien über das Tourette-Syndrom verbreiteten. Sie hatte gekämpft, um zu beweisen, dass sie so gut wie alle anderen war, auch wenn ihr Gesicht willkürliche, seltsame Verrenkungen machte.
„Also? Ich warte“, knurrte er.
„Ich habe Tourette.“
„Also hast du gelogen.“
„Nein.“ Sie schüttelte heftig ihren Kopf.
„Auf dem Bewerbungsformular wird gefragt, ob du medizinische Beschwerden hast. Du hast ‚nein‘ angekreuzt – ich habs gelesen.“
„Nein, ich wurde gefragt, ob ich medizinische Beschwerden habe, die mich daran hindern würden, meinen Job zu machen“, korrigierte sie ihn. „Hab ich nicht. Ich kann trotzdem meine Arbeit machen.“ Sie sprach mit fester Stimme, leidenschaftlich und hoffentlich klang sie auch überzeugend.
„Also das ganze Herumpöbeln, die Tics, die den ganzen Körper betreffen und einen quasi außer Gefecht setzen und das Wiederholen von Worten ... Das ist alles falsch?“, fragte er zweifelnd und wusste offensichtlich nicht, ob er ihr glauben sollte oder nicht.
Sie schüttelte ihren Kopf. „Nein, das stimmt schon ... bei manchen Leuten. Die Sache ist die, dass Tourette jeden anders trifft. Die Medien nutzen gerne die extremen Fälle, weil sie sensationsgeil sind, doch die Realität ist, dass nichts davon auf mich zutrifft. Ich habe nur, was du schon gesehen hast: die Gesichtsticks. Ich hatte ein paar vokale Tics als Kind, aber die hatte ich schon seit Jahren nicht mehr. Was du gesehen hast, ist alles.“
„Warum hast du dann nichts zu Paps im Bewerbungsgespräch gesagt?“, fragte er und klang immer noch genervt.
„Weil er mir dann den Job nicht gegeben hätte!“, rief sie. „Schau mal, ich hab das schon erlebt. Die Diskriminierungsgesetze des Landes helfen nicht. Kein Arbeitgeber würde jemanden mit Tourette-Syndrom einstellen, wenn sie noch andere Kandidaten haben. Sie verstehen nicht genug davon, wissen nur das, was sie in den Medien hören und da wird eben nur von den seltenen, extremen Fällen berichtet. Also werde ich nur aufgrund eines Klischees verurteilt.“
Clay kratzte sich am Kinn und schien nachdenklich. „Und was ist, wenn du das machst, während du reitest? Wenn du dein Gesicht so verziehst – das ist eine ganz schön heftige Bewegung. Wenn das passiert, während du gerade über die Bahn galoppierst, könntest du ohne Weiteres das Gleichgewicht verlieren, herunterfallen und dich verletzen – oder sogar sterben. Weißt du, wie viel Papierkram heutzutage bei so einem Arbeitsunfall anfällt?“ Er zwinkerte ihr zu und lächelte leicht über seinen schlechten Witz, doch sie lächelte nicht zurück. Sie konnte nicht – er hatte recht und sie wusste es auch. Einige der Gesichtsticks waren heftige Bewegungen und oft wurden sie von einer Kopfdrehung begleitet, die ihre gesamte Wahrnehmung veränderte und sie aus dem Gleichgewicht brachte.
„Es passiert nicht, wenn ich reite. Oder wenn ich auch nur mit Pferden arbeite. Für mich ist es die beste Therapie. Im Sattel fühle ich mich normal.“
Hinterm Rücken drückte sie fest die Daumen und hoffte, dass er ihr noch eine Chance geben würde. Er wäre nicht der Erste, der sie wegen ihres Tourettes feuerte und ganz sicher wäre er nicht der Letzte. „Wenn du mir eine Chance gibst, verspreche ich, dass du es nicht bereust“, bettelte sie. Sie wollte nicht so verzweifelt klingen, wie sie wirklich war. Kein anderer Stall hatte sie anstellen wollen; die meisten Trainer wollten immer noch männliche Jockeys ausbilden, obwohl heutzutage jeder die gleichen Rechte haben sollte. Und sie brauchte einen Job. Am besten einen mit Arbeitszeiten, die ihr bei Annies Pflege halfen.
Clay sah sie noch einen Moment lang ernst an, bevor sich sein Ausdruck entspannte und sich ein winziges Lächeln auf sein Gesicht stahl. „Du hast Glück – es ist nicht meine Aufgabe, Personal anzustellen oder zu feuern, also bist du erst mal sicher. Ich rede mit Paps und erklärs ihm.“ Dann zwinkerte er ihr zu. „Aber wenn du zu mir gehörtest, würde ich dich übers Knie legen und dir für deine Täuschung den Hintern versohlen!“
„Oh, vielen Dank, Sir!“ Sie war so erleichtert, dass sie sich kaum davon abhalten konnte, vor Freude ihre Arme um ihn zu schlingen.
Erst später, viel später, als sie schon im Bett lag, erinnerte sie sich an den anderen Teil seiner Aussage. Den ‚ich leg dich über mein Knie und versohl dir den Hintern‘-Teil und ein Blitz der Erregung schoss durch sie hindurch, während sie sich erinnerte, wie seine tiefe Stimme diese Worte gesprochen hatte. Davon hatte sie Annie noch nichts erzählt, aber sie wusste, dass Annie es verstehen würde. Sie war einer der wenigen Menschen, die von ihrer Besessenheit mit Spanking wusste. Annie wusste alles über die Webseiten, die sie spät nachts besuchte, um ihre Wünsche zu befriedigen. Und vielleicht würde Annie auch wissen, ob sie zu viel in Clays Worte hinein interpretierte.
Immer noch in Gedanken daran schlief sie ein und fragte sich, wie es sich anfühlen würde, von ihm den Hintern versohlt zu bekommen. Er sah immerhin gut aus und hatte große, starke Hände, die groß genug waren, um ihren Hintern vollkommen abzudecken. Sie stellte sich vor, wie sie auf dem Bauch auf seinem Schoß lag und seine große Handfläche ihren Hintern rot verfärbte, während sie seiner tiefen Stimme zuhörte, die sie wegen irgendeines erfundenen Vergehens schalt. Sie schlief mit einem Lächeln auf dem Gesicht ein und freute sich auf den Morgen, wenn sie den attraktiven Vorarbeiter wieder sehen würde.