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Die Leichtigkeit des Seins
ОглавлениеGroßvater Mao Ling war vor mehr als sechzig Jahren nach Brasilien ausgewandert, hatte wie ein Sklave geschuftet, zuerst um die teure Passage und die illegale Einreise abzustottern, später, um sich den Traum vom eigenen Restaurant zu erfüllen. Sein Lokal lief von Beginn an sehr gut, mit der Zeit immer besser. Er eröffnete zwei weitere, genoss den langsam anwachsenden Wohlstand, war stolz auf sich und sein Lebenswerk.
Sein Sohn Zenweih baute später zusammen mit seiner Frau Sihena die immer noch eher bescheidenen Anfänge zu einer großen Kette von erstklassigen China-Restaurants aus. Die Lings wurden in der Folge richtiggehend reich, zumindest für brasilianische Verhältnisse. Ihre Kinder wuchsen im Luxus auf, mit Koch, Zimmermädchen, Gärtner und Chauffeur. Die Söhne und Töchter der Lings gehörten von Beginn weg zur lokalen Highsociety von Rio de Janeiro, kannten nur andere, wohlhabende Jugendliche, wuchsen abseits all des Drecks und der Gewalt der Millionenmetropole auf, hinter hohen Mauern und auf Privatschulen.
Die jüngste Tochter der Lings hieß Shamee und war gerade neunzehn geworden. Doch schon mit sechzehn Jahren hatte sie nicht mehr allzu viele Freundinnen gekannt. Denn Shamee war immer schon ziemlich eingebildet gewesen, fühlte sich als etwas ganz Besonderes. Sie machte es anderen Menschen nicht einfach, sie zu mögen.
Ohne Frage war sie hübsch, zumindest niedlich, selbst wenn sie als chinesisch-stämmige Brasilianerin doch eher klein geraten war, im Vergleich zu ihren Altersgenossinnen mit europäischer Abstammung. Auch ihr Gesicht konnte man als recht hübsch bezeichnen, war aber weit entfernt von schön oder gar edel. Sie war zwar schlank und auch recht sportlich, doch ihre Unterschenkelknochen wiesen eine etwas starke Biegung auf und verliehen ihr so die typischen leichten X-Beine einer Asiatin, entsprachen damit keineswegs dem Idealbild im Land. Doch mit einer entsprechenden Körperpflege, teuren Kleidern und Schuhen, etwas Schmuck und möglichst arrogantem Auftreten ließen sich solche geringen körperlichen Mängel problemlos überspielen. Ganz anders ihr arrogantes Wesen. Da half auch kein noch so teures oder dickes Make-Up.
Shamee war gerade sechzehn geworden, als sie einen ersten, großen Knacks in ihrem bis dahin so komfortablen Leben erfahren musste und einen richtigen Schock erlitt. Sie war allein in der Stadt unterwegs gewesen und probierte in einer Mode-Boutique gerade ein paar Kleider an, als sie von drei jungen Männern angegriffen wurde. Mit großer Wahrscheinlichkeit wollte man sie vergewaltigen, vielleicht auch entführen oder sogar ermorden. Nur knapp entkam Shamee damals ihren Verfolgern, rannte voller Panik den ganzen langen Weg zu Fuß zurück nach Hause, kam dort aufgelöst und tränenüberströmt an, wurde jedoch von ihrer Mutter derart kühl und lieblos empfangen, dass sich Shamee seither fragte, ob nicht Sihena hinter dem bösartigen Anschlag in der Boutique steckte. Denn an einen Zufall mochte die Sechzehnjährige nicht glauben. Zu zielstrebig waren die drei Männer vorgegangen, hatten auch nur sie als Opfer ausgesucht und ohne zu zögern angegangen. Das konnte kein böser Zufall gewesen sein. Das war ein klarer Auftrag. Die Frage für sie lautete nur, ob eine neidische Konkurrentin oder aber ihre eigene Mutter dahintersteckte.
Shamee fühlte sich nach diesem Erlebnis von allen im Stich gelassen, verfolgt, verraten und durch die eigene Familie bedroht. So riss sie von zu Hause aus, floh zu einem wohlhabenden Bekannten, den sie ein paar Wochen zuvor auf einer Party kennengelernt hatte. Doch der Mann war Porno-Produzent aus Florida. Das erfuhr Shamee in dessen Villa in Miami, verbrachte dort trotzdem mehrere Wochen, zusammen mit einem ganzen Stall voller ähnlich leichtlebiger Mädchen, die den Luxus liebten und nach irgendeiner Karriere gierten. Die chinesisch-stämmige Brasilianerin genoss das freie Leben unter Gleichgesinnten, freundete sich auch rasch mit den meisten Mädchen an, kehrte erst nach mehreren Monaten in die alte Heimat und in den Schoss ihrer Familie zurück.
Ihre Eltern machte ihr damals kaum Vorwürfe, zumindest keine direkten, waren froh, ihre Jüngste wieder zu haben. Doch Shamee Ling war nicht mehr das Nesthäkchen von einst, hatte ihre Unschuld endgültig verloren, fühlte sich deshalb auch von allen beobachtet und sogar kontrolliert. Denn die Sechzehnjährige erzählte nichts über ihre Zeit in Florida oder was sie wochenlang getrieben hatte. Ihre Geschwister und auch die Eltern vermuteten zuerst eine Drogensucht, beobachteten Shamee deshalb auf Schritt und Tritt, engten sie mit ihrem Misstrauen immer mehr ein. So jedenfalls empfand die Rückkehrerin zunehmend. Deshalb floh sie wenig später erneut aus Rio de Janeiro, kehrte zurück nach Florida und in die Villa des Porno-Produzenten, verdingte sich dort zuerst als Party-Girl und Edelhure, landete nach einigen Monaten in einem der schlimmsten Bordelle in Mexico City, war dorthin wie eine Stück Fleisch verkauft worden. Man hielt sie als Sex-Sklavin gefangen, fern der Heimat und über viele Monate hinweg ohne jede Kontaktmöglichkeit zu ihren Eltern. Doch irgendwann erfuhr die Familie vom Schicksal der jüngsten Tochter und man befreite sie aus den Fängen der Bordellbetreiber.
Geschändet und bar aller Illusionen kehrte Shamee nach Rio de Janeiro zurück. Sie wohnte wieder in ihrem alten Kinderzimmer, umgeben von Familie, wenigen Bekannten, einigen Dienstboten und sehr vielen Schuldgefühlen. Nicht so sehr gegenüber ihren Eltern oder Geschwistern, sondern nur gegenüber sich selbst.
Nein, sie wollte sich auch nach den schlimmen Erfahrungen in Mexiko nicht den elterlichen Zwängen fügen, traute zudem weiterhin ihrer Mutter Sihena das Allerschlimmste zu, spürte auch das ständige Misstrauen ihres Vaters Zenweih und ihrer Brüder und Schwestern.
Im Bordell in Mexico City hatte sie oft Selbstmordgedanken gehegt, machte gar den einen Versuch sich umzubringen. Doch nun, zurück in Brasilien, da spürte sie diese persönliche Niederlage immer seltener. Denn auch miese Erinnerungen verblassten, wenn auch oft nur langsam. Nein, sie würde nicht vor all den Schrecken dieser Welt kapitulieren. Denn sie war immer noch Shamee Ling, eine ziemlich hübsche, chinesisch-stämmige Brasilianerin, mit dem Feuer einer jungen Draufgängerin und den dreckigen Erfahrungen einer verdammten Hure, stark genug, um selbst dem Teufel ins Auge zu spucken.
Aber was sollte sie mit ihrem noch so jungen Leben anfangen?
Sie hatte bislang keine Ausbildung und kein Studium begonnen, ja noch nicht einmal die Schule auf höchstem Niveau abgeschlossen. Niemand brauchte sie. Niemand wollte sie.
Ihre Eltern, Zenweih und Sihena, schlugen ihrer jüngsten Tochter vor, doch ins Restaurant-Business einzusteigen. Shamee hatte es daraufhin auch wirklich versucht, war ein paar Tage lang mit ins Büro gefahren, hatte sich alles erklären lassen, tippte brav Bestellungen ein und hakte Lieferscheine ab. Die ganze Zeit über fühlte sie sich jedoch wie eingesperrt, nein, eher wie weggesperrt, so als hätte man sie bei lebendigem Leib begraben.
Sollte das tatsächlich alles sein? Dieser jämmerliche Bürokram? Lesen, Schreiben, Rechnen? Wie in der Schule? Das war doch kein Leben?
Wo blieben die Herausforderungen? Die Abenteuer? Wo zum Teufel lagen in diesem Alltagstrott die Bewährungsproben, die doch erst echte Würze in jedes Leben brachten?
Shamee hielt es keine zwei Wochen aus, setzte sich dann mit ihrem Vater Zenweih zusammen, schilderte ihm ihre negativen Gefühle, die er weder verstand noch akzeptieren wollte. Stattdessen sprach er von Durchsetzungsvermögen, vom Ausharren, vom inneren Schweinehund, den es zu überwinden galt.
Doch wozu?
Um einen noch günstigeren Lieferanten für Sojasprossen ausfindig zu machen? Sich eine neue Sorte Nudeln für die Suppen auszusuchen? Oder den Preis von einem Kilogramm Schweinefleisch, um einen weiteren Real zu drücken?
Ihr Vater freute sich tatsächlich über solch banale Dinge. Für Shamee waren sie hingegen nur Graus und Pein, eine Demütigung ihres Intellekts und Folter für ihre großen Ambitionen.
Denn sie wollte frei sein.
Endlich wieder frei sein.
Fast bedauerte sie, aus der Zwangsprostitution geholt worden zu sein, nur um in die Enge ihrer Familie zurückzukehren und in ein ödes Leben ohne Illusionen gestoßen zu sein. Gab es denn keinen anderen Weg für sie? Nur diese fortwährenden Zwänge?
Ihre Mutter Sihena wollte ebenfalls nichts von ihrer Abscheu für die Büroarbeit wissen, schrie sie stattdessen an, bezeichnete sie als ein unflätiges und unnützes und undankbares Ding, verabreichte ihr sogar im Zorn eine schallende Ohrfeige, diese dämliche, verrückte Ziege.
Wenn es nach Sihena gegangen wäre, Shamee hätte sich möglichst bald irgendeinen reichen Schnösel als Ehemann angeln müssen, ihn bezirzen und rasch heiraten sollen.
War das etwa ihr Lebenszweck?
Den Eltern nicht mehr auf der Tasche liegen?
Nein, sie würde sich unter keinen Umständen an irgendeinen blasierten Erben hängen, sich ihm unterordnen, nur um im Gegenzug ein bequemes Leben zu erhalten und finanziell versorgt zu sein. Sie mochte aber genauso wenig weiterhin unter der Fuchtel ihres Vaters stehen, für das bisschen Taschengeld, das der ihr im Austausch zu ihrem öden Job bezahlte. Oder erneut die Schulbank drücken? Danach studieren, so wie alle ihre älteren Geschwister? Nein. Unmöglich. Geradezu absurd, nach all den gesammelten Lebenserfahrungen in Miami und Mexico City.
Und anderswo arbeiten? Irgendwo in Rio de Janeiro? In einer Boutique oder einem Kosmetik-Institut? Wo sie im Job jederzeit mit früheren Freundinnen oder auch nur guten Bekannten zusammentreffen konnte? Nein danke. Nie im Leben. Sie hätte unweigerlich ihr Gesicht verloren, hätte vor Scham im Boden versinken müssen.
So formte sich der Plan in ihrem Kopf, ihre Heimat erneut zu verlassen, wiederum in Richtung USA. Denn nur dort glaubte sie, Freiheit und unbegrenzte Möglichkeiten für sich zu finden. Aber diesmal wollte Shamee nicht einfach der Familie entfliehen, sondern offen ihren Wunsch vortragen und mit dem Segen der Eltern abreisen, um so wenigstens etwas Geld mit auf den Weg zu bekommen. Denn ohne alle Mittel für einen Neustart musste man in jedem Land ganz unten beginnen, konnte sich auch nur sehr mühsam auf eigene Beine stellen. Und das wollte sich Shamee auf keinen Fall antun. Dafür war sie sich dann doch zu schade.
Ihr Vater Zenweih hörte ihr diesmal geduldiger zu, versuchte sie zwar erneut umzustimmen, lenkte dann aber überraschend schnell ein und gab ihren Plänen seinen Segen. Er hatte eingesehen, dass seine Jüngste hier in Brasilien, zumindest im Moment, nicht mehr glücklich werde konnte. Und so floh Shamee tatsächlich erneut und zum dritten Mal aus Rio de Janeiro, doch diesmal mit ein paar Tausend Dollar vom Vater in der Tasche und dem Segen zumindest der Hälfte ihrer Familie.
San Francisco war diesmal ihr Ziel. Sie kannte die Stadt am Pazifik zwar noch nicht, hatte aber von ihr gehört, über sie gelesen und in Fernsehberichten und im Internet viele Dinge erfahren. San Francisco war das Tor zum Silicon Valley und deshalb hip und modern, aufgeschlossen allem Fremden und Exotischen gegenüber, eine internationale Metropole, vielschichtig und multi-kulti, wie man sie in ganz Südamerika nirgendwo vergleichbar fand.
So dachte Shamee zumindest oder stellte sich die Stadt des Heiligen Franz von Assisi vor.
Als sie das Flugzeug auf dem Internationale Airport Galeão bestiegen hatte, als die Boeing wenig später die Andockstation verließ und in Richtung Startfeld rollte, da war es Shamee Ling dann doch ein klein wenig Bang im Herzen. Nicht wegen der Fremde, in die sie eintauchen sollte. Auch nicht wegen ihren Verwandten und den wenigen Freunden, die sie in Brasilien zurückließ. Doch die junge Frau spürte, dass diesmal die Trennung endgültig war. Sie würde nicht mehr nach Rio de Janeiro und in den Schoss ihrer Familie zurückkehren können und alle bisherigen Kapitel ihres noch jungen Lebens schlossen sich mit dem Abheben des Flugzeugs für immer. Ihre alte Heimat hörte auf für sie zu existieren. Sie musste sich eine neue erobern.
So entfloh Shamee nicht nur ihrer Kindheit und ihrer Rolle als Tochter einer wohlhabenden Familie, sondern ebenso aus ihren bisherigen Ansprüchen als Glamour-Girl der lokalen Highsociety. Sie wollte sich ehrlich beweisen, als Mensch, als Frau, als Persönlichkeit. Selbst wenn sie fast bei null beginnen musste, so fühlte sie sich in diesem Moment bereit dazu.
Doch was wollte sie in San Francisco überhaupt anstoßen und unternehmen?
Ihrem Vater hatte sie von einem bescheidenen Leben in der Fremde vorgeschwärmt. Nur so könnte sie zur Ruhe kommen und sich selbst finden. Irgendeine Chance würde sich bestimmt irgendwo für sie auftun, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten.
Die große Skepsis des Vaters blieb selbstverständlich bestehen. Doch Zenweih tröstete sich mit dem Gedanken, seine Tochter würde schon nach wenigen Monaten in die alte Heimat zurückkehren, spätestens wenn ihr Reisegeld restlos aufgebraucht war. Denn dass seine Jüngste für ihren Lebensunterhalt arbeiten wollte, das traute er ihr weiterhin nicht zu.
Für Shamee war die Trennung vom Elternhaus aber endgültig. Das spürte sie nicht nur. Das verlangte sie auch von sich selbst. Doch nun, so ganz allein im Flugzeug sitzend, fragte sie sich das erste Mal ganz ehrlich, was sie denn in dieser ihr noch wenig bekannten Stadt mit sich anfangen sollte? Auf welche Weise ihren Unterhalt bestreiten? Erfolgreich werden?
Bislang war ihr noch nichts Konkretes in den Sinn gekommen, hatte sie noch keine Pläne zur Hand, was sie freimütig vor sich selbst zugab. Doch war sie nicht jung, hübsch und sprach neben Portugiesisch auch Spanisch und Englisch fließend? Konnte sich in einer entsprechenden Gesellschaft gewählt ausdrücken und sich vornehm geben? Und hatte sie nicht tausende von Einfällen, mit denen sie bestimmt irgendwie punkten konnte?
»Es wird schon«, sprach sie sich leise und auf Englisch guten Mut zu, räkelte sich im Sessel der Business Class zurecht und bestellte sich bei der Flugbegleiterin ein Glas Champagner.
»Das Leben ist schön«, sagte Shamee Ling wenig später als Trinkspruch zu sich selbst, in Anlehnung an einen italienischen Kinofilm, den sie vor Jahren gesehen hatte. Der hatte zwar kein gutes Ende gefunden, zumindest nicht für die Hauptfigur. Doch diesen Umstand verdrängte sie einfach, stellte sich ihre Zukunft stattdessen blendend vor, gab sich ganz diesem warmen, wohligen Gefühl hin.
Shamee nahm einen langen Schluck aus dem Glas, spürte das Prickeln in Mund und Rachen, fühlte, dass ihr Leben von nun an immer so sein würde. Prickelnd und aufregend, lustvoll und wunderbar.
»The Taste of Live«, sagte sie leise zu sich selbst und lächelte verträumt, ohne aber bestimmte Bilder vor ihrem geistigen Auge zu sehen, nur in unbestimmten Gedanken und warmen Gefühlen schwelgend, »The Taste of Live.«
Sie musste eingenickt sein, irgendwann während des langen Fluges, wurde erst von der Ansage aus dem Cockpit kurz vor der Landung geweckt, blickte sich verwirrt um, setzte sich dann zurecht, fuhr mit den Handflächen kurz durch ihr hübsches Gesicht, zog wenig damenhaft die Nase hoch. Niemand nahm von ihr Notiz.
Sie reiste als Touristin in die USA ein, so als hätte sie vor, schon in wenigen Wochen das Land wieder zu verlassen. Sie hatte nur genug Geld für zwei oder drei Monate dabei, führte auch nicht allzu viel Gepäck mit sich, um ja nicht aufzufallen und bei den Einwanderungsbeamten Misstrauen zu wecken. Grenzkontrolle und Zoll waren so rasch überwunden. Gutgelaunt zog sie den Rollkoffer hinter sich her, quer durch die Ankunftshalle und durch eine der automatischen Türen hinaus auf den Bordsteig. Warme, schwüle Luft schlug ihr entgegen. Shamee roch Benzin, Teer und fettiges Fast-Food.
Es schmeckte einfach köstlich aufregend.
Als sie sich vor dem Airport-Terminal in die Schlange vor dem Taxistand eingereiht hatte, da spürte sie das erste Mal eine innere, starke Regung, ein ausgesprochenes Glücksgefühl, so als wäre sie in diesem Moment bereits in ihrer neuen Heimat angekommen. Denn all die Leute rings um sie herum waren so ganz anders geartet als die Menschen in Brasilien, wie ihr nun schien, wirkten viel geschäftiger, gleichzeitig weitaus cooler und wesentlich zielorientierter und bestimmter.
»If I am making there, I make it everywhere«, sang sie sich unhörbar für andere vor und verspürte dabei ein unglaublich warmes Gefühl im Herzen und einen echten Adrenalinschub voller Glück im Gehirn.
Sie ließ sich zu einem günstigen Motel in Oakland fahren, in dem sie sich schon von zu Hause aus übers Internet ein Zimmer gebucht hatte, vor allem auch wegen der Migrationsbehörde, die bei der Grenzkontrolle nach der Wohnadresse in den USA fragte. Dort stieg die junge Brasilianerin chinesischer Herkunft tatsächlich für die ersten zwei Wochen auch ab. Danach wechselte sie in die Innenstadt, zu einem weitaus teureren Bed & Breakfast, wohnte dort fast wie eine weitere Tochter der taiwanesischen Vermieterin.
Shamee erkundete in dieser ersten Zeit ausführlich die Stadt, sprach mit hunderten von Leuten, forschte nach Chancen für sich selbst, nach interessanten Jobs, vielleicht sogar im aufregenden Silicon Valley? Doch was sollte sie dort überhaupt tun? Inmitten all der Computer-Nerds? Die meisten von ihnen waren doch zum Gähnen langweilig, hatten nur ihre kleinen Programme im Kopf. Nein, das war nichts für sie. Weder menschlich noch finanziell. Denn was hätte sie dort auch arbeiten und leisten können? Keine ihrer tausend Ideen passte dorthin. Aber auch sonst schien eigentlich keiner der Einfälle Hand und Fuß zu besitzen. So kam es ihr zumindest vor, nun, da sie ihre Einfälle mit der Wirklichkeit einer Großstadt in den USA abglich, wo bereits zehntausende junger Menschen nach ihren ganz persönlichen Chancen im Leben suchten.
Ihr Geld ging auch weitaus rascher zu Ende, als sie es sich vorgestellt hatte. Die Kleider-Boutiquen und Schuhgeschäfte hatten es ihr am Anfang zu sehr angetan. Und so landete sie bereits in der sechsten Woche nach ihrer Ankunft in einem billigen, winzigen Apartment in einem Industrie- und Gewerbegebiet und arbeitete in einer der zahllosen Sandwich-Buden, die nach den individuellen Wünschen ihrer Kundschaft Brote schmierten und XXL-Becher mit Softdrinks füllten. Doch ihre Arbeit am Tresen gefiel Shamee ganz gut. Man traf jeden Tag neue Leute. Manche von ihnen waren nett oder hübsch, andere sogar interessant, die meisten allerdings eher zum Würgen und Kotzen. Und doch war da ständig ein gewisser, wenn auch unbestimmter Drive zu spüren, eine Good Vibration, die von dieser Stadt und all ihren Bewohnern ausging.
Hing dieses Gefühl vielleicht mit dem Wetter zusammen, das hier an der Pazifikküste abwechslungsreicher als anderswo in den Staaten ausfiel? Oder an der ständig frischen Brise, die vom Ozean heran wehte? Auch die Millionen von Touristen mochten ihren Teil dazu beitragen, genauso wie die Internet-Milliardäre und Garagen-Millionäre aus dem Silicon Valley. Es war wohl die Mischung von all dem, die dafür sorgte, dass sich selbst eine kleine Sandwich-Schmiererin hinter der Theke eines Schnellimbiss-Restaurants in diesen Strudel hineingezogen fühlte und sich als Teil des Ganzen empfand und darum die Good Vibration in ihrem Innersten stark spürte.
Nur Mike war eine echte Plage, der Betreiber der Sandwich-Bude. Nicht, dass er sie direkt bedrängt hätte. Doch seine ständigen Anspielungen und Zoten konnten einem ziemlich auf den Geist gehen, all seine dümmlichen, meist sexistischen Sprüche und Witze sowieso.
»Na, letzte Nacht wieder feucht geträumt?«, war nur eine seiner unverschämten Begrüßungsformeln morgens um zehn Uhr, wenn ihre erste Halb-Schicht begann. Sie arbeitete bis zwei Uhr nachmittags durch, hatte danach vier Stunden Pause, begann wieder um sechs für weitere fünf. Um elf Uhr nachts, normalerweise eher gegen halb zwölf, konnte sie endlich aufräumen und gehen, hatte es von dort aus nicht allzu weit zu ihrer Ein-Zimmer-Behausung, konnte darum zu Fuß gehen und so Geld sparen. Zurück in ihren vier Wänden warf sie sich meistens todmüde auf die Matratze, fühlte sich ausgebrannt und abgegriffen, von den Blicken unangenehmer Gäste und den öden Sprüchen von Mike.
»Noch zwei, höchstens drei Monate«, sagte sie sich immer wieder, bevor sie einnickte, »dann finde ich bestimmt was Besseres«, murmelte sie bereits im Halbschlaf.
Doch so weit kam sie gar nicht. Das Schicksal hatte anderes mit ihr vor.
Es war an einem regnerischen, sehr kühlen Abend. Draußen auf dem Meer wütete ein Orkan, schickte immer wieder starke Böen mit heftigem Niederschlag hinüber zur Stadt, schüttelte und beutelte, was nicht festgebunden war, trieb die Menschen aus den Straßen und in ihre Häuser und Wohnungen. Das Leben erstarb regelrecht nach zwanzig Uhr. Die letzten Gäste waren vor einer Viertelstunde gegangen, neue konnten sie in dieser Nacht kaum mehr erwarten. Shamee war allein mit ihrem Boss Mike. Der schickte sie nach einer Weile in die Küche zum Aufräumen.
»Pack schon mal das Geschirr in die Maschine«, hatte er ihr befohlen. Normalerweise tat er das selbst, hielt so seiner Angestellten den Rücken an der Theke frei. Doch wenn vorne kaum was los war, hing Mike nur zu gerne den Boss raus.
Shamee ging gehorsam nach hinten, durch die Pendeltür, öffnete die Klappe des Geschirrspülers, zog das untere Rollgitter heraus, begann Teller und Platten einzuräumen, stieß es zurück in den Kasten, holte das obere hervor, stellte Tassen, Gläser und Besteck hinein, schob es ebenso in die Maschine zurück. Sie nahm zwei Tabletten aus dem Waschmittelpack und warf sie direkt zum dreckigen Geschirr, drückte die Tür zu und setzte die Maschine in Gang.
Als sie sich umdrehte, schrak sie heftig zusammen. Denn Mike stand unvermittelt hinter ihr, so dicht, dass sie seinen nun schnaufenden Atem im Gesicht spürte. Instinktiv wollte sie ihren Arbeitgeber von sich wegdrücken, mit den Handflächen vor dessen Brust. Doch der Hüne trat stattdessen noch dichter an sie heran, presste sie mit seiner Körpermaße an die Maschine, umfasste gleichzeitig mit seinen Pranken ihre Schultern und bog ihren Oberkörper weit zurück.
»Nun bist du endlich fällig, Kleine«, sagte er unnatürlich ruhig zu ihr und sie las in seinen Augen die Entschlossenheit, die sich wohl in den vergangenen Wochen immer weiter in ihm angestaut hatte.
»Nicht«, stieß sie keuchend hervor, »hör auf, Mike. Ich will nicht.«
Sie spürte seine tastenden Finger zwischen ihren Oberschenkeln und schrie erschrocken auf, wand sich unter ihm und stieß ihm ihre Fäuste vor die Brust. Doch genauso gut hätte sie versuchen können, einen Elefantenbullen mit bloßen Händen wegzudrücken. Mike grinste sie erregt-schnaufend an, presste ihr plötzlich seine wulstigen Lippen auf den Mund. Shamee geriet in Panik, öffnete ihren Kiefer wie zum Schrei, spürte auch schon die Zunge des Hünen eindringen und biss mit aller Kraft zu.
Mike schrie brüllend auf, trat einen Schritt zurück und versetzte ihr einen Faustschlag auf das Brustbein. Der Stoß warf die junge Frau zurück und über die Geschirrspülmaschine. Ihr Boss spuckte derweil Blut, drehte sich von ihr weg und verließ, undeutliche Flüche ausstoßend, die Küche. Shamee rappelte sich auf, massierte sich das schmerzende Brustbein, fluchte ihrerseits unterdrückt, soweit sie überhaupt Luft bekam.
Ihr Boss war wohl hinüber zu den Toilettenräumen gegangen, wollte sich dort am Waschbecken um die Bisswunde in seiner Zunge kümmern, sie im Spiegel begutachten. Shamee erhielt so die notwendige Zeit, um sich zu fassen.
Immer noch tobte wilde Panik in ihr. Doch ohne jeden Übergang konnte sie plötzliche wieder klare Gedanken fassen. Denn sie musste weg. So rasch als möglich.
Endlich stieß sie sich von der Maschine ab und ging mit langen Schritten hinüber in den Gastraum, zog dort die Schürze aus und warf sie auf die Theke, rannte zur Eingangstür, die Mike abgeschlossen hatte. Doch zum Glück steckte noch der Schlüssel. So trat Shamee drei Sekunden später aus der Sandwich-Bude, wurde von Sturmböen und heftigem Regen erwartet und innerhalb von Sekunden völlig durchweicht.
Sie rannte den Bordsteig entlang bis zu ihrem Apartment, kam dort heftig schnaufend und tropfnass an. Mike wusste, wo sie wohnte. Deshalb packte sie nur das Notwendigste zusammen, warf alles ungeordnet in ihren Rollkoffer, stürzte wenig später zurück auf die Straße.
Auf ein Taxi konnte sie nicht hoffen. Diese Gegend gehörte eh nicht zu den besten und in der nass-kalten Nacht waren mögliche Kunden reinste Mangelware. Niemand fuhr seinen Wagen hier spazieren, in der seltsamen Hoffnung auf einen Zufallstreffer. Und auf Uber warten, das konnte sie nicht. Denn sie dachte mit Grauen daran, wie ihr Boss sie hier suchen und aufspüren konnte. So lief Shamee immer weiter der Straße entlang, hatte die Richtung zum Busbahnhof eingeschlagen. Zwei Meilen waren es bestimmt bis dorthin, vielleicht sogar drei. Egal. Nur weg von Mike und in Sicherheit.
*
Jules Lederer war schweizerisch-amerikanischer Doppelbürger. Aufgewachsen in einem sehr wohlhabenden Elternhaus an der Zürcher Goldküste, mit einem kaum anwesenden Vater, der sich als Diplomat für die Schweiz verdingte, und einer wenig interessierten Mutter, die ihre Zeit lieber mit ihren Tennislehrern verbrachte, als sich ums eigene Kind zu kümmern. Das Knabeninternat wurde so für Jules zu einer eigentlichen Erlösung von der elterlichen Kaum-Anwesenheit. Und sein anschließendes Wirtschaftsstudium in St. Gallen machte ihn in Verbindung mit einem über viele Jahre sehr intensiven Training fernöstlicher Kampfsportarten zu einem bemerkenswerten Mann.
Nach seinem erfolgreichen Abschluss arbeitete Jules Lederer einige Jahre lang für eine angesehene, weltweit tätige Anwaltskanzlei in Zürich. Sie vertrat reiche Menschen und große Konzerne weltweit, fand für sie Steuerschlupflöcher, fädelte Fusionen und Übernahmen ein, kümmerte sich um alle rechtlichen, aber auch um viele andere Schwierigkeiten.
Jules Lederer begann schon bald, sich auf die wirklich heiklen Fälle zu konzentrieren. Oft befanden sich darunter richtig gefährliche Aufgaben. So wurde er mehr und mehr zu einem Abenteurer, der die Welt als das betrachtete, was sie tatsächlich war, nämlich ein Tummelfeld von einigen echten Kriminellen und einem riesigen Heer von Möchtegern-Gangstern. Er lernte sich darin zu behaupten. Und zu gewinnen.
Irgendwann machte sich Jules Lederer selbstständig. Denn der allmonatliche Aufwand für seine oft kaum durchschaubaren Spesenaufwendungen wurde ihm einfach zu lästig. So begann er als One-Man-Show für Weltkonzerne, Politiker und Wirtschaftsführer zu arbeiten, beseitigte für sie jene Schwierigkeiten, gegen die man nicht mit Verhandlungen, Anwälten oder Gerichten vorgehen konnte. Er wurde zu einem richtigen Problemlöser und verdiente sich dabei eine goldene Nase.
Seine Ehefrau Alabima lernte Jules Lederer vor fast zehn Jahren in Äthiopien kennen. Die wunderschöne Frau vom Stamme der Oromo schenkte ihm ein Jahr später eine Tochter, die sie auf den Namen Alina taufen ließen. Zudem adoptierten die beiden den philippinischen Waisenjungen Chufu. Der damals Fünfzehnjährige studierte später in Brasilien Psychologie, lebte nun schon seit einigen Jahren mit seiner Freundin Mei Ling in Rio de Janeiro. Auch die chinesisch-stämmige Brasilianerin hatte Psychologie studiert und beide arbeiteten seit ihrem Abschluss in der Kinder-Psychiatrie-Abteilung eines großen Krankenhauses. Und ja, Mei Ling war die ältere Schwester von Shamee Ling, die erst vor kurzem nach Kalifornien ausgewandert war.
Das Leben mit Jules fiel der gläubigen Alabima nicht gerade leicht. Denn der Selfmade-Millionär hatte seine noch junge Familie schon mehrere Male in höchste Lebensgefahr gebracht. Das lag an seinen übernommenen Aufträgen, aber vor allem auch daran, dass Jules weiterhin mit viel Hingabe irgendwelchen Geheimnissen nachjagte, für die er sich privat interessierte. Irgendwann bestand die Äthiopierin darauf, dass ihr Ehemann endlich kürzertrat und keine riskanten Aufträge mehr für Klienten übernahm. Das versprach ihr Jules damals aufrichtig und er hielt sich auch daran. Doch zu welchem Preis?
Jules veränderte sich. Erst schleichend, dann immer rascher. Zuerst wurde er griesgrämig, suchte anderweitige Zerstreuung, schien sogar auf dem besten Weg, schizophren zu werden, sah überall nur noch mögliche Feinde oder gefährliche Gegner, die sich an ihm und seiner Familie rächen wollten. Allerdings schoben Alabima und auch Jules diese böse Entwicklung später auf einen Gehirntumor, der beim Schweizer festgestellt wurde. Die Ärzte hatten damals alle Hoffnungen aufgegeben, rechneten mit dem Tod des Schweizers innerhalb von Wochen oder wenigen Monaten. Zu aggressiv und zu weit fortgeschritten schien der Krebs bereits, eine Operation unmöglich, die Chemotherapie mit Bestrahlungen nutzlos.
Jules schloss in diesen Wochen des Bangens und der Furcht mit seinem Leben ab. Er trennte sich bewusst von Ehefrau und Kindern, wollte ihre Besuche nicht mehr an seinem Krankenlager dulden, auch nicht ihr Mitleid spüren müssen oder ihre Tränen sehen. Doch dann gelang seine wunderbare Heilung, mit Hilfe eines experimentellen Medikaments, das Alabima für ihren Ehemann aufgespürt und illegal in den USA beschafft hatte. Die Äthiopierin machte sich dadurch zwar strafbar und wurde seitdem von den Behörden beobachtet und sogar verfolgt. Doch für die Rettung ihres Gatten schien ihr dieser Preis gering.
Für Jules Lederer war die so unerwartete Rückkehr aus dem Totenreich allerdings keine Erlösung. Im Gegenteil. Denn für welches Leben und für welchen Zweck sollte er weiterhin existieren, nachdem er sich doch längst mit dem Tod abgefunden hatte? Der Strich unter seinem Leben war von ihm bewusst und gefasst gezogen worden. Und nun wurde seine Rechnung ungefragt erneut aufgemacht?
Jules Lederer verlor nach seiner körperlichen Genesung den Boden unter den Füssen, wurde depressiv, dachte oft an Selbstmord, hielt mehr als einmal den Lauf eines Revolvers in seinen Mund, hätte nur noch abzudrücken brauchen. So schleppte er sich über viele Monate hinweg mehr schlecht als recht durch die Zeit, lebte zwar noch für seine Lebenspartnerin und für seine beiden Kinder, schien jedoch ansonsten alle Energie und sämtliche Interessen für immer verloren zu haben, konnte kaum noch Freude oder auch nur Empathie empfinden.
»Wie ein Zombie«, hatte sein Adoptivsohn Chufu einmal respektlos zu Alabima gesagt, während einer seiner eher seltenen Besuche in der Schweiz, »er lebt zwar noch, doch er ist innerlich tot.«
Die Äthiopierin hatte nichts darauf geantwortet, konnte es nicht, vor Schmerz über den verlorenen Ehemann und Lebenspartner. Auch hatte sie ihre eigenen Probleme, in diesem ihr immer noch weitgehend fremden Land, genannt Schweiz, das von außen betrachtet so ordentlich und gut organisiert daherkam, wo jedoch die Wärme zwischen den Menschen gänzlich zu fehlen schien. Nachbarn zerrten einander wegen Nichtigkeiten vor Gericht. Die Becher der Bettler vor den Warenhäusern blieben leer. Man ging in die Kirche, um zu beten und verfluchte außerhalb alle Migranten.
Nein, die Äthiopierin hatte sich nie so richtig in ihre neue Heimat einbringen und einleben können. Jules hatte dafür gesorgt. Denn kein Nachbar und kein Elternpaar aus der Schule ihrer Tochter Alina waren ihm gut genug gewesen, weder als Gesprächspartner noch als Kollegen und schon gar nicht als Freunde. So lebte die Äthiopierin in der Schweiz wie im Exil, dachte immer wieder mit Wehmut und Sehnsucht an ihre alte Heimat zurück, an ihre Familie mit der vielköpfigen Verwandtschaft, in der sie bis zur ihrer Abreise nach Europa eingebettet gewesen war. Sie hatte ihr altes Zuhause aus Liebe aufgegeben, fand jedoch wegen ihrer Liebe zu Jules keine neue. Ohne ihre bald zehnjährige Tochter Alina hätte Alabima kaum noch Sinn in ihrem Dasein verspürt. Doch auch der Zwang der Verantwortung für ihr leibliches Kind ersetzte nicht die Lust am eigenen Leben. Die immer noch wunderschöne, reife Frau von Ende dreißig schien langsam, aber sicher zu verwelken, wie eine Schnittblume, die trotz viel Licht und genügend Wasser unweigerlich einging, ganz einfach, weil ihr die Wurzeln abgeschnitten worden waren.
Jules Lederer hatte sich schon immer sehr schwer getan mit echten Freundschaften oder auch nur guten Bekannten. Da gab es zwar ein paar langjährige Auftraggeber, mit denen er sich immer noch gut verstand. Einer von ihnen, ein russischer Oligarch, hatte ihn und seine ganze Familie jedoch kurz nach der Geburt seiner Tochter Alina umzubringen versucht, als der Schweizer ihm versehentlich in die Quere kam. Denn das Leben veränderte alle Menschen über die Zeit, ihre Positionen und ihre Ideale genauso, wie ihre Dogmen und den übrigen Glauben. Wer konnte schon ins Innerste der Leute blicken? Ihre Veränderungen zielsicher aufspüren und nachvollziehen?
Doch immerhin waren zwei herausragende Männer über all die Jahre hinweg stets eng mit Jules Lederer verbunden geblieben. Einer von ihnen hieß Toni Scapia, war von Geburt aus Millionär und lebte die meiste Zeit des Jahres in Miami. Der andere hieß Henry Huxley, war Brite, wohnte schon immer in London.
Wer Henry Huxley war, wusste wohl nur er selbst. Jules hatte ihn zwar vor mehr als zwanzig Jahren und während eines Auftrags kennengelernt, wusste trotzdem recht wenig über ihn zu berichten. Die beiden so ungleichen Männer, Henry war mehr als zehn Jahre älter als Jules, fanden damals rasch Gefallen aneinander. Gemeinsam erlebten sie einige Abenteuer, retteten sich mehrmals gegenseitig das Leben. Ihre Freundschaft überdauerte die Zeit.
Genauso wie Jules Lederer war auch Henry Huxley beständig hinter irgendwelchen Geheimnissen her, hielt seinen Daumen am Puls der Millionen-Metropole London, unterhielt Beziehungen zu den miesesten Gangstern der Stadt bis hinauf zu den angesehensten Politikern. Henry hatte die sechzig längst überschritten, ging stramm auf die siebzig zu. Vor ein paar Jahren durfte er Holly Peterson kennenlernen. Die aparte Frau von Mitte vierzig hatte zuvor als selbstständiges Edel-Escort-Girl gearbeitet. Damals sollte sie für Henry Huxley in einem Fall tätig werden. Das funktionierte zwar nicht, doch dafür verliebten sich die beiden ineinander und blieben zusammen, heirateten einige Zeit später und adoptierten Sheliza bin-Elik, eine vor dem Bürgerkrieg in die Türkei geflohene Syrierin, die ihre gesamte Familie verloren hatte. Die damals 14-jährige Alawitin wurde im Flüchtlingslager von einem 16-jährigen Sunniten schwanger. Doch der junge Mann wollte von Frau und Kind nichts wissen. Und so erbarmte sich Henry Huxley der armen Waisen und brachte das Mädchen nach Großbritannien, bemühte sich mit Holly zusammen um die Adoption.
Die gläubige Muslimin Sheliza bekundete allerdings größte Mühe mit der für sie völlig neuen, westlichen Welt, in der Sex und Konsum alles zu beherrschen schienen. Dies hier sollte ihre neue Heimat werden? Ein Sündenpfuhl, in dem der Kommerz über jeder Menschlichkeit stand?
Noch vor der Geburt ihrer Tochter flüchtete das Mädchen zurück nach Syrien, suchte dort vergebens nach überlebenden Familienmitgliedern. Sie geriet in die Fänge des IS und wäre beinahe umgekommen, konnte schließlich dank dem beherzten Eingreifen von Jules Lederer und Henry Huxley mit ihrer in der Zwischenzeit geborenen Tochter Fadoua gerettet werden, gelangte zurück nach Großbritannien. Der zu einer liebenden Mutter verwandelte Teenager hatte auf ihrer Odyssee durch Syrien allerdings ihren Glauben an Allah gänzlich eingebüßt. Zu viel sinnlose Gewalt musste sie mit ansehen, zu brutal waren die selbsternannten Gotteskrieger gegen die Bevölkerung vorgegangen. Sheliza konvertierte zum Katholizismus, nicht weil sie das Christentum dem Islam vorgezogen hätte, sondern nur weil sie darauf spekulierte, dass ihre Tochter auf diese Weise im Westen weit besser behütet war und sich auch wesentlich leichter integrieren konnte.
Was konnte man sonst noch über Henry Huxley und sein Leben erzählen? Selbst Jules Lederer wusste nicht allzu viel mehr über den langjährigen Freund. Der Brite hatte mit großer Wahrscheinlichkeit eine militärische Vergangenheit hinter sich gelassen. Womöglich war er auch für den Geheimdienst tätig gewesen. Jedenfalls besaß Henry bis heute gute Kontakte in diese Organisationen. Auch schien er immer schon finanziell recht unabhängig gewesen zu sein.
Weder die Lederers noch die Huxleys, waren also gewöhnliche Patchwork-Familien. Chufu Lederer, der adoptierte Philippine, machte sich über viele Jahre hinweg einen Spaß daraus, von einem regelrechten Flickenteppich zu reden, wenn die Sprache auf seine Familie kam. Sie bestand aus dem schweizerisch-amerikanischen Doppelbürger Jules, der Äthiopierin Alabima, ihm als gebürtigen Philippinen und der in der Schweiz geborenen Alina. Eine bunte Mischung aus Weiß, Schwarz, Gelb und Braun.
Über die letzten paar Jahre hatten sich Jules Lederer und Henry Huxley immer seltener getroffen oder auch nur am Telefon gesprochen. Der Zahn der Zeit nagte auch an ihrer Freundschaft und die fortschreitende Persönlichkeitsstörung von Jules tat das Ihrige. Doch immerhin kamen die beiden Familien weiterhin ein oder zwei Mal im Jahr für ein paar Tage zusammen, versuchten so ihre früher so enge Beziehung zu pflegen und zu erneuern, auch wenn sie auf Sparflamme blieb. Doch jedes Mal sprachen sie davon, sich in Zukunft wieder öfters zu treffen, was aber bislang frommer Wunsch geblieben war.
Doch nicht in diesen Winter. Zumindest, was Henry und Jules betraf. Denn Shridar Kumani, ein indischer Geschäftsmann, hatte die beiden zu sich nach Mumbai eingeladen. Der frühere Rohstoffhändler war vor vielen Jahren Klient von Jules Lederer geworden. Als der Schweizer jedoch am Gehirntumor schwer erkrankt war, reiste Henry Huxley an seiner Stelle nach Indien. Der Brite löste die ihm gestellte Aufgabe, eine unglückliche Verquickung von Religion und Wirtschaftsinteressen, auf seine ganz persönliche und sehr spezielle Weise, jedoch zur vollsten Zufriedenheit von Shridar Kumani. Seitdem verband gerade diese beiden Männer eine nie ausgesprochene Freundschaft, die auf gegenseitiger Achtung beruhte.
Und so saßen die beiden langjährigen Gefährten Jules und Henry nur zwei Wochen später tatsächlich im selben Jet, hatten sich in London getroffen und flogen zusammen nach Mumbai, freuten sich auf das Wiedersehen mit ihrem früheren indischen Auftraggeber.
Die Erste Klasse der Air India bot ihnen jeden erdenklichen Komfort. Huxley und Lederer genossen den neunstündigen Flug, unterhielten sich angeregt über die alten, gemeinsamen Zeiten und Abenteuer, stellten auch Mutmaßungen über den eigentlichen Grund für die Einladung von Shridar Kumani und ganz generell über ihren Aufenthalt in Mumbai an, vermuteten weniger eine reine Nettigkeit des früheren Rohstoffhändlers als vielmehr eine neue und wichtige Aufgabe für die beiden in die Jahre gekommenen Problemlöser. Sie freuten sich auf eine neue Herausforderung.
Da neu anknüpfen ihrer früher so engen Beziehung gelang ihnen allerdings nur leidlich. Denn das Alter hatte nicht nur den Vorteil, die Menschen etwas ruhiger zu stellen. Im Gleichschritt ging auch eine zunehmende Starrköpfigkeit einher, zudem eine unspezifische Angst vor allen Veränderungen in der Welt draußen, die stetigen Einfluss auf das Umfeld nahmen, gegen die man nichts ausrichten konnte. Ja, das Alter war weder am Briten noch am Schweizer spurlos vorübergegangen. Vielleicht lag es aber auch an ihrer Verantwortung gegenüber ihren Familien? Diese Verpflichtung mahnte sie ständig zu größter Vorsicht, dämpfte ihren früher eher lockeren Umgang mit möglichen Risiken, hatte ihnen regelrechte Fesseln angelegt. Zwei einst stolze Adler, die nicht mehr auf die Jagd gehen durften, deren Federn deshalb beschnitten waren. Eine gewisse Melancholie hatte die beiden wohl ebenfalls befallen, denn ihr Leben konnte nie mehr so werden, wie es einst war.
Jules und Henry teilten sich die acht Plätze im vordersten Teil des Flugzeugs mit vier Männern und zwei Frauen, alle in den hohen Vierzigern bis Anfang sechzig. Mit Sicherheit befanden die sich allesamt auf Geschäftsreise, schienen erfolgreiche Unternehmer oder zumindest wichtige Manager zu sein. Obwohl längst sehr wohlhabend geworden, jagten sie weiterhin dem Geld nach, als könnten sie sich damit noch mehr vom Leben kaufen.
Jules und Henry hoben sich von den anderen sechs Passagieren in der ersten Klasse ab, wie zwei Flamingos in einem Schwarm von Krähen. Nicht nur sprachen die beiden weit kräftiger dem alkoholischen Angebot im Flugzeug zu. Sie plagten sich auch nicht mit Laptops oder IPads ab, stierten auf keine Bildschirme, diktierten keine Briefe oder murmelnden Berichte in Mikrophone. Selbstverständlich bemerkten die beiden alten Freunde immer wieder die abschätzenden und manchmal auch etwas giftigen Blicke der anderen Erste-Klasse-Passagiere, kümmerten sich jedoch herzlich wenig darum, gaben sich völlig zwanglos.
Als sie in Mumbai das Flugzeug verlassen und die Zollformalitäten hinter sich gebracht hatten, strebten sie mit ihren Rollkoffern dem Ausgang zu. In der Ankunftshalle standen bereits in diesen frühen Morgenstunden Dutzende von Fahrern von irgendwelchen Abholdiensten aufgereiht und mit Papp-Schildern ausgestattet, auf denen die Namen ihrer gesuchten Passagiere standen. Einer der Wartenden stach allerdings aus allen anderen hervor. Ein sehr groß gewachsener und sehr schlanker Inder, der unverkennbar in einem italienischen Maßanzug steckte und dazu schwarze Lederhandschuhe und Fahrermütze trug, aber kein Namensschild in seinen Händen hielt. Er stand fast unbeweglich da, sah ruhig den näherkommenden Fluggästen entgegen, fixierte sogleich Henry und Jules mit seinen Augen, als sie aus der offenstehenden Glastür traten, machte sonst jedoch keinen Wank. Zumindest der Brite kannte den Fahrer von Shridar Kumani von seinem früheren Aufenthalt her, steuerte ihn deshalb direkt an und begrüßte ihn freundschaftlich, wie einen alten Bekannten.
»Hallo, Kunwei. Wie geht es Ihnen? Was macht die Familie?«
»Uns geht es sehr gut«, beantwortete der Mann in vorzüglichem Englisch, das er nur in Großbritannien erlernt haben konnte, »darf ich Ihnen das Gepäck abnehmen?«
Ohne eine Antwort abzuwarten winkte er zwei von ihm bestellte Träger heran. Die übernahmen die Rollkoffer der beiden Europäer, liefen dem Chauffeur und seinen Fahrgästen hinterher. Zu fünft verließen sie das Flughafengebäude durch die Glasschiebetür. Warme, nein, heiß-schwüle Luft brandete ihnen entgegen, hüllte sie ein, gab zumindest den beiden Europäern das Gefühl, in einen regelrechten Backofen geklettert zu sein.
Kunwei hatte den Rolls Royce seines Dienstherrn im Halteverbot abgestellt. Ein Polizist bewachte den wuchtigen, silbergrauen Phantom 8, nahm dankbar die Banknote vom Fahrer entgegen und entfernte sich. Weder Henry noch Jules wunderten sich. Andere Länder, andere Sitten. Es brachte nichts ein, sich über die kulturellen Unterschiede der Völker zu streiten oder ihnen Vorschriften machen zu wollen. Selbstverständlich war Korruption überall auf der Welt ein Problem. Doch während sich die Menschen im Westen noch so gerne über solche kleinen, wenn auch ungesetzlichen Gefälligkeiten ereiferten, billigten sie ihren Regierungen und Parlamenten gleichzeitig zu, Gesetze zu schaffen, die der Mehrheit der Bevölkerung schadeten und nur wenigen reichen Menschen im besonderen Masse dienten. Dass diese Politiker nach ihren Amtszeiten im Gegenzug mit einträglichen Posten in der Wirtschaft belohnt wurden, hatte selbstverständlich nichts mit Korruption zu tun, sondern war ihrem großen Verdienst für die Allgemeinheit geschuldet, ihrer Schaffenskraft und ihrem Weitblick, auf welche die Unternehmen auch später angeblich nicht verzichten konnten.
Kunwei hielt seinen beiden Gästen die hintere Wagentür auf und Brite und Schweizer schlüpften auf die Rückbank. Nachdem ihr Gepäck verstaut, die hilfreichen Geister entlohnt und Kunwei vorne Platz genommen hatte, fädelte der Rolls in den Stoßverkehr ein. Sie fuhren zwar gemächlich, aber äußerst komfortabel, nicht aber in Richtung Innenstadt, sondern auf Nebenstraßen in Richtung Norden, in einen erst vor wenigen Jahren erschlossenen Vorort, wie die vielen modernen Bürogebäude und Wohnhäuser den beiden Europäern bewiesen. Shridar Kumani hatte für sich und seine Familie ein riesiges Anwesen erstanden oder gebaut, eine ganze Ansammlung von Villen und Bungalows, die sich in einem großen Park über mehrere Hektar ausbreitete und von einem hohen Gitterzaun ringsherum geschützt wurde.
Das Tor bewachten gleich zwei uniformierte Männer, die beide Pistolen in Halftern trugen. Sie ließen das massive Gittertor elektrisch aufgleiten, als sie den Fahrer im Rolls Royce erkannt hatten, grüßten die Insassen der Nobelkutsche militärisch.
Der indische Unternehmer empfing seine Gäste aus Europa direkt auf der breiten Treppe vor dem Haupthaus, strahlte sie an, wie es nur ein Inder vermochte, der sich ehrlich und wahrhaftig freute. Gastgeber und Eingeladene umarmten sich herzlich und tauschten freundliche Worte aus. Während die drei danach das riesige Haus betraten, kümmerten sich zwei livrierte Diener bereits um das Gepäck der Reisenden, brachten die Koffer hinüber in eines der Gäste-Häuser.
Der überbordende Luxus in der Eingangshalle machte wohl fast jeden Besucher staunen. Marmor, Stuck, Ebenholz und Elfenbein beherrschten das Bild, dazwischen prunkvolle Goldverzierungen und luxuriöse, antike Möbelstücke. Doch Jules Lederer wie Henry Huxley kannten sich mit den Eigenheiten eines asiatischen Moguls aus, der dem Protz huldigte, aber nicht etwa, weil er ihn derart begeisterte, sondern nur, weil er zwingend notwendiger Ausdruck des andauernden geschäftlichen Erfolgs war. Wer sich nicht mit Luxus umgab, der galt in einem Riesenvolk von mausarmen Tagelöhnern und kleinen Angestellten wenig bis gar nichts. Als Geschäftsmann musste darum auch Shridar Kumani diese Gepflogenheit seiner Heimat leben und sich den Zwängen der Kultur seines Landes fügen.
Jules und Henry lernten im Laufe des Tages die meisten anderen der ständigen Bewohner des Häuser-Komplexes kennen. Nicht nur lebten Shridar mit seiner Frau Aranja und einigen seiner erwachsenen Söhne hier. Auch Enkelkinder gab es reichlich. Und selbstverständlich ein ganzes Heer an eifrigen Hausangestellten, die wie fast unsichtbare, aber überaus dienstbare Geister durch die Räume schwebten.
Zum Abendessen an ihrem Ankunftstag traf man sich im hinteren Teil des Parks, wo es sich Shridar Kumani nicht nehmen ließ, als Pizza-Bäcker eigenhändig seine Gäste und seine Familie zu verwöhnen. Hier erst zeigte sich das wahre Leben der Kumanis, die noch so gerne auf jeden Luxus verzichteten, die weit mehr an guten Gesprächen und lachenden Gesichtern interessiert waren als an unendlichem Komfort. Denn Shridar scheuchte seine Diener weg, sobald alle von ihm gewünschten Dinge herbeigebracht waren. Der Inder versuchte sich sogar an einem neapolitanischen Volkslied, als er mit strahlendem Gesicht gemeinsam mit seiner Ehefrau und einem seiner Söhne die ersten Teiglinge dehnte, streckte und mit Soße und Auflage versah, sie anschließend geschickt in den riesigen mit Holz befeuerten Ofen schob, sie wenig später mit der kleineren, runden Schaufel drehte und in der Gluthitze kross backen ließ.
Als gläubige Hindus verschmähten die Kumanis alkoholische Getränke, leerten stattdessen die herangeschafften Kannen mit Tee und die großen Karaffen mit aromatisiertem Wasser. Für Henry und Jules hingegen hatte Shridar ein paar Flaschen Barolo Gran Bussia von Aldo Contero bringen lassen, einen 1982er, der eigentlich viel zu edel für ein Pizza-Essen war. Doch Shridar wusste um die Kenntnisse von Henry und um die Vorlieben von Jules, wollte ihnen der perfekte Gastgeber sein.
Es wurde eine sehr fröhliche, fast ausgelassene Runde. Der Schweizer und der Brite wunderten sich über das höchst sorgsame, über weite Strecken perfekte Englisch selbst aus den Mündern der allerjüngsten Enkelkinder. Sie alle wurden mit Sicherheit von Privatlehrern aus Großbritannien unterrichtet, pflegten die fremde Sprache wohl ebenso sehr wie das einheimische Marathi. Aus Höflichkeit gegenüber den europäischen Gästen unterhielt man sich an diesem Abend auch innerhalb der Familie ausschließlich in Englisch.
Die ersten Tage in Mumbai vergingen für die beiden Europäer wie im Flug. Shridar Kumani war mit seinen Gästen fast ständig unterwegs. Man besuchte die Millionen-Metropole, sah sich all die Sehenswürdigkeiten an, von denen die Europäer manchmal schon gehört hatten oder die man zu kennen glaubte. Doch in Wirklichkeit fühlten sich Land und Leute weit exotischer als erwartet an und vor allem roch alles ganz anders, als sie es sich jemals hatten vorstellen können. Sie wohnten sogar einigen Zeremonien in den Hindu-Tempeln bei und Shridar erklärte ihnen geduldig all die seltsam anmutenden Handlungen und ihren religiösen Hintergrund, beispielsweise das befestigen von Schleifen an Baumzweigen oder den Sinn hinter den Opfergaben der Gläubigen.
Niemand schien sich in den Tempeln an den beiden fremden Eindringlingen aus dem Westen zu stören, ebenso wenig an den englischsprachigen Erklärungen. Im Gegenteil. Äußerst freundlich, meist mit strahlenden, interessierten Gesichtern, wurden sie von den Gläubigen gemustert oder zwischendurch auch verwundert angestaunt. So etwas wie Stolz, zeigte sich auf vielen Gesichtern, vielleicht der Stolz über die eigene Kultur oder der Stolz über ihren festen und gelebten Glauben oder aber der Stolz über die Tatsache, dass sich Leute aus dem Westen dafür interessierten.
»Das Timutri der Hindu wird von den drei Gottheiten Brahma, Shiva und Vishnu gebildet«, erklärte Shridar ihnen, »Brahma steht für die Schöpfung und die Geburt, Vishnu für die Erhaltung und das Leben, Shiva für das Transzendentale und den Tod. Jede Gottheit besitzt auch eine Shakti, eine Gefährtin und Gemahlin.«
Und weiter erklärte der frühere Rohstoffhändler: »Brahma stieg aus dem Ei des Universums und so entstanden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Solange Brahma schlief, war nichts. Mit seinem Aufwachen nahm alles Gestalt an. Die Erde, wie wir sie kennen, wird zwei Milliarden Menschenjahre bestehen. Dann wird Brahma wieder einschlafen und alles wird verschwinden, was bislang bestand.«
Er deutete auf einen Fries im Tempel.
»Brahma wird oft mit vier Gesichtern und vier Armen dargestellt, damit er in alle Himmelsrichtungen gleichzeitig blicken und handeln kann. In jeder Hand hält er einen Gebetskranz und eines der vier Veden, eine unserer heiligen Schriften. Brahma ist der einzige Gott, der nicht erschaffen wurde. Denn vor ihm gab es nur das Nichts. Zusammen mit seiner Gemahlin Sarasvati gilt er als der Schöpfer der Welt. Sein Reittier ist eine Gans, manchmal auch ein Schwan. Die Shakti Sarasvati, die Gattin von Brahma, ist das erste Geschöpf, das der Gott sich erschuf. Es gibt dazu zwei Mythen. In der ersten teilte sich Brahma in eine männliche und eine weibliche Hälfte. In der anderen entstand Sarasvati, als Brahma die Welt mit seinen Worten erschuf. Sarasvati ist die Göttin der Sprache und der Weisheit, auch der Kunst, der Musik und der Poesie. Und Sarasvati reitet stets einen Schwan oder einen Pfau.«
»Die Parallelen zum Christentum und auch zum Judentum sind bemerkenswert«, meinte Henry Huxley fasziniert, »auch wenn dort ein übergeordneter Gott aus Adams Rippe Eva erschuf.«
Der indische Geschäftsmann lächelte stumm zur Antwort. Dass der Hinduismus sicher tausend Jahre älter als das Judentum war, beantwortete die Frage nach dem Ursprung, ob Ei oder Huhn.
»Vishnu ist der Erhalter der Welt. Er wird immer wieder geboren, nimmt dabei manchmal auch andere Gestalt an. Wir glauben an insgesamt zehn Avatars von Vishnu. Sri Rama, Krishna und Buddha sind die allgemein bekanntesten und auch am höchsten verehrten. Vishnu und seine Gattin Lakshmi beschützen die Menschen und die Götter gleichermaßen. In seinen vier Händen hält Vishnu einen Lichterkranz als Symbol der Sonne, eine Lotosblüte, ein Muschelhorn und eine große Keule. Das Reittier von Vishnu ist der Vogel Garuda. Doch Vishnu wird auch häufig auf einer Schlange liegend dargestellt. Die Schlange ist eine Kobra und trägt tausend Köpfe. Aus dem Nabel von Vishnu sprießt eine Lotosblume, auf der seine Gefährtin Brahma sitzt. Beide Götter sind in tiefe Meditation versunken. Wie ihr Gatte inkarniert auch Lakshmi immer wieder, für Sri Rama als Sita, für Krishna als Radha. Ihr heiliges Tier ist der Elefant.«
Abermals hielt der Inder inne, führte die beiden Europäer zu einer anderen Stelle im Tempel.
»Shiva ist der Gott der Ekstase und der Zerstörung, aber auch ein Erneuerer. Alles von Brahma Geschaffene löst sich im ekstatischen Tanz von Shiva wieder auf. Shiva wird auch als Mondgott der Berge bezeichnet, trägt in seinem verfilzten Haar die Scheibe, durch die der Ganges fließt. So rettet er Indien vor drohenden Überflutungen. Als Gott des Himalayas thront er auf dem Berg Kailas und überblickt von dort aus das ganze Land. Um den Hals von Shiva windet sich eine Kobra. Sie ist ein Symbol für den Jähzorn. Shiva hält jedoch die Schlange direkt an seiner Kehle stets im Zaum.«
Die beiden Europäer sahen sich das Wandbild genauer an.
»Shiva gilt im Hinduismus als der mächtigste und meistverehrte Gott. Er steht für den Tanz und für fröhliche Feste. Doch gilt er auch als Gott der Meditation und der Keuschheit. Im Tantra vereinigt Shiva zusammen mit seiner Shakti Parvati die Schöpfung, die Erhaltung, die Zerstörung und die Erneuerung. Das Symbol des Shiva im Tantra ist das Lingam.«
Shridar Kumani deutete auf eine etwa achtzig Zentimeter hohe Steinsäule, die wie ein riesiger Dildo geformt war und auf einer runden Steinplatte als Sockel ruhte.
»Ein Lingam ist in jedem Shiva geweihten Tempel zu finden, oft in Vereinigung mit der Quelle aller Schöpfung, der Yoni. Das ist die runde Steinplatte, die das Geschlechtsteil seiner Gefährtin Parvati symbolisiert. Das Reittier von Shiva ist der Stier Nandi. Parvati wird als liebende Frau und Mutter verehrt. So ist der Elefanten-köpfige Gott Ganesha der Sohn der beiden. Doch Parvati hat mehrere Gesichter. Als Dunga ist sie eine Kriegerin, reitet auf einem Tiger oder Löwen und bekämpft das Böse im Menschen. Aus ihrer Stirn entspringt auch Kali, die Rachegöttin. Die trägt eine Kette aus Totenköpfen und einen Gürtel aus abgeschlagenen Armen.«
»Kali wurde in Europa bekannt mit dem Beatles Film aus den 1960er-Jahren«, warf Jules Lederer ein, »diese Göttin hat doch ebenfalls vier Arme, oder?«
»Auch Dunga besitzt vier Arme. Sie sind das Symbol für ihre große Macht. Meistens hält sie in einer ihrer Hände eine Sichel.«
»Der indische Sensenmann?«, fragte Jules lachend zurück.
»Wenn du es so sehen willst? Allerdings gilt Kali als göttliche Mutter und Beschützerin des Menschen. Denn Dunga wie Kali bekämpfen die Dämonen, die in uns allen stecken.«
Henry Huxley blickte aufmerksam seinen Freund aus der Schweiz an, erwartete wohl eine besondere Regung in dessen Gesicht. Doch Jules Miene verzog sich nicht.
»Dann wurde Kali in diesem Beatles-Film also falsch dargestellt?«
»Abgesehen davon, dass der Streifen als reiner Klamauk zur Unterhaltung gedacht war, gibt es unter den Hindi leider bis auf den heutigen Tag einige verwirrte Köpfe, die tatsächlich glauben, durch Opfer-Rituale müsste man Dämonen austreiben und dürfte zu diesem Zweck sogar töten.«
»So wie wir im Westen vor ein paar Jahrhunderten mit unseren Hexen«, stellte der Schweizer trocken fest und Kumani nickte, »die abgetrennten Köpfe in der Halskette von Kali gelten bei uns jedoch als Zeichen der Befreiung vom Bösen.«
»Auch eine Parallele zum Christentum oder zum Islam, wo man Ungläubige töten darf, um sie daran zu hindern, noch mehr Sünden zu begehen«, warf diesmal Henry lakonisch ein, fügte jedoch gleich danach an, »du hast vorhin Ganesha erwähnt, als Sohn von Shiva und Parvati. Warum trägt er einen Elefanten-Kopf? Seine Eltern haben doch menschliche Gesichter?«
Shridar Kumani lächelte wie zur Entschuldigung, bevor er antwortete.
»Es gibt verschiedene Geschichten darüber, wie Ganesha zu seinem Elefantenschädel kam. Die beliebteste geht etwa so: Shiva sah seiner Gemahlin Parvati gerne beim Baden zu. Das störte sie dermaßen, dass sie sich ihren Sohn Ganesha erschuf und ihn hieß, vor ihrem Badehaus zu wachen und niemanden einzulassen. Als Shiva wie gewöhnlich wenig später hineinwollte, stellte sich ihm Ganesha in den Weg. Wutentbrannt schlug Shiva ihm den Kopf von den Schultern und Ganesha sank tot zu Boden. Parvati aber erklärte ihrem Gatten, dass er seinen eigenen Sohn getötet habe. Da schickte Shiva seine Diener aus, ihm den Kopf des ersten Tieres zu bringen, das sie antreffen sollten. Ihn setzte er dem Leichnam seines Sohnes auf die Schultern und Ganesha erwachte zu neuem Leben, als Elefanten-köpfiger Gott. Weil Ganesha seinem Vater Shiva seitdem sehr nahesteht, wenden sich viele Gläubige an ihn. Sie rufen den freundlichen und weisen Ganesha an, damit dieser zwischen ihnen und dem oft zornigen Shiva vermittelt und der mächtige Gott ihnen sein Ohr leiht.«
»Du hast vorhin von einem Sri Rama, von Krishna und Buddha als Avatars von Vishnu gesprochen. Was hat es mit diesen drei auf sich?«, wollte Huxley wissen, »von Buddha wissen wir Europäer, dass er der Begründer des Buddhismus ist. Doch was ist mit Sri Rama und diesem Krishna?«
»Da muss ich etwas weiter ausholen«, entschuldigte sich Kumani, bevor er weitersprach, »das Ungeheuer Ravana war in unserer Mythologie ein Dämon mit zwanzig Armen. Als sein bevorzugter Zeitvertreib galt die Vergewaltigung von Prinzessinnen. Als Sir Rama auf der Jagd nach dem goldenen Hirsch war, näherte sich Ravana in der Gestalt eines Heiligen der lieblichen Sita. Er entführte die Gefährtin von Sri Rama und brachte sie in seinen Palast in Lanka. Die Götter erschufen daraufhin ein Heer von Affen, mit Hanuman als ihren Anführer. Die Affenhorde spürte Ravana und Sita im Palast in Lanka auf und kämpfte für Sri Rama den Weg zum Dämonenkönig frei. Schließlich schoss Sri Rama einen Pfeil auf den Dämonenkönig ab, den Brahma eigens zu diesem Zweck schuf. Er durchbohrte die Brust des Ungeheuers, trat in seinem Rücken aus und kehrte in den Köcher von Rama zurück.«
»Was für eine wilde Erzählung«, meinte Jules ziemlich respektlos.
»Es gibt dazu noch eine interessante Vorgeschichte«, meinte Shridar leichthin, ohne auf den Tadel des Schweizers einzugehen, »denn Sita, die spätere Gefährtin von Sir Rama, wurde von König Janaka in einer Ackerfurche als kleines Mädchen gefunden. Janaka beschloss, sie nur einem Mann zur Frau zu geben, der den Bogen von Shiva spannen kann. Und das war Shiva selbst in Gestalt von Sri Rama.«
»So ähnlich wie in Homers Epos über den Helden Odysseus bei seiner Rückkehr nach Ithaka«, meinte Henry Huxley verblüfft.
»Ja, wenn man nur genügend in der Zeit zurückgeht, findet man immer wieder Parallelen zwischen den verschiedenen Mythologien«, meinte Shridar Kumani mit einem wissenden Lächeln.
»Und Krishna? Wir im Westen kennen die Hare Krishna-Bewegung. Hat sie etwas mit ihm zu tun?
»Oh ja. Krishna ist bis heute der von uns Hindus am meisten verehrte Avatar von Vishnu. Die Gurus von Hare Krishna gehören deshalb auch zu den wichtigsten Brahmanen unserer Religion und auf ihr Wort wird besonders gehört. Krishna war laut unserer Mythologie der achte Sohn von Prinzessin Devaki und ihrem Gatten Vasudeva. König Kansa, der damals unrechtmäßig auf dem Thron saß, wurde prophezeit, der achte Sohn der beiden würde ihn dereinst töten. Deshalb ließ Kansa das Paar in den Kerker werfen. Die ersten sechs Söhne der beiden tötete man gleich nach ihrer Geburt. Der siebte überlebte, weil man eine Fehlgeburt vortäuschte. Der achte jedoch, Krishna, besaß göttliche Kräfte, ließ die Ketten zerspringen und alle Wächter einschlafen, so dass ihn sein Vater in Sicherheit bringen konnte. Krishna wuchs bei Pflegeeltern als Kuh-Hirte auf. Deshalb auch die besondere Verehrung der Kuh in Verbindung mit ihm. Es gibt viele Lausbuben-Geschichten aus seiner Kindheit. So soll er vor allem mit den Hirte-Mädchen allerlei Schabernack getrieben haben. Einmal stahl er ihnen die Kleider, als sie im Fluss badeten, kletterte mit dem Bündel auf einen Baum. Um sie zurück zu erhalten, mussten sich die Mädchen ihm nackt zeigen. Als Erwachsener ging Krishna zurück nach Mathura, tötete König Kansa und gab den Thron an den rechtmäßigen König Ugrasena zurück. «
»Mit den amourösen Geschichten des Jünglings erklärt sich wohl auch die große Verehrung für Krishna bis zum heutigen Tag«, brachte sich Jules erneut ein, »doch eine ganz andere Frage. Du hast vorhin das Tantra erwähnt. Was genau versteht ein Hindu darunter?«
»Tantra sind verschiedene Rituale, die ursprünglich von Sekten ausgeübt wurden«, erklärte ihnen Kumani, »im Hinduismus dienten sie früher dazu, Könige aus niederen Kasten oder aus dem Ausland zu legitimieren. Durch die Tantra-Rituale wurden sie zu Gottkönigen, die über ein ganzes Pantheon von Göttern herrschten.«
»Bei uns wird Tantra eigentlich immer nur im Zusammenhang mit gewissen sexuellen oder zumindest erotischen Praktiken erwähnt«, meinte Jules augenzwinkernd.
»Das ist nicht wirklich falsch«, konterte Shridar, »denn in der indischen Kunst werden tantrische Rituale sehr oft als Geschlechtsakt abgebildet. Allerdings bedeutet diese Vereinigung im Hinduismus das Eins werden mit dem Absoluten und das Erkennen der höchsten Wirklichkeit und nicht etwa das Befriedigen primitiver sexueller Begierden.«
Insgeheim warteten Jules Lederer als auch Henry Huxley über all die Tage hinweg gespannt auf das eigentliche Anliegen von Shridar, irgendein drängendes Problem oder eine Gefahr, der eigentliche Grund für die Einladung an die beiden Europäer. Doch das schien nicht der Fall zu sein. Überhaupt schien sich Shridar Kumani aus den meisten seiner Geschäfte zurückgezogen zu haben, lebte glücklich im Schoße seiner Familie, genoss seinen Reichtum, schien auch sehr viel Geld für wohltätige Zwecke zu spenden. Denn in jedem Tempel übergab er einem der Brahmanen einen Scheck. Und die Beträge darauf waren durchaus ansehnlich, wie die beiden Europäer feststellten.
»Das Leben ist ein Geben und Nehmen«, erklärte ihnen der frühere Rohstoffhändler auf die Frage von Jules, »niemand kann etwas für seine angeborenen Talente. Jeder sollte deshalb glücklich sein, wenn er seinem Leben einen Sinn zu geben vermag und erfolgreich ist. Und er sollte zufrieden mit allen teilen, die nicht so viel Glück oder Tüchtigkeit genießen.«
»Gesprochen wie ein echter Philosoph«, warf Jules respektlos ein. Henry schämte sich wegen den groben Worten seines Freundes aus der Schweiz über die soziale Verantwortung ihres indischen Gastgebers. Doch Kumani lächelte weiterhin voller Verständnis, wohl auch voller Weisheit.
»Als Hindu glaube ich an das Nirwana als oberstes Ziel eines jeden Individuums«, erklärte er ihnen fröhlich, »was ist schon die Spanne eines Menschenlebens, angesichts der Unendlichkeit des Nichts?«
Jules Lederer war eingefleischter Atheist, hatte weder mit Göttern noch mit Religionen und ihren Kirchen etwas am Hut. Dass Alabima gläubige orthodoxe Christin war und deshalb Alina religiös aufzog, störte ihn nicht. Denn er selbst wurde als Kind ebenso christlich erzogen, hatte sich erst im Knabeninternat davon befreit.
Wie es in der Frage des Glaubens um Henry Huxley stand, wusste nur der Brite. Er hielt sich jedenfalls in allen Tempeln sehr zurück, versuchte fast unsichtbar zu bleiben, drängte sich niemals neugierig vor, nahm die Zeremonien als höchst interessierter Mensch an, ohne sie zu kommentieren oder zu werten.
»Des Menschen Willen ist sein Himmelreich«, zitierte der Schweizer etwas unbeholfen und unsensibel die Aussage Kumanis zur Unendlichkeit und seinem Glauben ans Nirwana. Der Inder konterte in diesem Fall jedoch ebenso westlich mit: »Es geschieht mehr zwischen Himmel und Erde, als sich der Mensch vorzustellen vermag.«
Nein, Spannungen kamen zwischen den drei so ungleichen Männern in diesen gemeinsamen Tagen keine auf. Zu Unwirklich legte sich der Zauber des Riesenreiches auf die beiden Europäer, zu Demütig empfand der Inder seine eigene Existenz.
»Wie ist das eigentlich mit diesem Nirwana und dem Karma«, fragte der Schweizer eines Morgens beim Frühstück neugierig den Inder.
»Lass es mich so erklären. Karma bedeutet, dass jede Handlung, ob geistig oder physisch, eine Folge hat. Gute Handlungen führen zu einem positiven Karma, schlechte zu einem negativen. Letztendlich entscheidet nur das Karma, ob man von den Göttern das Moksha geschenkt erhält, die Erlösung von Samsara, der ewigen Wiedergeburt. Um Moksha zu erreichen, gibt es drei oder vier Lebenswege. Die Gottesliebe wird Bhaktiyoga genannt, der Weg des Wissens Jnanayoga, der Weg der selbstlosen Tat Karmayoga. Für die meisten Hindi spielt allerdings die liebende Hingabe, Bhakti genannt, die wichtigste Rolle. Andere Hindi glauben allerdings daran, dass man die Gnade der Götter auch ohne eigenes Zutun erlangen kann.«
»Dann entspricht das Karma auch der Basis, als was man wiedergeboren wird?«, fragte Henry Huxley neugierig geworden nach.
»Nun, nach unserem Glauben gibt sechs Möglichkeiten für die Wiedergeburt. Drei davon bezeichnet man als die weißen Stufen, nämlich Götter, Asuras, eine Art von Halbgöttern und der Mensch. Dazu kommen drei schwarze, eine Wiedergeburt als Tier, als hungriger Geist oder als Höllenwesen.«
»Augenblick«, mischte sich da Jules Lederer ein, »dann stehen die Götter dem Menschen also näher als dem Nirwana?«
»Ja, sehr gut beobachtet. Hier ergibt sich im Hinduismus eine sehr wichtige Differenz zum Christentum und den meisten anderen westlichen Religionen«, bestätigte der Inder, »auch die Götter inkarnieren immer wieder oder sie bestehen bis zum Ende des Weltalls fort. Doch nur wer die Gnade Moksha erreicht, kann ins Nirwana gelangen. Dort gibt es auch keine Götter mehr, weil dort nichts existiert.«
»Darum verhalten sich die Götter auch so menschlich«, schloss Jules einen Gedankengang ab, »sie besitzen bestimmte Eigenschaften, begehen auch viele Fehler, stehen unter ihrem ganz persönlichen Zwang und können deshalb auch gar nicht selbst ins Nirwana aufsteigen.«
»Ja, die Götter gehen erst im Nirwana auf, wenn das Universum aufhört zu existieren.«
»Und wie steht es mit den Regeln und Verboten im Hinduismus? Wir im Westen kennen die zehn Gebote, die so ähnlich auch im Islam vorhanden sind.«
»Wir glauben an drei negative Triebkräfte, die zu bekämpfen sind. Die Gier, im Hinduismus als Hahn dargestellt, den Hass, mit dem Symbol der Schlange und als drittes die Verblendung und die Unwissenheit, dargestellt als Schwein.«
»Aber ihr esst doch Hühner und Schweine?«, mäkelte Jules an den alten Überlieferungen herum, »wie passt das zusammen? Wenn sie doch Gier und Unwissenheit bedeuten?«
»Etwas muss der Mensch doch essen«, quittierte der Inder die Frage lächelnd.
»Aber kein Rindfleisch. Warum sind Kühe bei euch heilig?«
»Das Reittier des am meisten verehrten Shiva ist der Stier Nandi. Außerdem liefern Kühe Milch und damit auch Butter und Käse. Es ist weitaus nützlicher, diese Produkte von lebenden Tieren laufend zu empfangen, als einmalig ihr Fleisch zu essen. Viele arme Familien sind bis heute auf diese kostenlosen Nahrungsmittel angewiesen.«
»So vermischt sich die Armenspeisung mit dem Glauben?«, fragte Huxley interessiert zurück.
»Ja, frühere Generationen haben diesen Vorteil wohl erkannt und in den Glauben eingebaut. Da Religionen die am längsten währenden Errungenschaften der Menschheit sind, ist auch der Nutzen einer solch klugen Regelung ausgesprochen dauerhaft.«
»Und wir im Westen experimentieren mit Genen, arbeiten daran, irgendwann in der Zukunft wichtige Informationen in ihnen speichern zu können, als beinahe unendlich währendes Gedächtnis der Menschheit«, meinte Huxley.
»Netter Vergleich«, entgegnete Kumani lachend, »die Technologie will die Religionen schlagen, zumindest was die Dauerhaftigkeit betrifft. Aber ob´s je gelingen wird?«
Mit Shridar zusammen besuchten die beiden Europäer auch die Hindu-Hochzeit eines der Angestellten des ehemaligen Unternehmers. Kumani erklärte ihnen einiges über die dazugehörenden Bräuche und die religiösen Handlungen.
»Dann kennt ihr auch das Eheversprechen?«, fragte der Schweizer neugierig nach.
»Nun, es gibt bei uns Hindi nur drei unumstößliche Vereinbarungen, die Eheleute zwingend miteinander eingehen. An erster Stelle steht der religiöse Gehorsam. An zweiter das Zeugen von möglichst vielen Söhnen. Und als drittes ...«, und Shridar Kumani machte eine kurze Pause, sah genüsslich in die Gesichter der beiden Besucher, »... versprechen sich die beiden Kama. Und damit ist der Spaß am gemeinsamen Sex gemeint.«
»Dann bedeutet Kamasutra ...?«, meinte Henry Huxley mit fragendem Blick.
»Es ist die Anleitung zu möglichst befriedigendem Sex, den beide Ehepartner gleichermaßen genießen sollen.«
»Was zwangsläufig mit dem zweiten Eheversprechen zu einer Überbevölkerung führt«, warf Jules Lederer despektierlich ein.
»In Indien hungerten schon immer die allerwenigsten Menschen, weil wir sehr achtsam mit der Natur umgehen«, konterte Shridar Kumani, diesmal allerdings kurz angebunden, vielleicht sogar ein klein wenig gekränkt, »von Überbevölkerung kann also keine Rede sein, zumindest noch nicht.«
»Was mir in den letzten Tagen auffiel, ist das immer noch sehr lebendige Kastenwesen «, meinte nun der Brite, »was hat es damit auf sich? Ich dachte, es sei längst abgeschafft?«
»Nein, das Kastenwesen ist weiterhin erlaubt, als Teil unserer Kultur und unserer Religion. Nur die Diskriminierung der niederen Kasten ist seit 1949 verboten.«
»Aber immer noch spricht man von den Unberührbaren, die auch heute noch die schwersten Arbeiten zu verrichten haben«, warf der Schweizer fast trotzig ein.
»Lass es mich so erklären, Jules. Die Brahmanen, die Priester, tragen einen weißen Punkt auf der Stirn. Sie verkörpern die höchste Kaste. Doch Brahmanen üben heute auch andere Berufe aus, sind Ärzte oder Anwälte. Der rote Punkt symbolisiert als zweithöchste Kaste die Krieger, Fürsten und Könige. Sie gehen gerne in die Politik. Gelb steht für die Kaufleute, Händler und Geldverleiher.«
»Du und deine Familie tragen jedoch schwarze Punkte.«
»Ja, die Kaste der Shudras, der Handwerker, Pachtbauern, Arbeiter und Diener. In die sind wir Kumanis hineingeboren. Doch was man beruflich macht, ist schon lange nicht mehr abhängig von der Geburtskaste. Die Unberührbaren, die wir Dalit nennen, tragen keine Farbe. Zu den Dalit gehören die Ureinwohner Indiens. Sie bilden ihre eigene Kaste. Auch die Angehörigen aller übrigen Rassen und Religionen, ob Christen, Muslime oder Juden oder Atheisten gehören dazu. Doch vergesst nicht. Bereits 1997 wurde erstmals ein Dalit zum indischen Staatspräsidenten gewählt. Ihr seht also, die Geburtskaste spielt wirklich keine entscheidende Rolle mehr, wenn es darum geht, aus seinem Leben etwas zu machen.«
»Aber für sehr gläubige Hindi gehören wir Christen weiterhin zur untersten Kaste, sind nur für niedrigste Arbeiten zu gebrauchen?«, meinte Jules abfällig.
Da mischte sich Henry Huxley ein: »Auch das Christentum und der Islam unterscheiden zwischen Gläubigen und Ungläubigen. Wir erließen sogar eigene Gesetze nur für Juden, die ihre wirtschaftliche Tätigkeit auf das Geldverleihen, das Trödeln und Lumpensammeln beschränkten. Was in Indien die Kasten waren, nannten wir Stände. Kirchenleute, Adel und das Volk. Hinzu kamen später die Zünfte in den Städten. Die Zugehörigkeit zum Adel und zu einer Zunft wurde auch bei uns vererbt. Derart weit liegen die beiden Kulturen meiner Meinung nach gar nicht auseinander.«
»Die Menschheit beging und begeht wohl immer und überall dieselben Fehler«, lenkte Jules ein, »jedes Zeitalter und jede Religion glaubt, Schubladen für die Menschen einrichten zu müssen.«
»Nun, jede Gruppe übt Zwang auf seine Mitglieder aus«, meinte Shridar Kumani vermittelnd, »ob es nur die Familie, eine Sippe, ein Volk oder eine ganze Nation ist.«
»Selbst der Snooker-Club um die Ecke besitzt ein Reglement, an das sich die Mitglieder und Besucher halten müssen«, gab Henry seine Zustimmung. Jules hatte nur mit halbem Ohr zugehört, schien in Gedanken versunken. Beide, der Inder und der Brite sahen den Schweizer deshalb forschend an.
»Wenn man es genau betrachtet, so unterliegen auch die Götter im Hinduismus einem Zwang. Sie können nicht aus ihren Rollen schlüpfen, müssen seit Jahrtausenden exakt das tun, wozu sie von Anfang an bestimmt waren. Es geht ihnen sogar schlechter als jedem gläubigen Menschen. Denn sie als Götter können erst ins Nirwana aufsteigen, wenn alles aufhört zu existieren, bleiben auf Erden gefangen, überdauern entweder oder werden immer neu geboren. Sie können erst, wenn ich es richtig verstanden habe, in etwa zwei Milliarden Jahre vergehen, dann, wenn das gesamte Weltall verlöscht.«
Der indische Unternehmer lächelte amüsiert.
»Das ist eine sehr westliche, ich möchte fast sagen, rein kapitalistische Denkweise. Immer auf Profit und Vorteil aus. Nein, Götter üben ihre Rollen aus, weil sie dies unbedingt möchten, ganz einfach, weil sie der Menschheit gegenüber freundlich und gnädig gestimmt sind, weil sie alle Menschen mögen und sie weiterbringen wollen. Das ist keine Frage des Zwangs, sondern eine Frage der Liebe.«
»Jeder soll nach seiner Fasson glücklich werden«, erwiderter Jules weit weniger freundlich, »des Menschen Willen ist eben doch sein Himmelreich.«
Die drei beließen es mit diesem Schlusssatz des Schweizers, gerieten keineswegs in Streit, waren auch nicht verstimmt aufeinander. Sie akzeptierten ganz einfach ihre zum Teil recht gegenteiligen Meinungen als eine wertvolle Vielfalt unter Gleichgesinnten, beharrten weder auf ihre Standpunkte, noch versuchten sie einander ihre Ideologien überzustülpen. Ihnen war sehr bewusst, dass in solchen Fragen gar keine Wahrheiten existieren konnten, zumindest nicht für die gesamte Menschheit. Denn jeder Mensch schuf sich seine eigenen Ansichten zu seiner Existenz. Und diese Meinung beruhte stets auf seinem aktuellen Wissen und auf seinen gemachten Erfahrungen, passte sie im Laufe seines Lebens deshalb immer wieder an.
Am nächsten Morgen machten sich die drei zu einer Raubtierjagd besonderer Art auf, die Kumani für seine Gäste organisiert hatte. Selbstverständlich ohne Gewehre, sondern mit Kameras bewaffnet. Auf der Halbinsel Kathiawar lebten nämlich die letzten asiatischen Löwen. Von den Einheimischen wurden sie als die wahren Könige des Urwalds bezeichnet und nicht etwa der indische Tiger, wie die beiden Europäer angenommen hatten. Mittels Helikopter ließen sich Shridar, Henry und Jules vom Anwesen der Kumanis direkt in den Gir-Nationalpark fliegen. Dort erwartete den Schweizer und den Briten eine weitere Überraschung. Denn der indische Geschäftsmann hatte eine Kolonne von Arbeitselefanten mit ihren Mahuts aufgeboten. Wie vor hundert und noch mehr Jahren wollte sich ihre Foto-Safari ganz gemächlich und gewollt beschwerlich durch die Landschaft bewegen. So zogen sie mit Zelten, Sack und Pack in die Wildnis, verbrachten einige Nächte möglichst abseits aller Zivilisation, hofften auf so manche Raubkatze, die sie aufspüren und in ihrem natürlichen Habitat beobachten und ablichten konnten. Und tatsächlich trafen sie am zweiten Nachmittag ihrer Wanderung auf ein Rudel der selten gewordenen Löwen, das faul im Schatten einiger Bäumen lagerte. Viele der Raubkatzen schienen tief zu schlafen, andere hoben träge ihren Kopf, witterten hinüber zu den Elefanten, die gut hundert Meter vor ihnen angehalten hatten. Alle Löwen sahen gut genährt aus. Sie fanden wohl genug Wildbret im Savannen-artigen Nationalpark. Größere Beutetiere erblickten die Foto-Jäger allerdings nur am frühen Morgen und späteren Nachmittag, an den Wasserstellen und auf den Weideplätzen. Über den Tag hinweg verbarg sich das Wild jedoch mehrheitlich im Buschland. Die wenigen beobachtbaren Tiere störten die beiden Europäer jedoch keineswegs. Denn die Landschaft war einfach bezaubernd, schien ihnen seit Jahrhunderten unverändert natürlich. Sie genossen die Aussicht vom schaukelnden Rücken ihrer mehr als zwei Meter hohen Elefanten herunter, die sich gemächlich durch Wälder, Bachläufe und Steppengebiete bewegten.
Es war am dritten Abend, als die Katastrophe über sie alle hereinbrach. Sie hatten ihr Lager an einen schmalen Flusslauf aufgebaut. Kumani und die beiden Europäer schliefen in Zelten, die mit Feldbett, Klapptisch und Campingstuhl ausgestattet waren. Jules und Henry fühlten sich in ihren Behausungen wie englische Offiziere des 19. Jahrhunderts, die abseits aller Straßen und Wege mit einer Kohorte Soldaten irgendwelche Strategien des Oberkommandos umzusetzen hatten. Eine ursprüngliche Romantik überfiel die beiden, wie man sie auch mit viel Geld nur noch ganz selten irgendwo zu finden vermochte.
Die Stimmung unter den Männern abends, beim Essen am Lagerfeuer und danach, war bis dahin stets ausgesprochen kameradschaftlich und manchmal sogar ein wenig schwermütig gewesen, vor allem wenn einer der Einheimischen ein Volkslied anstimmte, meist eine Ballade, die von Liebe, Hoffnung oder Armut erzählte. Shridar übersetzte für die beiden Europäer die Strophen der Sänger und Huxley und Lederer erkannten überrascht, dass diese Art der Schwermut überhaupt nichts Melancholisches an sich hatte und keinerlei zersetzende Züge aufwies. Sie enthielten weitaus mehr Sehnsucht, denn Verlust, viel mehr Hoffnung, als Elend. Die Lieder ähnelten der rumänischen Doina, fand Jules. Denn auch hier wurde das Tempo des Gesangs einzig durch die Gemütslage des Vortragenden bestimmt, sorgte für die eigentliche Stimmung, die berührte, die man greifbar fühlte, weit stärker als die tatsächlichen Worte.
Wunderbar war auch das Zusammenspiel der Elefanten mit ihren Führern anzuschauen, vor allem wenn sich die Tiere nach einer beschwerlichen Wegstrecke durch dichtes Gebüsch und zwischen hohen Bäumen abends am Ufer eines Bachlaufs im Schlamm wälzten und von ihren Mahuts mit Wasser bespritzt und mit Bürsten massiert wurden. Fast wie ihre Kinder wurden diese Riesentiere von ihren Besitzern gekühlt, gestreichelt und umsorgt, so auch an diesem dritten Abend.
Jules hatte sich in sein Zelt zurückgezogen, hörte über sein Handy und mit Kopfhörern laute Rockmusik, kümmerte sich nicht weiter um das, was im Lager stattfand, hatte sich für ein paar Minuten oder bis zum Essensruf ihres Kochs auf seinem Feldbett ausgestreckt. Er musste kurz eingenickt sein, schreckte irgendwann auf, blinzelte ins Licht der untergehenden Sonne und erhob sich etwas steif geworden. Ausgiebig gähnend reckte und streckte er sich und trat dann aus dem vorne offenstehenden Zelt, schritt hinunter zum Fluss, wo immer noch die Elefantenführer mit ihren Tieren herum plantschten. Seine Kopfhörer von Bose waren Spitzenklasse, hielten den Schall dicht am Ohr, ließen nur wenig Klangbrei nach außen dringen. Doch als Jules sie ohne nachzudenken vom Kopf zog, da spielte sein Smartphone gerade eine besonders laute Passage von MattRachs Canonrock Gitarrensolo ab. Die Elefanten am Ufer reagierten durchwegs erschrocken, zuckten zusammen oder trompeten kurz und spitz auf. Einer der Dickhäuter jedoch, er hatte zuvor genüsslich im knietiefen Wasser auf der Seite gelegen, versuchte ungeschickt herumzuwirbeln und auf seine Beine zu kommen, vermutete hinter den heulenden Gitarrenklängen vielleicht das Brüllen eines wild gewordenen Tigers. Mit einem seiner strampelnden Füße traf er höchst unglücklich seinen eigenen Mahut. Der junge Mann wurde regelrecht weggeschleudert, so als hätte er auf dem Katapult eines Stuntmans gestanden. Er flog rücklings ins tiefere Wasser, ging dort sogleich unter. Jules musste bei diesem Anblick laut auflachen. Zu komisch sah das aus, wie ein altertümlicher Slapstick aus der Stummfilmzeit. Der schmächtige Inder war vom Tritt des Tieres wie eine Strohpuppe davon gewirbelt worden.
Seine Kollegen versuchten, ihre Tiere zu beruhigen, schrien allerdings auch schon zornige Worte gegen den Schweizer und schüttelten wütend ihre Fäuste. Jules stellte endlich die lärmende Musik aus seinem Smartphone ab.
Henry und Shridar eilten vom Lagerplatz herbei, hatten dort mit dem Koch das Abendessen besprochen. Die Elefantenführer erklärten ihrem indischen Auftraggeber aufgeregt den Vorfall, deuteten immer wieder auf Jules. Den ins Wasser geschleuderten Kollegen schienen sie für den Moment vergessen zu haben. Doch dann stapften zwei von ihnen ins tiefere Wasser und packten den wie leblos auf dem Bauch treibenden jungen Mann, richteten ihn zwischen sich auf und führten den immer noch benommenen ans Ufer. Der schmächtige Mahut wies eine dicke Beule mit Bluterguss an der Stirn auf. Vom Elefantenfuß konnte diese Verletzung kaum stammen. Wahrscheinlich war er im Wasser kopfüber auf einen Stein geprallt.
Sie legten den jungen Inder über ein Knie und klopften ihm das geschluckte Wasser aus den Lungenflügeln, fühlten besorgt nach seinem Puls, nickten zufrieden. Nach wenigen Augenblicken begannen die Arme und Beine des Verunglückten zu zucken und gleich danach musste er bellend husten, stöhnte danach laut auf und fasste sich gleichzeitig mit schmerzverzerrtem Gesicht an die Hüfte, die wohl vom Bein des Elefanten getroffen worden war. Er rollte sich vom Knie des anderen Mahuts auf den Boden und schrie gellend auf, blieb wie ein leerer Sack liegen und winselte vor Pein. Die umsichtige und vorsichtige Untersuchung und Befragung durch die anderen Elefantenführer ergab einen wahrscheinlichen Bruch des Oberschenkels. Womöglich war zusätzlich das Becken in Mitleidenschaft gezogen worden, wie sie aufgeregt vermuteten und wie Kumani seinen beiden Gästen übersetzte.
»Dumm gelaufen«, meinte der Schweizer achselzuckend zum Briten, »wer konnte schon ahnen, dass die Dickhäuter derart lärmempfindlich sind?«
Henry Huxley sah seinen Freund kopfschüttelnd an, sagte aber nichts. Doch an diesem Abend blieben die beiden Europäer und ihr indischer Gastgeber allein mit dem Koch an ihrer Feuerstelle. Die Elefantenführer hatten sich etwas entfernt von ihnen ein eigenes Lager eingerichtet, betreuten dort ihren verletzten Kollegen so gut sie es verstanden.
Ihre gemeinsame Safari war zu Ende, das war allen längst klar geworden. Am nächsten Morgen wollte man in Richtung Südwesten aufbrechen. Sobald sie aus dem großen Wald- und Steppengebiet heraus und an der Hauptstraße angelangt waren, konnten sie aus einem der umliegenden Krankenhäuser eine Ambulanz für den verletzten jungen Mann herbeirufen. Auch Shridar Kumani machte Jules Lederer keine direkten Vorwürfe, fand jedoch auch keine Worte der Rechtfertigung.
»Elefanten scheinen Rockmusik nicht besonders zu mögen?«, meinte der Schweizer irgendwann in einem Tonfall, als wollte er sich vor sich selbst rechtfertigen. Und er fügte achselzuckend ein »Shit happens« hinzu.
Weder Henry noch Shridar sagten etwas darauf. Die fröhliche und freundschaftliche Stimmung der letzten Tage war auf null gesunken.
*
Sie waren nun schon einige Monate offiziell und richterlich geschieden, das chinesisch-stämmige Ehepaar Zenweih und Sihena Ling aus Brasilien. Trotzdem betrieben sie ihre große Restaurant-Kette gemeinsam weiter, wobei Zenweih sie leitete und sich der Beitrag von Sihena auf den Empfang ihres monatlichen Gewinnanteils beschränkte. So hatten sie es bei der einvernehmlichen Trennung vertraglich festgelegt.
Doch seit kurzem ritt die Frau der Teufel. Sie eröffnete ihrem Ex-Gatten, dass sie beabsichtigte, ihre Hälfte des Unternehmens für sehr viel Geld an einen Außenstehenden zu verkaufen. Der eigentliche Grund für diesen Schritt war für Zenweih Ling klar. Die Trennung, die Scheidung und das anschließende Alleinsein empfand Sihena als große persönliche Niederlage. In ihren Augen war sie regelrecht abserviert worden, fühlte sich verletzt, wollte ihrem Ex-Ehemann die erlittene Schmach mit Zinsen heimzahlen. Dabei war sie es doch gewesen, die schon seit vielen Jahren nichts mehr mit ihrem Gatten zu tun haben wollte, was ihn aus dem gemeinsamen Haus und in die Arme anderer Frauen trieb. Und auch pflegte Sihena viele außerehelichen Beziehungen, oft über Jahre hinweg. Doch während sich die Chinesisch-stämmige vor allem mit gekauften Call-Boys vergnügte, bediente sich Zenweih mehrheitlich aus dem Pool seiner weiblichen Angestellten in der China-Restaurant-Kette.
Zenweih war sich zuerst ziemlich sicher.
Der angebliche Kaufinteressent war bloß ein vorgeschobener Strohmann. Er sollte dafür sorgen, dass Sihena ihre Hälfte des Unternehmens zum Höchstpreis an ihren Ex-Gatten verscherbeln konnte. Woher Sihena den italienisch-stämmigen Brasilianer kannte, der ihm als Käufer präsentiert worden war, hatte der Restaurant-Unternehmer allerdings nicht in Erfahrung bringen können. Ausgerechnet ein Italiener, ein Itaker, der sich »unter allen Umständen« bei ihm einkaufen wollte. Dabei verstand der Kerl von China-Restaurants etwa so viel, wie ein Sushi-Koch vom Pizzabacken. Doch Sihena vermutete richtig. Zenweih Ling würde niemals einen neuen Partner neben sich duldete und deshalb alles daransetzen, ihre Hälfte des Unternehmens selbst aufzukaufen, gezwungenermaßen zu ihren Bedingungen.
Doch was sollte und konnte Zenweih gegen diese Finte von Sihena unternehmen? Die Offerte stand, war ihm vor ein paar Tagen als Kopie schriftlich zugestellt worden. Fünfundsechzig Millionen brasilianische Real, rund zweiundzwanzig Millionen US-Dollar, wollte der Itaker seiner Ex-Frau für ihre Hälfte der Restaurant-Kette bezahlen. Dabei betrug der innere Wert der gesamten Unternehmung laut letzter Steuerbilanz kaum dreißig Millionen. Diese offiziellen Zahlen waren allerdings mit allerlei Tricks so niedrig wie möglich gehalten, um Steuern zu sparen. Das wusste niemand besser als Zenweih Ling. Doch mehr als fünfzig Millionen war die gesamte Restaurant-Kette in diesen wirtschaftlich schwierigen Zeiten auch unter Brüdern niemals wert. Der verdammte Italiener veranschlagte mit seinem angeblich seriösen Angebot aber einen Wert von mehr als dem Zweieinhalbfachen. Ein Irrsinn. Zu diesem Preis hätte auch Zenweih seine Hälfte sogleich verkauft. Doch der verfluchte Kerl wollte die Restaurant-Kette auf keinen Fall vollständig übernehmen. Ihm genügte die Hälfte. Auch das hatte Zenweih mittlerweile abgeklärt.
Was für ein falsches Spiel lief hier ab?
Der chinesisch-stämmige Unternehmer konnte es sich denken und er fürchtete sich insgeheim vor den absehbaren Folgen. Denn er hatte Informationen über den angeblichen Käufer mit italienischen Wurzeln eingeholt. Und die waren höchst beunruhigend ausgefallen.
Irgendwie musste er den Itaker und seine Offerte loswerden. Und das ging eigentlich nur über ein entsprechend hohes Gegenangebot an seine Ex-Frau. Doch woher sollte Zenweih so viel Geld nehmen?
Den Rest ihres gemeinsamen Vermögens, neben der Restaurant-Kette, hatten die Lings bei ihrer Scheidung redlich geteilt, damit nicht am Ende ihre Anwälte die lachenden Dritten waren. Die Stadt-Villa ging an Sihena, die riesige Hazienda, etwas südlich von Santa Maria im Bundesstaat Rio Grande do Sul gelegen, bekam Zenweih zugeschrieben. Die Möbel und das restliche Inventar blieben jeweils dort, wo sie bereits standen, lagen oder hingen. Auch alle privaten Bankkonten und Wertschriftendepots hatten sie sich hälftig geteilt. Der Restaurant-Betreiber ärgerte sich immer noch darüber, dass er in all den guten Jahren des gemeinsamen Erfolgs keine geheimen Bankkonten für sich allein angelegt und ordentlich gefüllt hatte.
Zenweih sprach mit seinen Hausbanken, gleich nachdem er erfahren hatte, dass er seine Hälfte der Kette nicht ebenso wie Sihena an diesen Italo-Brasilianer verkaufen konnte. Um allerhöchstens vierzig Millionen wollten ihm die Geldinstitute seine Geschäfts- und Privatkredite erhöhen. Mehr ging nicht, versicherte man ihm mehrfach, unter keinen Umständen, selbst nicht unter der Bedingung, dass er die Hazienda als zusätzliche Sicherheit einbrachte, was für die Banken wohl bereits beschlossene Sache war.
So saß Zenweih mit den Vertretern seiner Hausbanken lamentierend am Konferenztisch, er auf der einen Längsseite, ihm gegenüber seine vier Gegner. Nein, hier sprachen nicht irgendwelche Lieferanten mit einem geschätzten Kunden, sondern ein kleiner Bittsteller sah sich mit der absoluten Macht des Geldes konfrontiert.
»Die Zeiten sind schlecht«, meinte einer von diesen Finanzhaien leichthin und lächelte dazu auch noch maliziös impertinent. Er trug unverkennbar einen teuren Maßanzug, eine kostbare Krawattennadel mit Angeber-Brillanten und eine vor Diamanten strotzende Rolex. Alle paar Minuten langte er möglichst auffällig mit seiner Rechten an sein linkes Handgelenk, schob die Manschette seines Hemdes ein Stück weit zurück, blickte betont auffällig auf das funkelnde Zifferblatt. Ein ekelhafter Fatzke, der sein bisschen Wohlstand schamlos zur Schau stellte. Der Kerl hob zu seiner Absage gleichzeitig wie bedauernd seine mageren Schultern und fuhr dann kühl fort, »Ihre Umsätze sind in den letzten Jahren stetig gesunken und nur dank rigoroser Sparanstrengungen konnten Sie sich bislang einigermaßen über Wasser halten. Doch niemand weiß, wie lange die Wirtschaftsflaute noch anhält oder ob sich die Rezession nicht sogar weiter verschlimmert.«
»Aber dafür sind doch Banken da?«, brauste Zenweih ungehalten auf, »dass sie dort Geld investieren, wo echte Unternehmer es zu vermehren verstehen? Sie kennen mich doch seit vielen Jahren, ja Jahrzehnten. Ich bin ein äußerst erfolgreicher Geschäftsmann. Ihre Vorgänger haben mir beim Aufbau meiner Restaurant-Kette stets geholfen und dabei sehr viel Geld verdient. Warum denken Sie, dass ich nicht weiterhin erfolgreich sein werde?«
»Darum geht es doch gar nicht, lieber Senhor Ling...«, meinte ein anderer Banker, ein dummer Schnösel von noch nicht einmal dreißig Jahren, der ihm vom ersten Moment an höchst unsympathisch war, mit seinen arroganten Universitäts-Abschlussjahresbesten-Augen. Auf Zenweih Ling wirkten sie wie der Blick eines Matadors, der den Stier in der Arena fixierte, kurz bevor er ihm den Degen direkt am Schulterblatt vorbei mitten ins Herz stieß und dabei ein triumphierendes »Olé« ausrief. Schon dass man ihm diesen eingebildeten Jüngling als Vertreter seines wichtigsten Kreditgebers geschickt hatte, besagte für Zenweih alles. Und so hörte der Unternehmer ihm zwar aufmerksam zu, vernahm die Stimme dennoch nur wie durch Watte, so sehr rauschte und brauste die Wut in seinem Kopf, »...die Wirtschaft läuft derzeit allgemein schlecht. Gleichzeitig ziehen Sie, Senhor Ling, im Grunde genommen viel zu viel Geld aus der Unternehmung heraus und schreiben darum nicht nur unnötige Verluste, sondern verringern gleichzeitig Ihre Liquidität auf eine langfristig höchst gefährliche Weise.«
Wenigstens Bilanzzahlen konnte der Grünschnabel lesen.
»Das weiß ich selbst auch«, brauste Zenweih auf, »doch ich muss meiner geschiedenen Frau jeden Monat ihren vertraglich festgelegten Gewinnanteil auszahlen, sonst hetzt sie ihre Anwälte auf mich.«
»Aber Ihre Ex-Gattin ist doch mit fünfzig Prozent am Unternehmen beteiligt? Sie hat kein Recht, sich Gewinne auszahlen zu lassen, wo keine erzielt werden?«, meinte der dritte Banker achselzuckend.
»Soll ich meiner Frau gegenüber etwa gestehen, dass die Restaurant-Kette unterm Strich nichts mehr einbringt, sondern nur noch kostet?«, wetterte Zenweih Ling los, »dass wir seit drei Jahren Verluste schreiben? Trotz der immer noch recht hohen monatlichen Umsätze? Ich müsste mein Gesicht verlieren.«
Die vier Vertreter seiner Hausbanken hoben wie einstudiert gleichzeitig ihre Schultern, ließen sie gemeinsam wieder sinken. Der junge Schnösel seines Hauptkreditgebers übernahm erneut die Wortführung: »Ihr Unternehmen ist im derzeitigen Wirtschaftsumfeld einfach nicht mehr wert. Wir können die laufenden Kredite allerhöchstens um vierzig Million Real aufstocken, wenn wir gleichzeitig Ihre Hazienda und ihr Penthouse voll belehnen. Wir dürfen schließlich das Geld unserer Kunden nicht ohne Sicherheiten verleihen.«
»Ja, für allen möglichen Scheiß habt Ihr Geld im Überfluss, ihr verdammten Haie«, dachte sich Zenweih, während er mit mahlenden Kiefern seine vier Gegner anstarrte, »für die Scheiß-Krypto-Währungen genauso, wie für die Scheiß-Internet-Start-Ups. Auch für idiotische Spekulationen in Sojabohnen und Rindfleisch. Doch nicht für einen echten Unternehmer wie mich, der mit seinen eigenen Händen, viel Schweiß und noch mehr Einsatz die echte, reale Wirtschaft vorantreibt.«
Er sagte nichts, starrte sie nur zornig an.
Man schien ihn von Seiten der Banken bereits abgeschrieben zu haben, ihn, den etwas über sechzigjährigen, chinesisch-stämmigen Brasilianer, der aus zwei, drei bescheidenen Restaurants seines Vaters die wichtigste China-Gourmet-Kette des Landes aufgebaut hatte. Stets war er seinen finanziellen Verpflichtungen nachgekommen, selbst in stürmischen Zeiten. Und nun ließen sie ihn wie eine heiße Kartoffel fallen, diese verdammten Kerle.
»Dann nehme ich Ihr Angebot dankend an«, beschloss er das Gespräch abzukürzen, »bitte bereiten Sie alle nötigen Verträge entsprechend vor. Ich werde sie in den nächsten Tagen unterzeichnen.«
Die vier Maßanzugträger erhoben sich, schüttelten dem chinesisch-stämmigen Brasilianer zum Abschied kurz und wie beiläufig die Hand. Dann gingen sie gemeinsam aus dem Konferenzraum und wirkten dabei auf Zenweih Ling wie ein Rudel Wölfe, das nach einer gemeinsamen Mahlzeit abzog und nur noch die blank abgenagten Knochen ihres Opfers zurückließen.
Der chinesisch-stämmige Unternehmer setzte sich wieder auf seinen Stuhl am Konferenztisch, nahm eine der bereitgestellten Flaschen mit Mineralwasser zur Hand, öffnete den Verschluss und trank sie mit hastigen Zügen leer, spülte mit der Neige seine Mundhöhle ein letztes Mal aus, gurgelte den Rachen, bevor er schluckte.
Fünf Millionen Real war sein derzeitiger Barbestand auf privaten Konten und Depots. Denn schon die letzten, sehr schmalen Jahre hatten ihn und Sihena den Großteil ihrer flüssigen Reserven gekostet. Denn auch wenn die Geschäfte schon seit langer Zeit schlecht liefen. Man musste trotzdem stetig investieren, die Gebäudehüllen sanieren, die Einrichtung auswechseln, Maschinen reparieren oder ersetzen. Nur so konnte man die Qualität langfristig hoch und die Kundschaft bei der Stange halten.
Vierzig Millionen bekam er von den Banken. Okay. Fehlten noch fünfundzwanzig, um sich Sihena endgültig vom Hals zu schaffen, ohne gleichzeitig einen Itaker als mehr oder weniger stillen Teilhaber zu bekommen. Fünf Millionen besaß er mehr oder weniger in bar. Doch woher sollten die fehlenden zwanzig kommen?
Zenweih wusste es.
Doch sollte er diese Quelle in Betracht ziehen? War es nicht sinnvoller, den Strohmann seiner Ex-Frau herauszufordern und gar kein Gegenangebot zu stellen? Dann würde mit großer Sicherheit herauskommen, dass das Ganze bloß ein kleiner Bluff von Sihena war. Andererseits hatte Zenweih einige wenig erfreuliche Geschichten über diesen Senhor Andrea Borrigio herausgefunden. Man munkelte hinter vorgehaltener Hand von gewissen Verbindungen hinüber nach Sizilien und zur Cosa Nostra. Womöglich wollte sich die italienische Mafia tatsächlich mit ihren leicht verdienten Riesengewinnen aus dem Drogenhandel, der Prostitution und den Erpressungen bei ihm einkaufen? Vielleicht, um sein Unternehmen künftig zum Waschen ihrer illegalen Einnahmen in Südamerika zu benutzen? Wer krähte in Brasilien schon nach dem Ursprung solcher Gelder? Ausländische Investoren wurden vom Staat und seinen Behörden schon seit langem nicht mehr überprüft, frei nach dem Motto: »Jede zusätzliche Million zählt.«
Das verdammte Politiker-Pack war nicht nur unfähig und unwillig, die großen Probleme des Landes zu lösen, sondern auch noch höchst korrupt und unverschämt geldgierig. Sie zweigten sich von jeder Bewilligung, von jedem Export oder Import, eigentlich von jedem einzelnen Geschäft ihre ganz persönlichen Pfründe ab, auf Kosten des kleinen Mannes wie ihm.
Zenweih Ling fühlte sich in die Enge getrieben. Er konnte sich sehr gut vorstellen, was nach dem Kauf von Sihenas Hälfte durch einen Strohmann der Cosa Nostra passieren würde. Jedem Menschen konnte ein dummer Verkehrsunfall zum Verhängnis werden. Oder er wurde von einem plötzlichen Herzversagen ins Jenseits befördert. Woher zum Teufel kannte Sihena überhaupt solche verdammt gefährlichen Kerle? Wie und wo war sie an diesen Mafiosi geraten? Und konnte Zenweih ihn überhaupt noch aus seiner Restaurant-Kette heraushalten? Selbst wenn er Sihena auskaufte? Wenn diese skrupellosen Gangster erst einmal Blut geleckt hatten, würden sie wohl kaum mehr von ihrem Opfer ablassen.
Dem Unternehmer kroch es kalt den Rücken hinunter, als ihm richtig bewusstwurde, wie rasch er unter diesen Umständen handeln musste. Denn wartete er zu lange, so kam dieser Andrea Borrigio bestimmt auf die Idee, zuerst ihn auszuschalten, um seine Hälfte der Restaurant-Kette billig von seinen Erben zu kaufen und erst danach vielleicht noch die zweite Tranche für noch weniger Geld von Sihena. Denn Rechnen konnten diese Itaker-Mafiosi auf jeden Fall.
»Dieses verdammte Aas«, rief er zornig aus und schlug mit der Faust auf den Tisch, meinte seine Ex-Ehefrau, die ihn derart in die Enge trieb, »ich könnte dir deinen dürren, faltigen Hals umdrehen.«
Selbstverständlich dachte der Unternehmer kaum länger als einen kurzen Moment an diese Möglichkeit, so wie es wohl jeder seriöse Geschäftsmann in seiner Lage getan hätte. Rasch beruhigte er sich wieder, zumindest äußerlich, rieb sich mit den Handflächen über die geröteten Wangen, so als wollte er sie waschen, massierte sich dann mit den beiden Daumen die schmerzenden Augäpfel.
Zenweih verließ wenig später den für die Zusammenkunft mit den Bankern angemieteten Konferenzraum im Hilton Hotel und begab sich zurück in sein kleines, recht schäbiges Büro, das er seit zwei Jahren benutzte, um Kosten zu sparen. Ja, die Wirtschaftslage in Brasilien kränkelte seit langer Zeit, nicht erst seit den Olympischen Spielen. Bereits Lula da Silva hatte als Präsident die entsprechenden Weichen gestellt und begonnen, sich selbst und seine politische Entourage schamlos zu bereichern. Und seine Nachfolgerin Rousseff vervollständigte die Ausbeutung des Landes. Wer während ihrer Amtszeit nicht zum erweiterten Machtzirkel der Politikerkaste des Landes gehörte, ob als Anhängsel von Lula da Silva, Rousseff oder dem derzeitigen Michel Temer, der hatte seit mehr als zehn Jahren immer schwerer zu kämpfen. Doch Jammern half nun nichts mehr. Und Zenweih hatte sich endgültig entschieden.
Zurück in seinem Büro suchte er sich sogleich die Nummer von Edoardo Moro heraus, seines Zeichens Anwalt und Unternehmensberater, zumindest nach seinem Internet-Auftritt. Während des recht kurzen Gesprächs mit diesem Mann kam sich der Unternehmer vor, als müsste er seinen Henker bitten, ihm doch ein Seil zu besorgen. Doch es gab für den Chinesisch-stämmigen kein Zurück mehr. Besser sich mit der brasilianischen Drogenmafia herumschlagen als mit der italienischen Cosa Nostra. Denn die Brasilianer waren seiner Meinung nach bis zu einem gewissen Grad weitaus berechenbarer und verlässlicher, wollten bloß gute Zinsen kassieren auf ihrem leicht verdienten Drogengeld.
Anwalt Moro kannte Zenweih Ling, hatte zumindest von ihm gehört. Er zeigte sich zuerst überrascht, dann sehr erfreut, stellte dem Unternehmer den Kredit noch am Telefon in Aussicht, wollte den dafür notwendigen Vertrag gleich aufsetzen lassen. Dreißig Prozent Zins sollte Zenweih auf den zwanzig Millionen Real bezahlen. In monatlichen Raten. Ungeheuer viel Geld für das bisschen erkaufte Freiheit. Doch was blieb dem Restaurant-Unternehmer anderes übrig? Besser als der Tod waren dreißig Prozent allemal.
Als Chufu Lederer und Mei Ling das erste Mal von der Quasi-Erpressung durch Sihena erfahren hatten, denn anders konnte man das viel zu hohe Kaufangebot nicht nennen, da warf der Philippine sogleich die Idee auf, seine Eltern in der Schweiz um Unterstützung zu bitten. Jules und Alabima hätten womöglich problemlos die gesamten fünfundsechzig Millionen Real auftreiben können, um die gierige Sihena auszukaufen und die Restaurant-Kette für die Familie zu retten. Doch Zenweih lehnte damals schon den Gedanken daran schroff ab.
»Kommt nicht in Frage. Ich will weiterhin unabhängig bleiben. Mit einem Geldgeber wie deinem Adoptivvater käme ich mir vor wie ein kleiner Angestellter. Und das im eigenen Unternehmen.«
»Aber was sind denn deine Alternativen? Bei den Banken noch mehr zu Kreuze kriechen? Du selbst sagst doch, die fünfundsechzig Millionen Real wären weit mehr, als die gesamte Restaurant-Kette derzeit wert ist?«
Damals, als dieses Gespräch mit seiner Tochter Mei und deren Anhängsel Chufu Lederer stattgefunden hatte, war Zenweih noch guter Hoffnung gewesen, dass seine langjährige Beziehung zu den vier Geldhäusern weiterhin spielte, sie ihm geschäftlich immer noch sehr viel zutrauten und ihm darum den verlangten Kredit letzten Endes, wenn auch zähneknirschend, einräumen würden. Deshalb antwortete er an diesem Abend großspurig: »Banken wollen Geld verdienen. Und ich verdiene mit meinem Unternehmen nun schon seit fünfunddreißig Jahren mehr als genug. Ich konnte stets alle verlangten Zinsen und Tilgungsraten termingerecht leisten. Nur das zählt bei den Banken und sie werden mich deshalb nicht hängenlassen.«
In China lautete ein Sprichwort: »Arrogante Soldaten werden sicher verlieren.«
Die Deutschen sagten sinngemäß: »Hochmut kommt vor dem Fall.«
Doch Stolz war nun einmal eine äußerst starke Triebfeder für sehr viele Menschen. Richtig eingesetzt konnte Stolz beinahe Berge versetzen. Und gerade Zenweih Ling hatte in seinem Leben schon viele Male bewiesen, dass er zu kämpfen verstand.
Ja, er wollte erneut allen beweisen, dass er ein Gewinner war und Sieger blieb. Selbst wenn er sich dafür mit dem Teufel einlassen musste.