Читать книгу Die Nähe der Nornen - Kerstin Hornung - Страница 10

2. Die rothaarige Elbin

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Elfrieda hatte den vorderen Gebäudeflügel des Archieristos noch nie gemocht. Der Lärm der Straße war hier überall zu hören. Schmutz und Staub drangen durch jede noch so kleine Ritze. Dies machte die regelmäßige Reinigung der öffentlichen Räume umso notwendiger.

Heute hatte Elfrieda eine ganze Armee von Mädchen damit beauftragt, die Böden zu schrubben und Staub zu wischen. Sie hoffte, dass bei dem Durcheinander, das sich daraus ergab, keiner merken würde, dass sie selbst fehlte. Siebzehn Jahre Dienst im wichtigsten Hause der Kirche – einem Haus, welches das Wohlwollen des Herrn hätte erwecken sollen, nun aber täglich Beweise dafür erbrachte, dass es hinter Gottes Angesicht lag – hatten nicht ausgereicht, um ihre Schritte auch nur ein einziges Mal in die Verliese zu lenken.

Doch heute würde sie es tun. Sie musste es tun, denn ihre bisherigen Versuche, dem rothaarigen Wesen zu Hilfe zu kommen waren gescheitert. Viel zu lang hatte sie gebraucht, um herauszufinden, wer der Elbin regelmäßig das Essen brachte. Dann hatte sie weitere kostbare Zeit darauf verschwendet, mit dem taubstummen Mann Kontakt aufzunehmen und ihn in ihren Plan einzubeziehen. Schließlich musste sie sich eingestehen, dass er nicht nur taubstumm, sondern auch einfältig war. Es selbst zu versuchen, war ihre letzte Möglichkeit, und sie hoffte inständig, dass sie nicht zu spät kam, denn die Elbin befand sich seit mehreren Wochen dort unten.

Die Kerker lagen in dem u-förmig angeordneten Gebäudekomplex auf der geschlossenen Seite. Für den Fall, dass jemand es wagen würde, ihr, der obersten Haushälterin, den Zutritt zu verweigern, hatte sie ein Schreiben verfasst und es mit dem Siegel des Heiligen Vaters versehen.

Der Wachmann, der vor der obersten Tür herumlungerte, ließ sie jedoch ungefragt passieren, als sie, mit Putzeimer und Schrubber bewaffnet, an ihm vorbeirauschte. Er war neu und wusste nicht, dass ihr Aufgabenbereich normalerweise vor dieser Tür endete.

Die Treppen, die nach unten führten, waren verdreckt und zum Teil abgesplittert. Die Luft roch faulig und feucht. Je weiter Elfrieda hinabstieg, umso dichter wurde der Gestank. Das Atmen fiel ihr schwer. Zwischen den beiden Türen, die die Welt dort oben von der darunter trennten, hallte jeder ihrer Schritte. Ihr Herz schlug heftig in der Brust, aber weniger aus Angst davor aufzufliegen, als davor, was sie hinter der nächsten Tür erwarten würde.

Unter welch unwürdigen Bedingungen fristeten die Menschen, über die im Namen Gottes gerichtet werden sollte, hier ihre Tage? Elfrieda war der Meinung, dass ein allmächtiger Gott es nicht nötig hatte, durch die Hand eines Menschen zu strafen, und darum Menschen nicht das Recht hatten, dies in seinem Namen zu tun.

Als sie die nächste Tür öffnete, trieb ihr der Gestank die Tränen in die Augen. Die Hand schützend vor Mund und Nase gepresst, sah sie sich in dem dämmerigen Raum um. Sie hatte fest damit gerechnet, auch hier mindestens einem Wachmann zu begegnen, aber der Vorraum war leer. Elfrieda stellte den schweren Eimer in eine Nische und steuerte, dicht an die Wand gedrängt, den hinteren Teil der Verliese an, wo sie die Elbin vermutete. Hin und wieder hing eine Öllampe an der Wand. Ihr eigener langer Schatten verfolgte sie aus dem einen Lichtkreis in den nächsten. Es war gespenstig still. Darum erschreckte sie der erste Laut, der hinter einer der schweren Eisentüren erschallte, so sehr, dass sie sich mit einem leisen Aufschrei in eine Nische drängte. Erst als sich ihr Herzschlag etwas beruhigt hatte und das Rauschen des Blutes in ihren Ohren leiser wurde, erkannte sie, dass jemand sang. Die Stimme war rau, eine Melodie war kaum zu erkennen, und das Geräusch von schleifenden Eisenketten mischte sich immer wieder dazwischen.

Nachdem Elfrieda sich nach allen Seiten umgesehen hatte und immer noch keine Bewegung in dem Gang wahrnehmen konnte, schlich sie weiter. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, aufrecht und mutig zu sein. Das Schreiben, das ihren Aufenthalt hier unten rechtfertigen sollte, steckte schließlich in der Tasche ihres derben Rockes. Sie hoffte, dass niemand merken würde, dass es sich um eine Fälschung handelte. Zumindest nicht, solange sie hier unten war.

Natürlich würde es keinem auffallen, beruhigte sie sich selbst. Niemand wusste, dass sie des Schreibens mächtig war. Sie war schließlich eine Frau, und obwohl sie über eine kleine Armee von Dienstmägden gebot, war sie doch nur eine Hausbedienstete. Außerdem zweifelte sie daran, dass auch nur einer der Wachen mehr als das Siegel des Archiepiskopos erkennen würde.

Der Plan war gut, aber sie hatte nicht mit der bedrückenden Macht dieser Gewölbe gerechnet. Nicht mit diesem Gestank.

Obwohl ihr Herz immer noch heftig flatterte, zwang sie sich dazu, mit straffen Schultern und entschlossenen Schritten weiterzugehen. Es war ausgeschlossen, dass sich kein Wachposten hier aufhielt. Andererseits war sie jetzt schon so weit in den Kerker vorgedrungen und niemandem begegnet, dass sie der Verdacht beschlich, jemand müsste die Wachen weggeschickt haben. Der Gedanke war noch nicht zu Ende gedacht, da war sie sich sicher, dass es nur so sein konnte.

Wer hatte die Macht, die Wachen wegzuschicken? Der Archiepiskopos selbst. Aber der Archiepiskopos würde diesen Keller niemals betreten. Abgesehen davon, dass es hier erbärmlich roch und zudem feucht und dreckig war, hätte er mindestens hundert Schritte von seinem Audienzsaal bis hierher gehen müssen. Dann die schmalen Stufen hinunter – es war vollkommen abwegig. Wäre er hier, hätte sie keinen Schritt auch nur in die Nähe der Tür tun können. Wer … Elfrieda blieb wie angewurzelt stehen, denn plötzlich wusste sie, wer sich in den Verliesen aufhielt. Wenn er es war, dann war er genau dort, wo sie hinwollte.

Flucht, nur weg von diesem Ort, war ihr erster Gedanke, doch gleichzeitig zog sich ihr Magen schmerzhaft zusammen. Sie konnte nicht gehen und die Elbin dem Zauberer überlassen. Hastig raffte sie ihre Röcke und eilte den Gang hinunter.

***

Feodor saß vor dem Feuer und starrte in die Glut. Kein Gedanke passte mehr in seinen Kopf, er fühlte sich müde, ausgebrannt und einsam.

Einsam! Obwohl er den ganzen Tag seine Kinder um sich hatte und von überall freundlichen Zuspruch erhielt. Doch nach wie vor wusste niemand, wo sich Phine befand, und nach wie vor war Lume’tai nicht bereit, sich von jemand anderem halten und trösten zu lassen als von ihm oder einem seiner Söhne. Sie hielt ihn gefangen hier an diesem fremden Ort. Sie verhinderte, dass er sich mit seinen immer noch wunden Knochen auf die Suche nach seiner Frau machen konnte.

Manchmal war er zornig auf Lume’tai. Sie war hier zu Hause unter ihresgleichen, aber alles, was sie wollte, war die Nähe derer, die ihr vertraut waren. Von dem zufriedenen Kind, das er kannte, war nichts mehr da. Es war genauso verschwunden wie seine Zuversicht, genauso verschwunden wie Phine …

Oft hielt er die Kleine im Arm und erklärte ihr, was unerklärlich war. Er bat sie, ihn freizugeben, damit er Phine suchen konnte, aber Lume’tai sah ihn mit ihren großen, blauen Kinderaugen an und kuschelte dann ihr Köpfchen trostsuchend an seine Brust.

Die Elben näherten sich nur scheu und ehrerbietend, wenn er so mit ihr dasaß. Offensichtlich hatte sie Großes geleistet. Aber es überstieg Feodors Auffassungsgabe, zu verstehen, von was die Rede war, wenn sie sagten, sie hätte den Lichtkreis geschlossen und Machtworte gespiegelt. Möglicherweise würde Ala’na es ihm erklären. Aber sie war noch so geschwächt, dass sie nur für ihren engsten Familienkreis zu sprechen war. Manchmal sah Feodor Rond’taro auf den Pfaden von Pal’dor.

Obwohl er immer freundlich war und sich stets nach seinem Befinden erkundigte, wirkte er irgendwie abwesend.

Solange Feodor noch in Iri’tes Obhut gelegen war, hatte er ab und an über Ala’nas Gesundheitszustand Auskunft erhalten. Nicht viel und nur das, was ihn unmittelbar betraf, aber es vermittelte ihm zumindest einen kleinen Eindruck davon, wie sehr sich die Elbin angestrengt haben musste, um Josephine zu finden. Es zeigte ihm aber auch, was seine Frau und Lume’tai geleistet hatten, um ihr den Weg zurück in ihren Körper zu ermöglichen.

Feodor schüttelte den Kopf. Das alles war so fern von seinem Leben, es war so unglaublich und unverständlich wie das Buch, das Josua neulich in der Hand hatte, mit den Bildern unbekannter Tiere und voll mit Runen, die er nicht entziffern konnte.

Er fühlte sich ausgesetzt in dieser fremden Welt, deren Regeln er nicht kannte.

Immerhin blühten seine Söhne langsam auf. Josua war der Erste gewesen, der sich neugierig in diese neue Welt stürzte. Jaris und Jaden hatten die Vorteile auch schnell herausgefunden und ließen sich wie streunende Katzen an allen möglichen Stellen verwöhnen. Schließlich waren ihnen die beiden Großen gefolgt, wobei sich Johann am schwersten tat. Aber auch ihn brachte seine kindliche Neugier weiter, als Feodor zu gehen vermochte.

Nach seiner ersten Erleichterung, alle in Sicherheit zu wissen, wurde ihm immer beklemmender bewusst, dass er an einem Ort war, an den er nicht gehörte. Zwar war er keine vier Stunden Fußmarsch von seiner Heimatstadt entfernt, aber er hätte genauso gut auf einem anderen Stern sein können. Und das alles ohne Phine.

Zum ersten Mal in seinem Leben fragte sich Feodor, worauf er sich eingelassen hatte.

Als die alte Helena ihnen damals vor fast siebzehn Jahren eröffnete, dass ihr Vater ein Elbe aus Mu … Ma … – der Name dieser Elbenstadt fiel ihm nicht mehr ein – war, hatte er das stillschweigend aufgenommen und zu seiner Liebe hinzugezählt wie ein Muttermal an einer geheimnisvollen Stelle.

Er spürte heute noch einen Hauch von dem schlechten Gewissen, das er verspürt hatte, als er Josephine mit sich nahm, obwohl sie nicht seine angetraute Frau gewesen war. Die Notwendigkeit, dies zu tun, stand damals vor dem Anstand, und da seine Absichten ehrenhaft waren, hatte er sie und das Kind ihrer Schwester, keusch – und darauf legte er großen Wert – bis ins Kloster Wilhelmus gebracht, wo der Abt erst die Trauung und dann die Weihe des Kindes übernommen hatte.

Philip war ihm so schnell ans Herz gewachsen wie später jedes seiner leiblichen Kinder, und manchmal vergaß Feodor, dass dieses Kind nicht sein eigen Fleisch und Blut war. Wo war Philip? Wie ging es ihm? Mit Phine war auch der lose Kontakt zu seinem Ältesten abgerissen. Irgendwie ahnte sie meistens, ob es ihm gut oder schlecht ging und sie wusste, ob er lebte. Erst seit Philip nicht mehr da war, spürte Feodor den Druck der Verantwortung, die er damals leichtherzig übernommen hatte und die ihn nie belastet hatte, solange der Junge in seinem Haus lebte, wuchs und gedieh und sich zusehends zu einem verantwortungsbewussten Menschen entwickelte. Als Philip das Erwachsenenalter erreichte, hatte Feodor Phine einmal gefragt, ob es nicht an der Zeit wäre, ihm die Wahrheit zu sagen. Aber Phine war der Meinung gewesen, dass es besser wäre, noch ein Jahr zu warten und ihn solange in dem Glauben zu lassen, dass er das Mannesalter noch nicht erreicht hatte. Doch der Tag der Aussprache war nie gekommen, und es reute Feodor mehr als alles andere, dass ein Fremder Philip die Wahrheit seiner Herkunft erklären würde.

Traurig dachte er daran, dass nichts so gekommen war, wie es hätte kommen sollen. Die Zufriedenheit, die ihm früher innewohnte, wenn er den Jungen ansah, war durch Zweifel und Ängste erstickt worden. In letzter Zeit dachte er oft daran, dass Philip ein Sohn von Königen war. Manchmal dachte er es mit Stolz, doch meistens mit Kummer und Schmerz. Die Mitglieder des geheimen Schlüssels hatten schon Philips Vater auf den Thron vorbereitet und Feodor zweifelte nicht, dass sie es auch mit Philip versuchen würden. Das Land brauchte einen neuen König! Aber warum ausgerechnet seinen Sohn?

Lume’tai rekelte sich, schlug die Augen auf, und als sie ihn nicht sofort bemerkte, begann sie zu schreien.

»Ich lass dich nicht allein, kleiner Engel«, flüsterte Feodor und hob sie sacht aus ihrem weißen Bettchen. Er setzte sie auf seinen Schoß und tröstete sie, bis sie sich beruhigt hatte und ihn aus den kleinen Seen, die ihre Augen waren, ernst ansah.

»Phine hat gesagt, du bist unser kleines Mädchen. Am Anfang und am Ende halte ich ein Kind in den Armen, von dem ich weiß, dass es nicht meins ist, aber mein Herz ist blind, es erkennt keinen Unterschied zwischen dir und meinen Söhnen.« Er seufzte. Er wusste, dass er nicht an Phine denken durfte, solange Lume’tai wach war, darum stand er auf und ging langsam unter den Bäumen spazieren. Immer noch schmerzten seine Glieder und er fühlte sich wie ein alter Mann.

***

Vor der nächsten Ecke blieb Elfrieda wie angewurzelt stehen. Die Luft war zum Schneiden dick. Sie flimmerte und knisterte vor Spannung. Elfrieda konnte nichts Genaues erkennen. Der neue Gang war beinahe noch düsterer als der, in dem sie stand. Sie lauschte. Selbst wenn es stimmte, dass Menschen gegen die Macht eines Zauberers gefeit waren, so war er immer noch ein Mann und ihr körperlich überlegen. Möglicherweise war er bewaffnet. Außerdem galt sein Wort mehr als ihres. Sie konnte nur verlieren. Trotzdem war es zu spät, um umzukehren. Vorsichtig lugte sie um die Ecke. Funken sprühten und in ihrem verglimmenden Licht stand eine verhüllte Gestalt. Elfrieda spürte, wie sich die Härchen an ihren Armen sträubten und ihr ein kalter Schauer den Rücken hinunterlief. Die Gestalt stand genau an der Stelle, an der die Zelle der Elbin sein musste. Sie kam zu spät.

Zitternd lehnte sie sich an die staubige Wand und schloss verzweifelt die Augen. Die schlurfenden Schritte hörte sie erst, als sie schon ganz nah waren. Erschrocken stieß sie sich von der Wand ab und huschte den Gang zurück. Wo war die letzte Nische gewesen? Ihr Herz jagte wild und drohte, ihr aus der Brust zu springen. Ihre Augen suchten die kahlen Wände nach einem Versteck ab und in ihren Ohren dröhnten die nahenden Schritte wie Trommelschläge. Bald würde er um die Ecke biegen und sie sehen. Sie fühlte sich wie eine Maus, die auf freiem Feld ein Versteck vor dem wachsamen Auge der Eule sucht. Ein Blick über die Schulter sagte ihr, dass er sie noch nicht entdeckt hatte, doch da verfingen sich ihre Füße in einem der Unterröcke. Sie stolperte, konnte jedoch gerade noch verhindern, der Länge nach hinzufallen, indem sie sich an dem Riegel einer Zellentür festhielt. Fast lautlos glitt er zurück. Die Tür öffnete sich mit einem leisen Stöhnen. Egal was hinter dieser Tür war, es konnte nicht schlimmer sein, als das, was jeden Moment um die Ecke biegen musste. Sie zog sie noch etwas weiter auf, quetschte sich hindurch und blieb regungslos stehen. Sie wusste, dass sie die Tür noch mindestens hinter sich hätte zuziehen müssen, aber irgendetwas sagte ihr, dass die verhüllte Gestalt bereits um die Ecke gebogen war und die Bewegung der Tür bemerken würde.

In der Zelle war es dunkel wie in einer Gruft. Elfrieda schob sich vorsichtig noch etwas tiefer in den Schatten und hoffte, dass sie über nichts stolperte, was sie verraten würde. Sie musste ihre Zähne zusammenbeißen, damit sie nicht laut klapperten, so sehr zitterte sie. Zweimal hörte sie noch das Klackern der Absätze auf dem rauen Steinboden, dann war es still. Elfrieda hielt den Atem an. Etwas raschelte, dann gab es einen Donnerschlag und sie stand in vollkommener Finsternis. Der graue Schatten im Türspalt war verschwunden.

Er hat mich eingesperrt, dachte sie seltsam ruhig.

Irgendwo in ihrem Kopf rebellierten ein paar verirrte Gedanken, aber sie griffen nicht über. Vollkommen von sich gelöst, sank sie zu Boden. Ihr Herz schlug ruhig und gleichmäßig, ihre Hände lagen schwer auf dem feuchten Boden.

Eingesperrt.

Sie konnte nicht sagen, wie lange sie regungslos dagesessen hatte, ehe die Starre langsam von ihr abfiel. Ob schon Abend war? Ihr Gesäß fühlte sich taub an, und die Knie schmerzten, als sie sich aufrichtete. Sie tastete sich an der Wand entlang, bis sie das kalte Eisen der Tür unter ihren Fingern spürte.

Vorsichtig drückte sie dagegen, dann mit ihrem ganzen Körper, aber die Tür bewegte sich nicht. Noch nie in ihrem Leben hatte sich Elfrieda so sehr nach einem Funken Licht gesehnt. Das Gefühl, nicht atmen zu können, wurde übermächtig. Nur mit äußerster Willenskraft gelang es ihr, einen wütenden Schrei zu unterdrücken. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben und zu überlegen.

Ruhig bleiben, überlegen, ruhig bleiben, überlegen … Ihr sonst so reger Verstand war unfähig, auch nur den kleinsten vernünftigen Gedanken zu formen. Sie stand vor der Tür, den Kopf an die kalten Eisenbeschläge gelehnt. Die Zeit rauschte vorbei oder stand still. Es war bedeutungslos. Niemand wusste, dass sie hier unten war. Wenn sie still ausharrte, würde sie hier sterben. Wenn sie sich bemerkbar machte, lief es auf das Gleiche hinaus. Als sich die erste Verzweiflung gelegt hatte, fiel ihr ein, dass die Tür nur einen Riegel gehabt hatte, kein Schloss.

Einen Riegel, kein Schloss. Sie schaukelte diesen Gedanken eine Weile. Ohne zu einem weiteren Ergebnis zu kommen, steckte sie die Hände in die Taschen ihres Rockes, um zumindest ihre kalten Finger aufzuwärmen.

Das Pergament war noch drin – und noch etwas anderes. Etwas Kleines, Hartes. Elfrieda betastete es, dann kam langsam die Erinnerung zurück. In ihrer Naivität hatte sie ein kleines Messer eingesteckt, mit dem sie die Stricke der Elbin hatte zerschneiden wollen, falls diese gefesselt war. Jetzt schüttelte Elfrieda nur den Kopf wegen ihrer Dummheit. Wenn hier unten jemand gefesselt war, dann doch bestimmt mit Ketten.

Trotzdem fühlte sich das Messer irgendwie beruhigend an. Sie holte es heraus und begann, es in jede Ritze der Tür zu schieben, die sie finden konnte. Schließlich höre sie Metall auf Metall kratzen. Sie hatte den Riegel gefunden.

Energisch drückte sie das Messer gegen den Riegel und versuchte, ihn soweit zur Seite zu schieben, wie die enge Ritze es erlaubte. Sie wusste nicht, ob sie Erfolg gehabt hatte, aber sie zog das Messer ein Stück zurück, setzte es erneut an und schob wieder.

Ihre anfängliche Freude legte sich schnell und wich sturer Beharrlichkeit. Es war Elfriedas einzige Hoffnung, und sie war nicht bereit, sie aufzugeben, solange sie noch Kraft in den Fingern hatte. Nach einiger Zeit merkte sie, dass sie vor Anstrengung schwitzte. Immer wieder wischte sie die Hände an ihrem Rock trocken.

Ihre Beharrlichkeit wurde zu Zorn, der mit der zunehmenden Taubheit ihrer Finger wuchs. Elfriedas Hand rutschte ab und sie stieß den Finger schmerzhaft gegen die schartige Tür. Ein leiser Fluch entrang sich ihrer Kehle, und dann sprang ihr – als hätte Gott selbst ihren Fluch gehört – das Messer aus der Hand. Klirrend fiel es zu Boden.

Der Grat zwischen Zorn und Verzweiflung war schmal. Tränen liefen über Elfriedas Wangen, während sie auf allen vieren den schlüpfrigen Boden nach dem Messer abtastete. Als sie es endlich fand, wusste sie, dass die Mächte sich gegen sie verschworen hatten. Der Schmerz biss sie wie ein hinterhältiges Tier, und als sie ihre Finger reflexartig zum Mund führte, schmeckte sie unter all dem Schmutz ihr Blut.

Elfrieda legte sich das Messer auf den Schoß und wickelte ihren Finger fest in einen ihrer Unterröcke ein. Während sie still da saß und darauf wartete, dass das Pochen nachließ, dachte sie an die treibenden Wolken über den Hügeln ihrer Kindheit. Würde sie sie je wiedersehen? So viele Jahre waren vergangen, so viele Wolken waren vorbeigezogen. Sie erinnerte sich an die vielen Tage, in denen der Himmel immer bedeckt gewesen war. Einheitlich grau und schwer wie Blei lag eine Wolkenschicht am Himmel, als ob sich die Welt mit ihr zugedeckt hätte und darunter trieben dunklere und hellere, größere und kleinere Wolkenfetzen im Wind. Regen, mal dick und nass, dann wieder so fein, dass er für das Auge kaum sichtbar war, rieselte aus diesen Wolken und weichte die Wiesen und Felder auf. Wenn dann aber nach Tagen ein Riss in der Wolkendecke entstand und der blaue Himmel oder gar die Sonne dahinter zum Vorschein kamen, legte sich ein Zauber über die Welt, der mit Worten kaum zu beschreiben war.

Elfrieda prüfte ihren Finger mit den Lippen und befand, dass er wieder einsatzfähig war. Tastend bewegte sie sich auf die Tür zu, zurück zu der Stelle, an der sie den Riegel vermutete.

Mit zitternden Fingern setzte sie das Messer in die Ritze, presste es fest gegen das Metall und schob, zog es zurück, setzte es an und schob. Noch einmal, und als sie es erneut gegen die Tür drückte, öffnete sie sich einen Spalt breit. Das dämmerige Licht der Lampen auf dem Gang war für Elfrieda wie das Wolkenloch ihrer Kindheit. Es erfüllte sie mit Glück und Erleichterung, mit Hoffnung und Leben. Es kam ihr vor, als hätte sie noch nie etwas Schöneres gesehen als dieses Licht.

Blinzelnd steckte sie den Kopf durch den engen Spalt. Der Gang war leer. Elfrieda lauschte, konnte aber nichts hören. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor die Tür. Der Drang nach Freiheit war stark, aber sie hatte nicht vergessen, wer in den Gängen der Verliese umherschlich. Als sie draußen stand, war ihr erster Gedanke, diesen Ort so schnell wie möglich zu verlassen. Doch dann fiel ihr die Elbin wieder ein.

Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit sie zum ersten Mal um diese Ecke gelugt hatte. Es konnte ein Augenblick oder eine Ewigkeit her sein. Die Dunkelheit der Zelle hatte sie jeden Zeitgefühls beraubt. Sie fühlte sich zum Umfallen müde. Es war früher Nachmittag gewesen, als sie hier herunterkam. Möglicherweise war es jetzt nach Mitternacht. In den Gängen war es still.

Jetzt war nicht die Zeit, um über ihre körperlichen Befindlichkeiten nachzudenken. Sie musste handeln.

An die Wand gepresst, lief sie den Gang entlang. Niemand durfte sie jetzt entdecken. Ihre Kleidung hatte in der Zelle sehr gelitten. Sie war zerknautscht und verdreckt. Den selbst geschriebenen Auftrag würde ihr kein sehender Mensch mehr abnehmen. Sie atmete schwer.

Der Gang war länger, als er aussah. Sie fühlte sich, als ob sie mindestens eine halbe Meile gelaufen wäre, aber ihrem Ziel war sie nicht viel nähergekommen. Der Raum wirkte verzerrt. Unwirklich. An der dunkelsten Stelle lehnte sie sich an die Wand, um zu verschnaufen. In ihrem Bauch prickelte es unangenehm, und als sie einen Blick zurückwarf, sträubten sich ihre Nackenhaare. Sie hatte sich keine zehn Schritte von der Ecke entfernt.

Ihre wachsende Angst drohte, in Panik umzuschlagen. Mit geballten Fäusten atmete sie noch dreimal bewusst ein und aus, dann stieß sie sich ab und lief weiter. Sie achtete nicht mehr darauf, sich versteckt zu halten, denn sie hatte keine Kraft mehr, um sie für Heimlichkeiten zu verschwenden. Wenn sie erwischt wurde, und davon ging sie aus, wollte sie vorher zumindest noch die Zelle der Elbin erreichen. Sie wollte … wollte …

Obwohl es keine Hoffnung gab, war es doch ihre Pflicht als Mitglied des geheimen Schlüssels, diesem schönen, rothaarigen Wesen mitzuteilen, dass es noch Menschlichkeit gab und dass nicht alles Wissen verloren war. Aber vor allen Dingen wollte sie vor ihrem Tod, eine aus dem Alten Volk sehen. Sie wollte einmal in ihrem Leben Elben sehen.

Seit dem Tag in der Kammer des Priesters, als sie das vollkommene Buch mit den perlmuttfarbenen Seiten in der Hand gehalten hatte, brannte diese Sehnsucht in ihr. Der Priester hatte ihr Begehren geschürt und sie war eine willige Schülerin gewesen. Als sie ihr Elternhaus verließ, hatte er alles in die Wege geleitet und ihr Türen geöffnet, von denen sie nicht einmal ahnte, dass es sie gab. Als sein Leben endete, wurde sie an seiner Stelle im Kreis der fünf Weisen des geheimen Schlüssels aufgenommen. Doch es war kein Geschenk. Sein Tod, obwohl friedlich und zur rechten Zeit, hatte ihr mehr Kummer bereitet, als der ihres Vaters nur wenige Jahre später.

Elfrieda stolperte und wäre beinahe gestürzt, so plötzlich endete die Raumzerrung. Einen Moment war es, als wäre sie aus einem Traum erwacht, und sie hatte Mühe, sich zu orientieren.

»Kommst du zu mir?«, fragte eine leise, melodische Stimme, die sie unter Hunderten erkannt hätte, obwohl sie noch nie zu ihr gesprochen hatte.

»Ja«, hauchte sie atemlos. »Ich will dir helfen.«

»Ich wusste, dass du es versuchen würdest, aber ich hatte gehofft, du würdest nicht kommen.« Die Stimme klang traurig und Elfrieda konnte nicht sagen, woher sie kam.

»Du wusstest es?«, fragte Elfrieda erstaunt.

»Ich sah dich auf der Straße und in der verborgenen Kammer. Ich sah deine Augen. Die Augen sind die Fenster zu eurer Seele.«

»Wo bist du?«, fragte Elfrieda und drehte sich im Kreis auf der Suche nach einer Tür. Sie fand aber keine.

»Ich bin gleich hier, aber du wirst mich nicht finden. Niemand wird mich finden, dafür hat er gesorgt.«

»Aber es muss einen Weg geben!«, rief Elfrieda aufgebracht. Es gab immer einen Weg und eine Tür. Sie war bloß verborgen, aber sie war noch da. Suchend tasteten ihre Hände die Wände ab.

»Bring dich in Sicherheit«, flüsterte die Stimme.

»Nein!«, widersprach Elfrieda. »Es gibt keine Sicherheit. Ich werde das ganze Gebäude einreißen, wenn es nötig ist.«

Die Elbin lachte. Wie ein Glöckchen, silberhell, klang ihr Lachen.

»Ihr Menschen seit wie ein Regenbogen, ihr schillert in allen Farben.«

Elfrieda verstand nicht, was es in dieser Situation zu lachen gab. Sie kämpfte mit der schier übermächtigen Müdigkeit, mit der Verzweiflung und der Tatenlosigkeit zu der sie verdammt war.

»Wie heißt du, Menschenkind?«

»Elfrieda«, murmelte sie.

»Ich danke dir, Elfrieda, dass du mich nicht vergessen hast.« Die Stimme klang wieder ernst. »Aber nun musst du gehen. Ich habe einen Auftrag für dich. Mein Bruder wird nach mir suchen. Bring ihm die Nachricht von mir. Sag ihm …« Sie stockte. »Sag ihm …« Ihre Stimme zitterte. »Ich werde meinen letzten Weg antreten, denn das Los, das mir hier auf Erden beschieden ist, bin ich nicht bereit, zu ertragen. Sag ihm, es tut mir leid. Ich war überheblich. Ich dachte, ich wäre der Macht eines Zauberers gewachsen, doch ich rechnete nicht damit, dass er andere Pläne mit mir hat …« Sie schwieg, aber ihre Verzweiflung und Angst waren beinahe gegenständlich.

Elfrieda liefen Tränen über die Wangen, obwohl sie nicht genau verstand, was die Elbin mit andere Pläne meinte.

»Ich werde in der Stadt jemanden finden, der dir hilft.«

Wieder lachte die Elbin, aber diesmal klang es unendlich traurig. »Ich werde nicht mehr leben, wenn du wiederkommst.«

»Aber«, protestierte Elfrieda, »das geht nicht. Deine Zeit ist noch nicht gekommen!«

»Doch, Elfrieda! Bald wird ein mächtigerer Zauberer, als der da oben, in die Stadt kommen. Meinetwegen. Weil dieser hier mich nicht überwältigen konnte, weil ich noch lebe, will er mich nun seinem Meister zum Geschenk machen. Aber ich werde nicht die Braut eines Zauberers.« Ihre Stimme brach. Sie schluchzte leise. Es war das furchtbarste Geräusch, das Elfrieda jemals gehört hatte. Es brach ihr das Herz, die Elbin weinen zu hören.

»Ich werde Menschen finden, die dir helfen. Tu nichts Voreiliges. Noch ist der Zauberer nicht in der Stadt. Ich spreche mit dem Archiepiskopos. Er wird verhindern, dass ein Zauberer hierherkommt. Das ist eine Stadt der Kirche, und die Kirche duldet keine Zauberer.«

»Hinter seinen Fenstern brennt kein Licht. Seine Gier nach Macht vernebelt seinen wachen Verstand. Er wähnt sich kurz vor dem Ziel und wird alles tun, um es zu erreichen. Leichen säumen seinen Pfad. Warne die Menschen, die sich dem verschollenen König anschließen wollen, vor dem Archiepiskopos. Das Wohl vieler lastet auf deinen Schultern. Geh, Elfrieda, und erfülle deine Aufgaben.«

»Aber meine Aufgabe ist hier«, protestierte Elfrieda. »Noch ist nicht Zeit für dich, zu gehen«, stieß sie mit der tiefsten Inbrunst ihrer Überzeugung aus. »Du musst leben. Bitte! Lebe!«

»Weißt du denn nicht, welches Leid mein Leben der Welt bescheren kann? Halte mich nicht zurück. Lass mich gehen … Varsa’ra. Die Welt, so wie sie heute ist, wird es sonst nicht mehr geben. Das Dunkel wird kommen. Zauberer werden die Welt regieren.«

Irgendwelche alten Geschichten tobten in Elfriedas Kopf. Welche waren wahr, welche Legenden? Und warum nannte die Elbin sie Varsa’ra? War das nicht eine der Nornen?

»Ich verspreche dir, dass ich zu verhindern versuche, dass der Zauberer hierherkommt. Aber versprich du mir, dass du lebst, solange er nicht hier ist.«

»Das sind viele Versprechen für einen Tag, der gerade erst heraufzieht. Doch ich beuge mich dem Willen einer Norne und verspreche dir, geduldig zu sein. Aber wenn deine weltlichen Mittel versagt haben, Varsa’ra, und meine Reise beginnt, werde ich deinen Beistand brauchen.«

»Wie heißt du?«, fragte Elfrieda scheu.

»Almira’da.«

»Almira’da«, wiederholte Elfrieda. »Ich werde dich niemals vergessen.«

***

Ala’na saß in einem hohen Stuhl aus gewunden Ästen. Sie hielt die Augen geschlossen, aber sie hob ihren Kopf, als Feodor den Raum betrat. Unschlüssig blieb er hinter der Tür stehen. Sie sah aus wie eine Königin, und als solche hätte er vor ihr niederknien und seine Stirn bis auf den matt glänzenden Holzboden senken müssen. Es nicht zu tun, kam ihm unnatürlich oder zumindest frevelhaft vor. Sie lächelte.

»Sei gegrüßt, Feodor, setz dich zu mir.« Sie deutete auf einen zweiten Stuhl, der nicht weniger aufwendig gearbeitet war als ihr eigener.

»Ihr seid zu gütig, Ala’na«, sagte er.

»Du bist ein Mensch«, stellte sie fest. »Ich bin eine Elbin. Es besteht kein Grund, förmlich zu sein. Ich stehe in deiner Schuld, meine Unachtsamkeit hat dich in eine gefährliche Situation gebracht. Setz dich zu mir und nimm meine Entschuldigung an.« Sie streckte ihm ihre Hand entgegen, und er ging immer noch zögernd zu dem Stuhl, den sie ihm zugewiesen hatte.

»Es besteht kein Anlass, sich zu entschuldigen. Gerne hätte ich noch mehr ertragen, wenn Ihr … wenn du nur meine Frau gefunden hättest.«

Ein Schleier der Trauer legte sich über Ala’nas feine Züge und Feodor bereute seine Worte.

»Es sind immer noch Elben auf der Suche nach ihr. Selbst wenn es hundert Jahre dauert, wir werden sie finden.«

Feodor senkte den Kopf und erwiderte nichts. Hundert Jahre waren zu lang für ihn. Zu lang für Josephine.

Ala’na lächelte ihn scheu an. »Sie hat mehr für mich getan, als ich jemals zu hoffen gewagt hätte, und sie hat es getan, obwohl sie wusste, dass es gefährlich ist. Das macht sie zu meiner Schwester. Wir Elben sind sehr vorsichtig, wenn wir Verbindungen eingehen, denn sie überdauern die Ewigkeit.«

Auch darauf wusste Feodor nichts zu antworten. Er fühlte sich wie ein Trottel, denn so sehr er auch nach frommen Worten suchte, ihm vielen keine ein.

Zum Glück raschelte Lume’tai in ihrem Wägelchen und lenkte ihn kurz ab. Sie schlief und nuckelte an ihrem Daumen. Als er wieder zu Ala’na sah, lächelte sie verklärt.

»Du hast sie mitgebracht. Ich danke dir.«

»Ich kann nirgendwohin gehen ohne sie. Sie leidet. Sie ist noch so klein.«

»Sie hat heute schon mehr Kraft als viele hier in Pal’dor. Deutlich mehr als ihre Mutter. Generationen von Elben werden sie verehren.«

»Sie tun es jetzt schon«, brummte Feodor. »Aber es ist nicht gut für sie, sie lehnt es ab«, fügte er hinzu, ohne auf Ala’nas hochgezogene Augenbraue zu achten. »Sie ist ein Kind und will auch so behandelt werden. Was sie braucht, ist Schutz und Liebe. Erwartungen und Ehrerbietung machen ihr Angst.« Er war sich plötzlich ganz sicher, dass dies Lume’tais Problem war. »Sie ist ein Kind«, wiederholte er.

»Möglicherweise hast du recht. Wir sind ein altes Volk, in unserem Leben währt die Kindheit nur einen Augenblick, und Kinder haben wir nicht viele. Jedes für sich ist etwas Besonderes, aber Lume’tai ist noch mehr als das. Sie hat den See Waldo’ria geöffnet – im Schlaf! Und auf der Warte hat sie meine Worte der Macht gebündelt und den Lichtkreis geschlossen. Weißt du, was das bedeutet, Feodor?«

Feodor schüttelte den Kopf.

»Pal’dor war eingeschlossen. Der Zauberer hatte seine Macht unter den Bäumen verteilt und uns in dieser Stadt eingesperrt. Als ich meine Kraft gegen seine richtete, um Josephine zu suchen, bin ich ein allzu großes Risiko eingegangen. Möglicherweise hätte er die Stadt danach finden können, aber Lume’tai bündelte meine Worte und schloss den Kreis. Dadurch ist nicht nur Pal’dor frei, der ganze Wald bis zu Warte ist der Radius eines Kreises. Kein Zauberer kann in diesen Kreis eindringen. Es ist der stärkste Schutz, der jemals bestand.« Ala’na lächelte. »Lume’tai ist das mächtigste Wesen, das seit Nuri’ja der Seefahrerin geboren wurde, und sie hat sich dafür entschieden, ihre Liebe den Menschen zu schenken.«

»Nun, ganz so ist es nicht, denn ich bin der einzige Mensch in meiner Familie. All die Jahre war mir das nicht wirklich klar. Der elbische Urahne meiner Frau hatte keine Bedeutung für mich. Erst seit ich die Kinder in diesen Wald führen musste, spüre ich es …« Seine Stimme brach und er schämte sich dafür.

Ala’na lächelte milde. »Armer Feodor«, flüsterte sie. »Du bist einsam.«

Ihre Worte waren Trost in seinen Ohren.

»Aber bedenke, Feodor, in welch außergewöhnlicher Situation du dich befindest. Nate’re schenkte dir fünf Kinder. Kein Mensch hat jemals so viel Liebe erfahren.«

Feodor kämpfte mit dem Kloß in seinem Hals. »Sieben«, murmelte er. »Sie sagte: Jedes Kind, das in unserem Haus aufwächst, ist unser Kind. Aber jetzt ist sie nicht hier. Ich fürchte um sie aber auch um meinen ältesten Sohn, Philip.« Es kam Feodor vor, als ob ein Damm gebrochen wäre und er erzählte Ala’na alles. Er erzählte, wie er vor siebzehn Jahren unverhofft Philips Vater geworden war. Er erzählte von den Jahren danach, bis zu dem Tag, an dem Philip in den Wald aufbrach. Ala’na lauschte und stellte ab und zu eine Frage. Als Feodor erschöpft endete, fühlte er sich von einer schweren Last befreit.

Ala’na nickte langsam. »Die Fäden des Schicksals laufen an einem Punkt zusammen. Große Veränderungen liegen in der Luft. Die Dinge fügen sich ineinander und ergeben langsam einen Sinn. Leider gibt es nicht viel, was ich sagen kann, um dich zu beruhigen, Feodor. Ich war zu lange krank und noch nicht in der Lage, eine Verbindung zu den anderen Elbenstädten aufzunehmen. Von meinem Sohn Alrand’do habe ich allerdings erfahren, dass Leron’das, der aufgebrochen war, um einen rechtmäßigen Thronerben zu suchen, inzwischen denjenigen, den er suchte, gefunden hat. Bis heute jedoch ahnte ich nicht, dass es dein Sohn ist.« Sie lächelte aufmunternd.

Feodor konnte nicht umhin, den Kopf stöhnend in seine Hände zu pressen. Leron’das hatte damals in Waldoria nicht gesagt, mit welchem Auftrag er zu den Menschen geschickt worden war. Weder Feodor noch Josephine waren auf den Gedanken gekommen, dass es wichtig sein könnte, ihm von Philips Herkunft zu erzählen. Sie waren nicht auf den Gedanken gekommen, weil es nicht wichtig war. Damals ging es nur um ihren verlorenen Sohn, und um den ging es Feodor heute immer noch.

»Wenn du etwas über Philip erfahren könntest … Wenn ich doch nur wüsste, wie es ihm geht.«

Es vergingen mehrere Tage, in denen Feodor nichts von Ala’na hörte. Wäre er nicht immer und überall von dieser stillen, geheimnisvollen Welt umgeben, hätte er glauben können, das Gespräch mit ihr sei seiner Fantasie entsprungen. Wenn er alleine mit geschlossenen Augen in seinem Bett lag und nur den ruhigen Atem seiner Kinder im Schlaf hörte, spürte er immer noch die faszinierende Macht, die von Ala’na ausgegangen war.

Sie verwirrte ihn, trotzdem wünschte er sich, sie wieder zu sehen. In seinem Bauch fühlte es sich an wie eine jugendliche Schwärmerei. Wie das ungeduldige Warten eines verliebten Knaben auf die nächste Begegnung mit dem Mädchen seiner Wahl. Gleichzeitig wusste er, dass dem nicht so war. Natürlich war Ala’na eine bemerkenswerte Frau. Eine sehr schöne Frau. Aber was er sich von ihr erhoffte, war, dass sie ihm über die berichten konnte, die ihm mehr als alles andere auf der Welt fehlten.

Wenn er schlief, kam Phine zu ihm, doch sie war wie Nebel. Sie zerfloss. Zurück blieb nur ihr Gesicht. Doch noch im Erwachen merkte Feodor, dass es Ala’nas Gesicht war. Von Angst und Reue gepeinigt warf er sich den Rest der Nacht in seinem Bett herum. Die Schlaflosigkeit der Nächte machte die Erlebnisse der Tage noch unwirklicher. Schließlich kam er endgültig zu dem Schluss, dass die Welt der Elben nicht seine Welt war. Doch wenn er drauf und dran war, seine Sachen zu packen, um selbst nach Phine zu suchen, sah ihn Lume’tai aus großen blauen Augen an, und er wusste, dass er nicht gehen konnte.

Feodor neigte nicht dazu, sich zu wichtig zu nehmen, aber er spürte, dass sie ihn hier brauchten. Auch wenn seine Kinder in der Stadt sicher waren, durfte er sie nicht im Stich lassen. Phine hätte das nicht gebilligt. Aber sie war irgendwo dort draußen und möglicherweise brauchte sie ihn auch.

Er fühlte sich zerrissen.

Dann kam endlich eine Nachricht von Ala’na. Ein junger Elbe – der mindestens hundert Jahre älter war als Feodor – näherte sich ihm leise und sagte, dass Ala’na sich nun stark genug fühlte, um den See Latar’ria zu befragen. Feodor nahm seine Worte zur Kenntnis, konnte allerdings so wenig damit anfangen, dass ihm nicht einmal eine Frage dazu einfiel. Als er nichts erwiderte, redete der Elbe weiter. »Sie lässt fragen, ob du sie begleiten willst.« Feodor wusste immer noch nicht, worum es ging, aber er begriff, dass es eine große Ehre war, die ihm zuteilwurde.

»Ich werde sie sehr gerne begleiten«, antwortete er.

Der Elbe neigte leicht seinen Kopf und entfernte sich dann ebenso leise, wie er gekommen war.

Feodor war versucht, ihm hinterherzurufen, wann er sie denn begleiten sollte, aber rufen war vollkommen unüblich in dieser Stadt, in der die lautesten Wesen eindeutig seine übermütigen Söhne waren. Also wartete er. Ungeduldig, aufgeregt und bang.

Erst am nächsten Tag kam der Elbe wieder und brachte ihn zu Ala’na.

Sie stand am grasbewachsenen Ufer eines Teiches, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, den ganzen Wald zu spiegeln, und redete leise mit einem Elben, den Feodor im ersten Moment für Rond’taro hielt. Als der sich jedoch zu ihm umdrehte, erkannte er, dass es Alrand’do war.

Feodor hatte ihn nicht mehr gesehen, seit er mit schmerzenden Gliedern in Pal’dor aufgewacht war. Das Wiedersehen versetzte ihm einen Stich, der ihm die Luft nahm und ihn taumeln ließ.

Alrand’do neigte den Kopf und entfernte sich wortlos, aber Ala’na lächelte schöner als die Sonne und streckte Feodor beide Hände entgegen.

Ohne ihn sehen zu können, merkte sie dennoch, dass er Alrand’do nachsah.

»Du kennst meinen Sohn«, sagte sie. »Ich habe ihn gebeten, zu bleiben, aber er fürchtet sich vor Menschen.« Sie lächelte schelmisch.

»Das glaube ich nicht«, erwiderte Feodor, hielt dann aber erschrocken inne. Er wollte Ala’na auf keinen Fall das Gefühl geben, dass er ihren Worten nicht traute.

»Doch«, widersprach sie. »Er hat große Furcht vor den Menschen. Er fürchtet sie, weil sie sein Herz erwärmen. Er fürchtet sie, weil sie ihm Kummer bereiten. Alrand’do hält Menschen für wankelmütig, weil sie so schnell sterben und sein weiches, liebendes Herz damit nicht umgehen kann.«

»Es ist sehr schmerzhaft, jemanden zu verlieren, den man liebt«, erwiderte Feodor leise.

Ala’na legte ihm ihre schmale Hand auf den Arm. Sie tröstete, aber sie linderte nicht den Schmerz. »Ich weiß, Feodor. Darum bist du heute hier.«

»Hast du etwas von Phine erfahren?« Die Hoffnung war schmerzhaft, aber der traurige Schatten auf Ala’nas Gesicht, der sie zunichtemachte, ließ ihn gepeinigt aufstöhnen.

»Nicht von Josephine. Trotzdem glaube ich, dass es dir Freude bereiten wird.«

Feodor schwieg. Sein Herz klopfte bis zum Hals, aber er wagte nicht, Philips Namen auszusprechen, aus Angst, sie könnte Nein sagen.

»Setz dich zu mir ans Ufer. Erschreck nicht. Der See, Latar’ria, wird sich verändern. Sie ist so klar und durchscheinend, aber auch empfindlich wie ein heißblütiges Ross. Nur in ihren tiefsten Tiefen brodelt noch die Dunkelheit.«

Ala’na ließ ihre Augen über den Teich gleiten, als könnte sie ihn sehen. Geschmeidig ließ sie sich sinken und Feodor setzte sich schwerfällig wie ein Ochse neben sie. Mehr denn je spürte er den Unterschied zwischen sich selbst und ihr. Sie breitete ihre Arme aus, der weite Ärmel fiel zurück und entblößte ihre zarten Handgelenke. Feodor sah beschämt weg, direkt auf seine eigenen plumpen Finger.

Ala’na murmelte Worte in der fremden Sprache der Elben, dann entspannte sie sich und griff nach seiner Hand. Feodors Herz setzte einen Schlag lang aus, ehe es lospolterte wie Geschirr, das vom obersten Brett herunterfällt und auf dem Weg zur Erde alles mit sich reißt.

Die erste Veränderung des Sees bemerkte er erst, als sie bereits geschehen war. Einen Moment lang war er so überrascht, dass er nach Luft schnappte. Ala’na drückte beruhigend seine Hand. Die ihre lag leicht wie eine Feder in seiner, und ihm war, als würde er einem Geist durch die luftigen Gefilde des Himmels folgen. Von dem Wald, der sich im See gespiegelt hatte, war nichts mehr zu sehen, stattdessen toste ein Wildbach in einem steinigen Bett schäumend einen steilen Abhang hinunter. Die Gewalt der Natur zog Feodor vollständig in ihren Bann. Als das Gesicht einer Elbin in dem See auftauchte, war er enttäuscht.

»Isi’la, ich grüße dich«, sagte Ala’na.

Trotz der relativ langen Zeit, die Feodor schon in Pal’dor lebte, nahm er immer noch anerkennend wahr, dass sich die Elben in seiner Gegenwart immer in der Sprache der Menschen miteinander unterhielten, um ihn nicht auszuschließen. Trotzdem war er ein Fremder, weil er sich selbst wie einer fühlte.

»Ala’na, es freut mich, dich zu sehen.«

»Ich habe jemanden mitgebracht. Feodor wartet ungeduldig auf das, was du mir gestern bereits sagtest.«

»Feodor«, die Elbin am andern Ende der Welt neigte leicht ihren Kopf und Feodor tat es ihr gleich, schwieg aber, denn in der Aufregung war ihm ihr Name entfallen.

Sie sah zur Seite und streckte ihren rechten Arm aus. Gleich darauf erschien ein zweites Gesicht im Spiegel des Sees. Feodor klappte der Kiefer nach unten. Er sah es und konnte es nicht glauben. Seine Lippen formten stumme Worte, die Welt um ihn herum drehte sich in atemberaubender Geschwindigkeit. Seine Augen versanken im See. Er streckte den Arm aus, um das Gesicht zu berühren, aber dabei ließ er Ala’nas Hand los und das Bild verschwand, als wäre es nie da gewesen.

Die Nähe der Nornen

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