Читать книгу Die Nähe der Nornen - Kerstin Hornung - Страница 11

3. Der goldene Schlüssel

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Ala’na griff nach seiner Hand. Es kribbelte in seinen Fingern, in seinem Arm, und dann konnte er wiedersehen, doch alles, was er sah, war das traurige Gesicht der Elbin, die ihn mitfühlend musterte. Die Enttäuschung war wie eine Schlucht, und Feodor stürzte kopfüber hinein.

»Es tut mir leid, Feodor. Ich wollte Philip überraschen. Ich dachte, es würde ihn freuen. Er ist so traurig, irgendwie verwirrt. Ich spüre seine Unsicherheit, seine Suche nach sich selbst. Ich dachte, wenn er dich sieht, würde er einen Teil dessen finden, was er sucht. Es tut mir leid.«

»Dann weiß er es?«, fragte Feodor, aber als er es aussprach, wusste er bereits die Antwort. »Er weiß es!«, fügte er hinzu.

»Was auch immer es ist, ich weiß es nicht. Frendan’no schweigt und auch Leron’das sagt kein Wort«, murmelte Isi’la.

»Ist Leron’das bei euch?«, fragte Ala’na.

»Er kam gestern im Mantel der Nacht. Die Dinge entwickeln sich nicht so, wie er es wünscht. Er wollte mit dem Rat sprechen.«

»Wenn du erlaubst, Isi’la, würde ich gerne mit ihm sprechen.« Ala’na hielt immer noch Feodors Hand und band ihn damit ans Geschehen, doch Feodor wünschte sich, nur noch einmal Philips Gesicht sehen zu können. Ein Gesicht, das ihm so vertraut war, aber das sich in den vergangenen Monaten stark verändert hatte. Als er ging, war er ein Knabe, doch heute trug er das Gesicht eines Mannes. In seiner Seele aber war er verwundet. Es schmerzte Feodor zutiefst und es ärgerte ihn, denn er selbst hatte es verdorben. Er hatte sich der einzigen Möglichkeit beraubt, mit Philip zu sprechen. Erst jetzt wurde ihm klar, welche wunderbare Möglichkeit Ala’na ihm gegeben hatte, aber er hatte sie nicht genutzt.

»Ich grüße dich, Feodor«, sagte Leron’das und riss ihn damit aus seinen Gedanken.

»Leron’das«, krächzte Feodor. Auch der Elbe hatte sich verändert. Seine Haare waren länger und mit feinen geflochtenen Zöpfen geziert, und in seinen Augen hatte er ein fiebriges Leuchten. Etwas wie Glück und Kummer in einem.

»Es ist lange her, seit wir uns zuletzt sahen. Ich wollte, ich hätte dir berichten können, dass ich deinen Sohn fand.«

»Doch dann hast du herausgefunden, dass ich nicht sein Vater bin. Möglicherweise hätten wir uns einiges erspart, wenn wir …«

»Es lohnt nicht zu hadern, Feodor«, tadelte Ala’na milde.

Zorn und Tränen stiegen in Feodors Kehle auf. »Ich bin ein Mensch, ich hadere! Ich hab sie verloren und auch ihn.« Feodor ließ Ala’nas Hand los und lief in den Wald. Tränen, die keiner sehen sollte, kullerten über seine Wangen.

***

Philip lief, so schnell er konnte. Er hasste jeden Stein, der unter seinen Füßen wegrutschte und jede Felsnase, die er umkrümmen musste. All der Kummer, den er mühsam unter einer Decke des Schweigens hielt, kochte in ihm hoch. Er hatte seinen Vater gesehen und dann war er plötzlich verschwunden gewesen. Herausgerissen aus seinem Leben. Verschwunden. Philip wollte niemanden sehen. Er wollte Stille und Einsamkeit, damit er sich so fühlen konnte, wie sich seine Seele anfühlte, ohne dass ihn jemand zu trösten oder aufzumuntern versuchte. Er stolperte und schürfte sich beide Hände an den scharfen Steinen auf, doch der Schmerz war gut. Er war real und lenkte ihn ein wenig von seinem eingeschnürten Herzen ab.

Er hatte gehofft, hier oben Abstand zu bekommen. Abstand, der es ihm ermöglichte, wieder klar zu denken. Doch hier gab es nur zwei Richtungen, nach oben oder nach unten. Er war eingesperrt in dieser Welt. Zwar stockte ihm jedes Mal der Atem, wenn er auf das Land zu seinen Füßen sah, jedoch nur, weil er wusste, dass es dort unten ein Leben gab, welches ihn ausgestoßen hatte. Frendan’no tat sein Bestes, um ihm seine Trauer, Wut und Verzweiflung abzunehmen, aber Frendan’no konnte nicht das ersetzen, was er verloren hatte.

Schließlich blieb Philip atemlos stehen. Die Höhe machte ihm immer noch zu schaffen. Er ermüdete schnell. Zornig setzte er sich auf einen Stein und musterte seine geschundenen Hände.

Er wusste nicht, wie lange er so dagesessen hatte, als sich Frendan’no neben ihm niederließ. Er sagte nichts, saß einfach nur da, aber seine Anwesenheit besänftigte Philips Trauer und zügelte seine Wut.

»Gibt es keinen anderen Ort, an dem ich leben kann?«, fragte er schließlich.

»Du kannst an jedem Ort leben«, antwortete Frendan’no.

»Ich kann überhaupt nicht leben.«

Sie schwiegen beide.

»Leron’das würde gerne mit dir sprechen«, sagte Frendan’no schließlich.

»Leron’das würde mich gerne dazu zwingen, die Welt zu retten. Leron’das glaubt, dass ich nur dort unten auftauchen muss und schon sind alle glücklich und zufrieden«, knurrte Philip.

»Du tust ihm unrecht.«

Philip antwortete nicht. Er starrte hinunter auf den Nebel, der die Welt verhüllte. »Habe ich dir schon einmal von Arina erzählt?«, fragte er plötzlich. »Sie ist die Tochter des Grafen von Weiden. Sie ist so …« Er seufzte. »Ich habe mich kaum getraut, sie anzusehen, denn ich war nur ein einfacher Junge. Aber sie kam zu mir. Frendan’no, ich liebe sie so sehr, dass es wehtut. Wir waren so gut wie verlobt ...« Für einen Moment schloss er verzweifelt die Augen. »Alles ist kaputt. Nichts mehr ist so, wie es war.«

»Aber sie liebt dich doch noch?«, fragte Frendan’no leise.

»Sie weiß nicht, wer ich bin. Ich weiß es selbst nicht.«

Frendan’no legte seine feingliedrige Hand auf Philips Arm und sah ihn von der Seite an.

»Ich weiß einiges über die Gepflogenheiten der Menschen, aber so einen Unsinn habe ich noch nie gehört.«

Philip sah überrascht auf. Frendan’no war immer so zurückhaltend mit seiner eigenen Meinung, dass diese Worte einer Zurechtweisung gleichkamen.

»Wenn sie dich liebte, als du in ihren Augen noch ein unbedeutender Junge warst, was sollte sie daran hindern, dich zu lieben, wenn sie erfährt, dass du ein Abkömmling von Königen bist?«

»Du weißt nicht, was alle von diesem Abkömmling erwarten. Das ist, als wollte man ein Hemd anziehen, welches einem Riesen gehört. Keiner wird sehen, dass ich es bin, der darin steckt. Es ist nur ein Haufen Stoff, der mich restlos unter sich begräbt.«

»Nun, wenn das so ist, dann wird wohl kein Mensch der richtige König sein. Dann wird die Falkenburg in der Hand eines Wahnsinnigen bleiben, und Zauberer werden das Land für ihn regieren. Es stellt sich höchstens die Frage, was aus den Menschen wird, die jetzt schon beschlossen haben, sich dagegen aufzulehnen. Und was aus den Elben wird, die an ihrer Seite kämpfen.«

»Frendan’no!«, rief Philip und sprang auf. »Wie kannst du nur? Warum tust du das?«

Auch Frendan’no war aufgestanden und sah Philip ernst an. »Almira’da, meine Schwester, ist nicht aus Eberus zurückgekehrt. Man munkelt, dass sich selbst in der Stadt der Kirche Zauberer aufhalten.« Damit drehte er sich um und ließ Philip stehen.

Fassungslos starrte er ihm hinterher. »Weiß Leron’das davon?«, flüsterte Philip. »Weiß Leron’das davon?«, murmelte er vor sich hin. Er fühlte sich schuldig, ohne in der Lage zu sein, auch nur das Geringste daran zu ändern.

***

Leron’das ahnte es schon lange. Die drei Nornen weilten gemeinsam auf Erden. Aber alles, was anfangs wie ein Geschenk ausgesehen hatte, verwandelte sich zunehmend in einen Albtraum. Das warme Gefühl, das ihm beschert gewesen war, als er Nate’re begegnete, zog nun, da er erfahren hatte, dass sie sich in der Gewalt eines Zauberers befand, sein Innerstes kalt zusammen. Wie ein leises Echo hallten Ala’nas Worte, die sie an ihn richtete, als er Pal’dor verließ, in seinem Inneren: Die Drei mögen dir hold sein. Und sie waren es gewesen. Mehr, als er ahnte, mehr, als ihm lieb war. Destina’riu, das Schicksal, wies ihm den Weg zu Nate’re, dem Leben, die alles, was er suchte, hütete. Aber weil er blind war, führte das Schicksal ihn anschließend in die Irre und trotzdem immer wieder zu Orten, die ihm neue Offenbarungen bescherten. Doch dabei folgte ihm auf Schritt und Tritt Varsa’ra, der Tod. Wenn es Leron’das gelang, ihm rechtzeitig auszuweichen, traf er einen anderen. Oder hatte es Varsa’ra gar nicht auf ihn abgesehen, sondern zählte nur die Stunden der Menschen, wie sie es immer tat? Leron’das schüttelte den Kopf.

Es war bestimmt nichts so wie immer. Unmöglich. Nate’re hatte ein Kind gehütet, das ein König werden sollte. Destina’riu zeigte diesem Kind einen Weg zu den Elben, die ihm auf eine Art verbunden waren, wie sonst keinem Menschenkind vor ihm, und Varsa’ra schonte es. Soweit schien alles in bester Ordnung zu sein und Leron’das konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob es seine Schuld war, dass nun alles aus den Fugen geriet. Er hatte Peredurs Erben nicht erkannt, obwohl es für jeden andern Elben offensichtlich gewesen wäre. Ala’nas nur mühsam aufrechterhaltene Fassade und ein paar gezielte Fragen hatten ihm bestätigt: Philips Ähnlichkeit mit seinem Vorfahren Peredur war nicht von der Hand zu weisen.

Aber wie hätte er ihn erkennen sollen? Er war der einzige Elbe in Pal’dor, der Peredur nicht gekannt hatte. Trotzdem gab es Hinweise. Das Kettenhemd, Philips unnatürliche Reaktion auf die Wunden der Gnomklinge. Aber Leron’das war diesen Hinweisen nicht nachgegangen. Pal’dor war verschlossen und ein fernes Ziel beherrschte damals seine Gedanken. Das Schicksal hatte mit ihm gespielt. Mit ihnen allen.

Was wäre geschehen, wenn er ihn gleich erkannt hätte? Damals in dem Eichenwäldchen, in dem er ihn mehr tot als lebendig gefunden hatte?

Hätte er diesem verängstigten, verdreckten Jungen gesagt, dass er der rechtmäßige König von Ardelan war? Gewiss nicht. Er hätte versucht, ihn schonend auf diese Aufgabe vorzubereiten, ihm Zeit gelassen, zu lernen und zu erkennen. Als er ihn jedoch wieder traf, schien das Ziel so nah.

Zu nah – das wusste er heute. Er hatte sich von Philips zielstrebigem Auftreten blenden lassen und den empfindsamen Jungen aus den Augen verloren. Dabei hätte er es besser wissen müssen. Selbst ein Mensch reifte nicht in wenigen Monaten vom Kind zum Mann. Und welcher aufrechte, vernünftige Mann könnte sein Leben von heute auf morgen gegen ein anderes eintauschen? Leron’das schämte sich, weil er Philip nicht der Freund gewesen war, der er ihm hätte sein sollen.

Er war regungslos dabeigestanden, als dem Jungen alles genommen wurde, woran sein Herz hing, und hatte ihn dann aufgefordert, die Verantwortung für tausende Menschen und Elbenleben zu übernehmen.

Dass Philip ihn nicht sehen wollte, war mehr als verständlich. Still stieg er hinauf zu der Felsspalte, in der er mit Almira’da zusammen gewesen war. Es war ein Ort, den er Zuhause nennen würde, ein Ort, an dem er ihre Nähe spüren konnte.

Nachdem Ala’na von Nate’res Verschwinden berichtet hatte, hatte er nicht gewagt, die verstört wirkende Isi’la zu bitten, ihm einen Weg nach Mar’lea zu öffnen. Allzu deutlich hätte er damit gezeigt, an wem sein Herz hing, und sein und Almira’das Geheimnis preisgegeben.

Nun versuchte er, sich damit zu trösten, dass er ihr ohnehin nichts Erfreuliches hätte berichten können. Er scheute sich davor, ihr einzugestehen, dass sich durch seinen Fehler der angekündigte König womöglich gar nicht zu erkennen geben würde.

Aber jede Faser seines Körpers sehnte sich nach ihrer Nähe, nach ihren warmen Lippen und dem Leuchten ihrer smaragdfarbenen Augen.

Von seinem hohen Aussichtspunkt aus konnte Leron’das Frendan’no auf einem der Pfade entdecken. Selbst aus der Ferne sah er, dass ihn etwas bedrückte. Etwas, das schwerer wog, als die Last, die er ohnehin tagtäglich mit sich trug.

Leron’das΄ Augen folgten Frendan’nos Pfad zurück, und da entdeckte er Philip hinter einem Felsvorsprung. Dem Himmel so nah musste das Leben doch irgendwie leichter sein, aber davon war im Moment nirgendwo etwas zu spüren. Selbst auf die Entfernung konnte Leron’das Philips blanke Panik und den Schmerz frisch aufgerissener Wunden spüren.

Isi’las und Ala’nas Plan, Feodor und Philip zueinander zu bringen, war vollkommen fehlgeschlagen. Sie hatten ihn damit nur ein weiteres Mal überrumpelt.

Leron’das starrte den Fels an, der ohne Almira’da doch nur irgendein Fels war, dann stieg er hinab.

»Ich weiß, dass du mich nicht sehen willst. Ich weiß, dass du nicht mit mir sprechen willst, aber hör mich bitte an.«

Philip schloss die Augen. Es schien, als warte er auf einen Regen, vor dem es kein Entrinnen gab.

»Es tut mir leid, dass ich dich bedrängt habe. Es tut mir leid, dass ich dich schutzlos der Wahrheit ausgeliefert habe. Es tut mir leid, dich so leiden zu sehen. Zu meiner Verteidigung bleibt mir nur zu sagen: Ich glaube an dich, und wenn ich ein Mensch wäre, würde ich dir bedingungslos folgen, und ich bin mir sicher, andere würden das auch tun …«

»Schluss damit«, unterbrach ihn Philip. »Der Anfang war gut, den Rest will ich nicht hören.«

»Gut, darüber wollte ich eigentlich nicht mit dir sprechen. Ich bin gekommen, um dir meine Freundschaft anzubieten. Ich verspreche, nicht länger in dich zu dringen.«

Philip sah Leron’das an. »Ich dachte, wir sind Freunde?«

Leron’das senkte den Blick. »Leider habe ich mich in letzter Zeit nicht wie ein Freund verhalten. Statt für dich in dieser schweren Zeit da zu sein, habe ich dich zusätzlich unter Druck gesetzt. Ich war so besessen von der Vorstellung, dass Rond’taros Prophezeiung eintreten würde, dass ich nicht bedacht habe, was das für dich bedeuten muss.«

»Ach Leron’das …« Philip setzte sich auf einen Stein und stützte seinen Kopf in die Hände. Er schien den Tränen nahe zu sein, aber seine Augen blieben trocken. »Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Das hier ist kein Platz für mich, und es scheint nirgendwo einen Platz für mich zu geben.« Er sah Leron’das von unten herauf an. »Was ist aus Olaf geworden? Ist er Hilmar nachgereist?«

Leron’das setzte sich neben Philip. »Er wartet.«

»Aber worauf?«

»Auf dich. Ich habe versucht, ihn zurückzuschicken, aber er hat sich geweigert, zu gehen. Er sagt, dass nur sein Herr ihn irgendwo hinschicken kann.«

»Ich bin doch nicht sein Herr, wann wird er das verstehen. Eine Zeit lang glaubte ich, wir wären Freunde, doch dann eröffnete er mir, dass er mir verpflichtet ist, durch den Titel den mir Hilmar verliehen hat. Ich will das nicht. Verstehst du das?«

»Jeder hier versteht das. Wir sind Elben. Wenn wir dienen, tun wir das aus freien Stücken, doch wir dienen nur denen, die wir lieben. Keiner gebietet über einen anderen und wir folgen nur, wem wir vertrauen. Bei den Menschen ist das anders … aber das weißt du selbst. Trotzdem glaube ich, dass unser elbisches Prinzip in gewisser Weise auf Olaf zutrifft. Er ist dir verbunden, er vertraut dir. Natürlich folgt er den Gesetzmäßigkeiten der Menschen, aber da er die Wahrheit kennt, wäre es ihm freigestanden, zu seinem Grafen zurückzukehren. Was ihn daran hindert, ist seine Loyalität dir gegenüber.«

»Dann werde ich ihn wohl zurückschicken müssen. Irgendjemand wird Hilmar und den anderen sagen müssen, dass der König nicht kommen wird.«

»Du bist grausam.«

»Die Realität ist grausam.«

»Ist es dir vollkommen gleichgültig, was aus ihnen wird?«, fragte Leron’das.

»Gleichgültig!«, rief Philip. Tränen standen in seinen Augen. »Wie könnte es mir gleichgültig sein. Aber ich kann ihnen nicht helfen, ich bin der Sohn eines Schmieds aus Waldoria.« Eine Träne löste sich und tropfte auf seine Hände. »Ich wünschte, dem wäre wirklich so«, flüsterte er. »Ich habe Feodor gesehen. Weißt du, wie sich das anfühlt, wenn alles, was gut und standhaft schien, von jetzt auf gleich zusammenbricht. Ich habe darauf gebaut, doch jetzt fühle ich mich wie ein Baum ohne Wurzeln.«

»Aber du hast Wurzeln, die bis in die Gebeine der Erde hineinreichen, alles, was dir genommen wurde, ist die Stütze, die dich zu einem aufrechten Baum hat wachsen lassen.«

»Ich bin kein Baum! Das kann man nicht vergleichen.«

»Du hast damit angefangen, und ich finde, es ist ein schöner Vergleich. Bäume flüstern mit meiner Seele, seit ich denken kann. Viele ihrer Sprossen müssen gestützt werden, damit sie gerade wachsen, bis sie aus eigener Kraft stehen können.«

Philip schwieg und starrte hinunter. Er hatte schon lange keinen Baum mehr gesehen. Wie lange versteckte er sich bereits auf diesem Berg?

»Hast du mit Feodor gesprochen?«, fragte Leron’das unvermittelt.

»Nein. Ich ... konnte nicht.«

»Glaubst du nicht, dass er gerne mit dir gesprochen hätte?«

»Ich weiß nicht, was ich ihm sagen soll.«

»Dann hör ihm zu. Lass ihn sprechen. Er liebt dich. In erster Linie bist du sein Sohn.«

»Sein Sohn«, wiederholte Philip tonlos und wünschte sich, er müsste in der Schmiede den Ambos reinigen, den Boden fegen oder das Feuer schüren, während Feodor, die dicke Lederschürze umgebunden, mit konzentrierter Miene das glühende Eisen prüfte.

Die Zeit schien rückwärts zu laufen. Am Tag seines Abschieds wirkte Feodors Gesicht nachdenklich und traurig, obwohl Philip nur für einige Tage in den Wald gehen wollte, um Pal’dor zu finden. Philip erinnerte sich, dass er ihm und auch sich selbst Mut machen wollte, als er sagte, dass er die Stadt finden würde. Feodor hatte geantwortet: So wird es sein. Das waren die letzten Worte, die er zu ihm gesagt hatte: So wird es sein.

Jetzt, da sie ihm eingefallen waren, fühlte er sich seltsam erleichtert.

»Ich werde mit ihm sprechen, wenn Isi’la mir den Weg öffnet.« Am liebsten wäre er sofort losgerannt, aber Leron’das hielt ihn zurück.

»Ala’na ist noch nicht kräftig genug. Du wirst einige Tage warten müssen, ehe die beiden Spiegel wieder in Verbindung treten können.«

Die Tage waren unendlich lang. Rastlos wanderte Philip auf den Pfaden von Munt’tar. Frendan’no war wortkarg wie die Steine, die ihn umgaben. Er saß auch wieder öfter an dem Hang, der das Grab seiner Tochter barg und starrte in die Ferne. Manchmal unterhielt sich Philip mit Leron’das, doch auch der wirkte getrieben. Frendan’no hatte ihm offensichtlich noch nichts von dem Verschwinden Almira’das erzählt.

Warum nicht? Wäre sie Philips Schwester, wäre er schon längst aufgebrochen, um selbst nach ihr zu suchen, und er hätte jeden mitgenommen, der bereit wäre, ihm bei der Suche behilflich zu sein. Philip fand, das Leron’das es wissen sollte. Er dachte an Arina, aber der Gedanke raubte ihm den Atem. Entschlossen stapfte er den Hang hoch und setzte sich neben Frendan’no.

»Du musst es ihm sagen«, begann er hastig, ehe er es sich anders überlegen konnte.

»Wozu? Er kann sowieso in keine Stadt gehen, in der sich ein Zauberer aufhält.«

»Dann begleite ihn!«

»Das kann ich nicht!«, knurrte Frendan’no.

»Was? Wieso kannst du nicht?«

Frendan’no antwortete nicht.

»Ich habe dich was gefragt. Warum kannst du nicht mit ihm gehen? Sie ist deine Schwester und ich sehe doch, wie sehr dir ihr Verschwinden zu schaffen macht.«

Frendan’no sah Philip an, dann richtete er seinen Blick wieder in die Ferne. »Isi’la kann jetzt mit Pal’dor sprechen«, sagte er.

»Was?«, fragte Philip erneut, aber da sah er die Elbin selbst. »Ich komme wieder. Wenn du es ihm nicht sagst, mach ich es.«

Frendan’no sah ihn nicht an, aber er nickte geistesabwesend. Philip schüttelte den Kopf. Er hatte das unangenehme Gefühl, das Frendan’no seinetwegen hier oben blieb. Langsam ging er den Hang hinunter.

In einer elbischen Stadt gab es nie einen Grund zur Eile. Philip hatte noch keinen hier laufen sehen. Er selbst tat es nicht, weil er ungern in den nächsten Abgrund stürzen wollte.

Isi’la wartete geduldig zwischen den spitzen, schlanken Steinhäusern. Sie begleitete ihn auf den engen Pfaden, vorbei an zarten, mit Blumenranken verzierten Säulen und unter Durchgängen mit kuppelförmigen Dächern, zu dem springenden Quell Violen’ta. Als sie sich neben dem Wasser niederließ und ihre Hand kurz in die eiskalten Fluten tauchte, spürte Philip sein Herz bereits bis zum Hals schlagen. Er zwang sich zur Ruhe, konnte aber nicht verhindern, dass seine Finger zappelten und er von einem Bein aufs andere trat. Schließlich sah er Bäume im Wasser. Ihr Grün erfüllte seine Augen und ließ ihn die Luft anhalten, dann stand er unvermittelt Feodor gegenüber.

Was sollte er sagen? Guten Tag, Vater, wäre normal gewesen, aber Feodor war nicht sein Vater. Er sah schlecht aus. Dunkle Augenringe und eingefallene Wangen erzählten von den Sorgen, die ihn quälten. Wieso war er überhaupt bei den Elben? Wo waren die Jungs und Mutter …?

»Philip«, flüsterte Feodor.

»Vater«, sagte Philip. Seine Stimme zitterte und Tränen brannten hinter seinen Augen.

»Ich bin froh, dich zu sehen. Wir haben uns große Sorgen um dich gemacht.«

Philip lächelte tapfer. »Auch ich bin froh, dich zu sehen. Es tut mir leid, dass ich beim letzten Mal …«

»Ach was. Mir tut es leid. Ich habe so viel falsch gemacht.«

Es war Philip unangenehm, zu sehen, dass die Augen seines Vaters in Tränen schwammen.

»Ich weiß, dass du die Wahrheit bereits kennst. Aber du hättest sie nicht so erfahren sollen. Wir hätten es dir sagen müssen – bevor du gingst.« Feodor quälte sich sichtlich.

»Niemand konnte wissen, dass ich so lange wegbleiben würde. Niemand konnte wissen, dass sich die Dinge so entwickeln würden.« Diese Entschuldigung hatte sich Philip in so vielen Nächten vorgehalten, doch jetzt, im Angesicht seines gramgebeugten Vaters, bekam sie erst das richtige Gewicht.

»Es ist so, dass ich meistens gar nicht daran dachte, es dir zu sagen, weil es bedeutungslos war. Für mich warst du immer mein Sohn und für deine Mutter … ich meine Phine …« Als er ihren Namen aussprach, zitterte seine Stimme. »Sie war wie eine Bärin, wenn es darum ging, dich zu schützen.«

Wie hatte er nur jemals zweifeln können, fragte sich Philip. Wie hatte er nur jemals glauben können, dass sich irgendetwas geändert hatte?

»Ich muss zugeben, dass ich erschüttert war«, gestand er. »Ich dachte, ich ... ich fühlte mich verraten. Ausgestoßen ... und ich fürchtete, keine Familie mehr zu haben.«

Eine Träne löste sich aus Feodors Augen und floss ihm langsam über die Wange, bis sie in dem ordentlich gestutzten Bart versickerte. »Solange ich lebe, wirst du mein Sohn sein«, versicherte er.

Philip lächelte befreit. Der feste Knoten, der seine Brust eingeschnürt hatte, löste sich, und er konnte wieder frei atmen.

»Wie geht es euch?«, fragte er. »Wieso bist du in Pal’dor, Vater?« Philip konnte deutlich sehn, dass sein Vater sich nur mühsam aufrecht hielt, während er versuchte, tapfer zu lächeln.

»Sag du mir erst, was du erlebt hast. Du bist so erwachsen geworden. Ein richtiger Mann. Der Bart steht dir gut.«

Philip fasste an sein Kinn. Offensichtlich hatte er es in den letzten Tagen versäumt, den Bart abzuschaben.

Er erzählte mit wenigen Worten, wie er aus dem Wald geflohen war – seine Verletzung, die ihn beinahe das Leben gekostet hätte, ließ er aus. Er erzählte, wie er Leron’das getroffen hatte und Walter, und dass er dann mit Walter ins Wildmoortal gegangen war. Er erzählte von Hilmar und Agnus – Arina ließ er aus und auch seine Erhebung zum Baron von Wasserfurt – von der Reise nach Süden und schließlich von seiner Ankunft in Corona.

»Aber jetzt musst du mir sagen, wie du Pal’dor gefunden hast. Ist Lume’tai jetzt endlich bei ihrer Familie?«

»Lume’tai gehört genauso zu uns wie du, Philip. Und ich habe Pal’dor nicht gefunden, viel mehr hat Pal’dor uns gefunden. Wir mussten fliehen, der Zauberer hat uns entdeckt.«

»Ich habe Leron’das gleich gesagt, dass er Lume’tai nicht bei euch hätte lassen dürfen!«

»Nein. Hör zu«, unterbrach ihn Feodor. »Lume’tai gehört zu uns! Sie hat zusammen mit Phine Großes geleistet, aber der Zauberer hat sie beide entdeckt, und wir sind in den Wald geflohen. Die Elben haben uns geholfen, aber deine Mutter ist …ist …Phine ist verschwunden.«

»Nein!«, flüsterte Philip entgeistert. Das durfte nicht wahr sein!

Aber sein Vater nickte und eine weitere Träne floss über seine Wange. Als er seine Stimme wieder unter Gewalt hatte, sagte er: »Viele hier suchen nach ihr. Nur ich kann nicht … wegen der Kinder.«

Einen flüchtigen Augenblick lang war Philip versucht – so wie früher – sich anzubieten, auf die Jungs aufzupassen, doch dann wurde ihm klar, dass diese Zeit endgültig vorbei war.

»Ich werde sie suchen«, hörte er sich sagen.

»Philip, nein! Wahrscheinlich hat sie der Zauberer in seiner Gewalt. Er ist mächtig und in deinen Adern fließt elbisches Blut. Keiner hier spricht mit mir darüber, aber ich reime mir meinen Teil zusammen. Der Zauberer strebt nach Unsterblichkeit und damit nach schier grenzenloser Macht. Dafür braucht er Elben. Ich weiß nicht, wie viele, ich weiß nicht, wozu. Deine Mutter hat Kräfte, die mir selbst unbegreiflich sind, und ich weiß, dass viele hier fürchten, er könnte ihre Kräfte für seine Zwecke missbrauchen. Es sind ausschließlich Männer, die nach deiner Mutter suchen. Bei uns Menschen wäre das selbstverständlich, aber unter den Elben ist das scheinbar nicht so, doch in diesem Fall scheinen sich alle einig zu sein. Der Zauberer braucht für seinen teuflischen Plan eine Frau. Ich hoffe, es ist nicht Phine …« Seine Stimme brach.

»Aber einer von uns muss sie doch suchen. Wir müssen sie finden, und ich habe bereits Arina gefunden und einem Zauberer entrissen.«

»Wer ist Arina?«, fragte Feodor.

Philip wurde rot bis an die Haarwurzeln. Würde er jetzt daheim in der Küche sitzen, hätte er möglicherweise nach Ausflüchten gesucht und sein süßes Geheimnis noch eine Weile für sich behalten, aber nun sah er seinen Vater an und sagte: »Sie ist die Tochter des Grafen von Weiden. Ich liebe sie.«

Feodor lächelte flüchtig. »Hör zu, Philip. Es ist wichtig, dass Phine gefunden wird, aber ich will nicht, dass du dich auf die Suche nach ihr machst. Wenn du stark genug bist, um von dem Berg, auf dem du dich versteckst, herunterzusteigen, solltest du dir vorher überlegen, was du mit deinem Leben anfangen willst. Seit ich hier in Pal’dor bin, habe ich Elben gesehen, die sich rüsteten, um sich den Menschen im Westen bei ihrem Kampf anzuschließen. Ich habe mir geschworen, dass ich dich in dieser Hinsicht niemals beeinflussen werde. Gott ist mein Zeuge, das mir nichts fernerliegt …«

»Dann sag es nicht.« Philip schloss die Augen. »Sag es nicht«, flüsterte er.

Isi’la fasste Philip leicht an die Schulter. »Ala’na ist erschöpft, sie wird die Verbindung nicht mehr lange halten können.«

Er nickte und verabschiedete sich von seinem Vater. Als er längst nur noch die schäumenden Wellen des springenden Quells vor Augen hatte, starrte er immer noch hinein, so als könnte er Antworten erhalten.

Zum ersten Mal seit Wochen fühlte er sich so, als würde er wieder mit beiden Beinen den Boden berühren. Der lähmende Schmerz in seiner Brust war atemlosem Herzrasen gewichen. Die ganze Familie war von dem Zauberer vertrieben worden und Mutter hatte er in seiner Gewalt. Almira’da war in Eberus spurlos verschwunden. Vinzenz und Agnus machten sich zum Kampf bereit, und Arina ging mit Hilmar geradewegs einem weiteren Zauberer entgegen.

Philip erinnerte sich, an die stille Würde, mit der sie ihre Verletzungen und ihre Angst eingesetzt hatte, um mit ihrem Vater Verbündete gegen den König und seine Zauberer zu finden.

Und Philip saß auf einem Berg und versteckte sich vor der Welt. Ließ alle im Stich. Dabei war Theophil tot, weil ihm Philips Leben wichtiger war als sein eigenes.

Er atmete tief ein. Jetzt musste er mit Leron’das und Frendan’no sprechen.

Leron’das traf er zufällig auf einem der Pfade und Frendan’no saß immer noch am Hang und starrte in die Ferne. Philip schritt entschlossen aus und Leron’das folgte ihm stumm.

»Ich muss mit euch beiden reden«, begann er, als er oben angekommen war.

Frendan’no sah ihn einigermaßen erstaunt an, denn so viel Tatendrang hatte er noch nie in Philips Stimme gehört.

»Ich habe soeben mit meinem Vater gesprochen, und vieles von dem, was er mir sagte, beunruhigt mich zutiefst.« Er machte eine kurze Pause und wunderte sich still über seine nüchternen Worte. Sein Herz war voller Angst um seine Mutter, voller Zweifel, Trauer und Verwirrung, aber seine Worte sagten darüber nichts.

»Während ich hier oben saß und mich selbst bemitleidete, hat Dosdravan meine Familie vertrieben und meine Mutter verschleppt.« Jetzt zitterte seine Stimme doch.

Frendan’no stöhnte auf, drückte die Fingerspitzen an die Schläfen und schloss gequält die Augen.

»Elben aus Pal’dor suchen sie«, erläuterte Philip. »Aber er kann sie sonst wohin gebracht haben. Er könnte sie als Köder benutzen, er könnte … Ich wage nicht, daran zu denken, was er könnte und was er bereits getan hat. Ich kann nicht länger tatenlos bleiben. Aber da ich meinem Vater versprechen musste, mich nicht selbst auf die Suche nach ihr zu begeben, bleibt mir nur noch eine Wahl. Ich muss den Zauberer aufhalten.« Er sah erst Leron’das, dann Frendan’no an. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Er fürchtete sich, diesen Weg zu gehen. Er fürchtete, zu versagen und alle Hoffnungen zu zerstören.

»Ich werde mich als Philmors Erbe zu erkennen geben und damit Dosdravan und König Levian herausfordern.«

»Tu nicht Unüberlegtes«, warnte Frendan’no. »Du wirst viele Feinde in dem Land dort unten haben. Mehr als die Zwei.«

»Ich kann sie ihm nicht kampflos überlassen. Sie ist meine Mutter …« Er schluckte, aber der Kloß in seinem Hals wollte nicht weichen.

Leron’das lächelte zufrieden. »Meinen Bogen und mein Schwert stelle ich in deinen Dienst.« Er neigte den Kopf, aber Philip sah ihn ernst an und sagte:

»Tu nichts Voreiliges, Leron’das, noch kennst du nicht die ganze Geschichte. Sag es ihm, Frendan’no.«

Frendan’no atmete tief ein und aus. »Soeben hast du mich aus meiner Pflicht dir gegenüber entlassen, aber Leron’das an dich gebunden. Ich werde es ihm nicht sagen.«

Aus der Pflicht entlassen?, dachte Philip aufgebracht. Frendan’no war also tatsächlich nur seinetwegen hier oben geblieben, statt nach seiner Schwester zu suchen. Ehe er Worte für seine Empörung fand, fiel sein Blick auf Leron’das, der angespannt und beunruhigt Frendan’no musterte. Er wusste, dass Leron’das nach dieser eindeutigen Aussage Frendan’no nicht bedrängen würde.

»Dann tu ich es«, zischte Philip. »Früher oder später wird er es doch erfahren.«

»Ich habe mir gewünscht, deine Entschlossenheit kennenzulernen, doch nun bin ich nicht sicher, ob ich wusste, was ich mir da wünschte«, sagte Frendan’no mit einem spöttischen Lächeln in den Augen.

Leron’das war bleich, wie das Eis das ihn umgab. »Es geht um Almira’da«, hauchte er.

Frendan’no nickte. »Sie ist in Eberus verschollen.«

»Wie lange schon?«

»Zu lange«, erwiderte Frendan’no ausweichend.

»Wie lange?«

»Sie hätte kurz nach dem Übergang in den zweiten Frühlingsmond nach Mar’lea zurückkehren müssen.«

Philip erschrak. Er wusste zwar nicht genau, ob die Monde der Elben mit denen der Menschen übereinstimmten, aber der zweite Frühlingsmond war für ihn der Launig, und der hatte begonnen, ehe er und Olaf Corona erreicht hatten. Wie lange war das her? Philip versuchte, die Tage zu zählen, aber es gelang ihm auf die Schnelle nicht.

»Seit wann weißt du das?«, fragte Leron’das. Seine Augen glühten fiebrig.

»Lange genug, um jemanden zu finden, der sich in Eberus umhört. Lange genug, um krank vor Sorge zu sein.«

»Frendan’no!«, stieß Philip atemlos aus. »Warum hast du es mir nicht eher gesagt?«

Frendan’no sah ihn still und ernst an. Philip konnte nicht umhin, sich zu schämen. Er hatte sich wie ein Kind benommen und war in seinem Schmerz vollkommen aufgegangen, dabei hatte ihm Frendan’no immer und immer wieder gesagt, dass er nichts verloren hatte, sondern dass nur etwas hinzugekommen war.

An den Gedanken, dass die Eltern, die er kannte, nicht von Anfang an seine Eltern gewesen waren, konnte er sich noch immer nicht vollständig gewöhnen, aber wenn er rational darüber nachdachte, wusste er, dass es ihm nie an etwas gefehlt hatte und nie fehlen würde. Trotzdem hätte er sie gerne gekannt, die Mutter, die ihm das Leben geschenkt hatte, und auch den Vater, der König werden sollte. Was wäre er für ein Mensch geworden, wenn es wirklich so gekommen wäre?

Leron’das und Frendan’no unterhielten sich leise. Sie schienen vergessen zu haben, dass er auch noch dabeistand. Tatsächlich gab es andere Dinge, mit denen er sich jetzt befassen musste. Etwas, wogegen er sich vollständig gesperrt hatte – seine wahre Herkunft. Und dann musste er sich überlegen, wie er weiter vorgehen wollte. Es war leicht, zu sagen, er würde den König herausfordern, aber es dann tatsächlich zu tun, kam einem Selbstmord gleich.

Sollte er zurück ins Wildmoortal reiten, wo Agnus bereits Männer um sich sammelte? Oder nach Eberus, um sich die Unterstützung der Kirche zu sichern? Arina zu sehen, war nur ein flüchtiger Gedanke, den er schnell von sich schob. Für sie wollte er nur Philip sein. Mit ihr wollte er barfuß im Sand den Sonnenaufgang beobachten. Aber dazu würde es wohl nie kommen.

Vielleicht sollte er erst herausfinden, wie seine Vorväter mit so einer Situation umgegangen wären. Schon einmal wurden die Zauberer aus dem Land vertrieben.

Wieder wurde ihm bewusst, dass er keine Ahnung hatte. Was tat ein König? Du bist überhaupt kein König, wies er sich in Gedanken zurecht. Allenfalls ein später Nachfahre. Aber die Menschen würden ihn beobachten und nur darauf warten, dass er Fehler machte. Jeder Fehler konnte seinen Tod bedeuten oder schlimmer noch, den Tod derer, die ihm vertrauten. Für einen Moment war er versucht, seinen Plan wieder fallen zu lassen. Er war viel zu jung und viel zu unerfahren. Aber dann dachte er an seine Mutter und an seinen gramgebeugten Vater, er dachte an Amilana und Agnus, an Hilmar und Vinzenz. Sie brauchten niemanden, der ihnen sagte, was sie tun mussten, aber sie brauchten jemanden, unter dessen Banner sie kämpfen konnten. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass sie ihn brauchten. Philip ging hinunter in das Haus mit den langen, schmalen Fenstern, das er mit Frendan’no teilte. Er durchwühlte seine Sachen, bis er das Kästchen fand. Vorsichtig öffnete er den schartigen Deckel.

Der blaue Samt war an manchen Stellen dünn geworden und auch der goldene Schlüssel zeigte Gebrauchsspuren. Vorsichtig strich Philip mit dem Finger darüber, ohne den Mut zu finden, ihn in die Hand zu nehmen.

So, wie er vor ihm lag, bestand kein Zweifel. Es war der Schlüssel, den er bereits auf dem Wappen in Hilmars Bibliothek gesehen hatte. Der Schlüssel, der seit Peregrin das Wappen der Kronthaler Könige zierte.

»Welche Türe öffnest du?«, fragte Philip. Er erinnerte sich vage, dass Leron’das ihm angeboten hatte, ihn zu der Tür zu bringen, aber Leron’das hatte jetzt andere Sorgen.

Die Nähe der Nornen

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