Читать книгу Der Pakt des Lebens - Kerstin Struck - Страница 10

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Im Regenwald von Santalbán: 10 Sommer später

Als Melia 10 Jahre alt war, wirbelte ein Sturm an Ereignissen ihr Leben in wenigen Tagen komplett durcheinander. Danach war nichts mehr wie zuvor. Doch bis zu jenen schicksalhaften Sommertagen genossen Melia und ihre Freunde jeden Moment jedes Tages, denn sie hatten das Glück, in Santalbán zu leben. Santalbán war ein magischer Ort mitten im letzten Fleckchen Dschungel dieser Welt. Und als der Wirbelsturm der großen Veränderungen aufzog, tat er das leise, ganz leise, so, als würde er die Luft anhalten – allerdings nur noch für einen flüchtigen Moment.


Der Tag war noch jung und steckte voller Versprechen. Das heisere Gebell der Brüllaffen schwoll zum stolzen Finale an, und Melia schloss die Augen, um das Konzert besser genießen zu können. Selbst mit geschlossenen Augen bewegte sich das schlanke Mädchen geschmeidig wie ein kleines Wildtier durch den Dschungel. Auf ihrer Schulter wippte ihr Tiergefährte, der quirlige Affenjunge Jacko, im Brüllaffen-Takt auf und ab. Hinter ihr liefen ihre besten Freunde Buddy und Micah. Die drei Kinder hatten die Aufgabe frisches Räucherholz zu besorgen, denn heute war der Festtag des Großen Paktes – Melias liebster Tag im ganzen Jahr.

Der Waldboden kribbelte lebendig unter ihren nackten Fußsohlen, und das Mädchen dachte: Wenn ich mir jetzt etwas wünschen dürfte, wüsste ich nicht, was! Für einen Moment war sie wunschlos glücklich.

Doch dann durchzuckte sie ein Gedanke, der sonst tief in ihrem Herzen schlummerte: Ich hätte gerne meine Eltern kennengelernt. Eigentlich vermisste Melia dank ihrer vielen menschlichen und tierischen Gefährten nichts, nur von Zeit zu Zeit überfiel sie diese Sehnsucht. Unter dem Schutzdach ihrer geliebten Baumriesen verflog der Gedanke glücklicherweise schnell, und sie tauchte wieder ein in die ganz eigene Welt und Zeit des Dschungels.

Der Dschungelmann stand so plötzlich vor Melia als hätte ihn jemand dort hingezaubert. Sam und Micah wären fast in ihre Freundin hineingelaufen, so unvermittelt stoppte sie. Doch dann sahen sie ihn auch. Er stand mitten auf dem schmalen Pfad in ihrem vertrauten Regenwaldrevier. Micah legte Melia schützend die Hand auf die Schulter, und Buddy flüsterte unwillkürlich den ausgeleierten Kinderreim aus Santalbán: „Wer hat Angst vorm Dschungelmann?“ Und wie von selbst kam Melia der Rest des Reimes über die Lippen: „Der renne weg, so schnell er kann!“

Doch das war leichter gesagt als getan. Der durchdringende Blick des Mannes mit dem zerfurchten Gesicht, in dem jede Rune eine Geschichte zu erzählen hatte, bannte Melia, Buddy und Micah auf der Stelle. Der Mann trug ein auffällig gemustertes Tierfell um die Schultern, und Melia durchzuckte der Gedanke, dass ihr ein solches Tier noch niemals begegnet war. Seine Hand umfasste einen langen Stab, von dem Knochen und Federn baumelten.

Das Mädchen hielt die Nase in den Wind. Ihre ungezähmten, dunklen Locken umtanzten ihr Gesicht, und ihre grünen Augen hielten dem Blick des Dschungelmanns stand. Melias Instinkte waren in unzähligen Waldabenteuern geschult und sie wusste, dass sich Gefahren oft mit dem Wind ankündigten. Tatsächlich lag schon seit einiger Zeit etwas in der Luft. Etwas Großes, das sich in immer mehr Zeichen offenbarte. Sie wandte den Kopf zu Jacko. Der kleine Affenjunge hockte regungslos auf ihrer Schulter. War er vor Angst erstarrt? Sie konnte es im Moment nicht sicher sagen. Als das Mädchen wieder nach vorne blickte, war der Dschungelmann verschwunden. Vor ihr wachten die altvertrauten Bäume, die in ihrem langen Leben unzählige schreckliche und schöne Dinge gesehen haben mussten. Mit scharfsichtigen Augen versuchte Melia, das Unsichtbare im tiefgrünen Pflanzenlabyrinth zu erspähen.

„Wahnsinn!“ Buddy fand als erster von ihren beiden Freunden seine Sprache wieder. „Das war er, der Dschungelmann, oder? Ich konnte meine Füße keinen Millimeter bewegen! Und ihr?“ Melia und Micah schüttelten die Köpfe. „So ein bekloppter Reim, wenn man gar nicht rennen kann!“ Buddys mondrundes Gesicht war vor Schreck ganz schief. Er hob prüfend erst seinen linken und dann seinen rechten Fuß. „Leute, laufen wir zurück ins Dorf, solange wir können. Soll Giselle doch selbst ihr Räucherholz holen.“ Buddy trug ebenfalls seine Tiergefährtin auf der Schulter. Die sanften Augen seines niedlichen Ottermädchens Sansi waren durch den Schreck noch runder als sonst.

„Knapp mit dem Leben davongekommen sind wir, ich sag es euch! Wir hätten den Fellmantel berühren können, so nah war er und –“ Buddy stolperte über eine Wurzel und plumpste auf den Boden. Er bewegte sich weit weniger geschickt durch den Wald als seine beiden Freunde. Noch während er sich hastig aufrappelte, redete er schon weiter. „Ich meine, wenn wir DAS im Dorf erzählen!“

Bei diesen Worten lachten Melia und Micah befreit auf. Sie wussten, dass Buddy sich bereits ausmalte, wie er das Erlebnis fantasievoll ausgeschmückt zum Besten geben würde. Er war ein begnadeter Geschichtenerzähler.

„Na, beim Fest heute Abend wirst du die perfekte Bühne haben“, meinte Melia. Für einen Moment verlor Buddys Gesicht den verschreckten Ausdruck und er lächelte glücklich.

„Warum ist der Dschungelmann wohl aufgetaucht? Und ausgerechnet heute?“, fragte Micah.

Melia sah zu ihrem anderen besten Freund herüber, der in vieler Hinsicht das Gegenteil von Buddy war. Während Buddy wasserfallartig plapperte, sprach Micah nur, wenn er fand, dass es sich lohnte. Und das kam nicht besonders häufig vor. Micahs Gesicht mit der olivbraun schimmernden Haut wirkte nachdenklich. Ihr Freund besaß ein feines Gespür und konnte manche Dinge im Voraus ahnen. Sie wollte ihm gerade antworten, als Micahs Tiergefährtin, die würdevolle Eule Kassandra, mit ruhigen Flügelschlägen zurückkehrte. Sie flog im Wald oft ihrer eigenen, rätselhaften Wege und war bei der unheimlichen Begegnung nicht dabei gewesen. Die Eule trug das Räucherholz, das die Kinder beschaffen sollten, im Schnabel.

„Oh, Kassandra, du bist die Größte!“, rief Melia aus. „Wir laufen zurück ins Dorf. Stell dir vor, wir sind dem Dschungelmann begegnet!“

Kassandra nahm diese Nachricht erstaunlich gelassen auf und landete auf Micahs ausgestrecktem Arm.

Buddy sah die Eule prüfend an: „Wie konntest du überhaupt wissen, dass wir das Holz noch nicht selber gesucht haben?“ Micah winkte ab. Kassandra würde darauf keine Antwort geben. Seine Eule war noch hellsichtiger und verschwiegener als er selbst. Liebevoll strich er ihr das Federkleid glatt und nahm ihr das Holz aus dem Schnabel.

„Ein typisches Kassandra-Rätsel. Los, ich will weiter!“, drängelte Buddy.

Die Kinder liefen schnell und ohne anzuhalten, bis sie die ersten blumenbewachsenen Hütten ihres Dorfes durch das Grün schimmern sahen. Als sie die Füße auf den samtweichen Moosboden setzten, der die gesamte Lichtung bedeckte, atmeten sie erleichtert auf und fühlten sich endgültig in Sicherheit.

Ohne Umwege rannten sie weiter zum Dorfplatz, der bereits für den Festtag geschmückt wurde. Etliche Dorfbewohner – Menschen und Tiere – flitzten und flogen eifrig umher. Melias Herz machte einen Freudensprung beim Anblick des bunten Treibens. In der Mitte des Platzes war das Herz von Santalbán: ein mächtiger Baum, der nur der „Alte Baum“ genannt wurde. Er war bereits über und über mit Blumenschmuck bedeckt. Im Vergleich zum „Alten Baum“ war Santalbán so jung wie ein frischgeschlüpftes Küken. Unter seinem ewig grünen Blätterdach fanden alle Feiern und Rituale statt. An seinem silbrig-grauen Stamm hing eine verwitterte Tafel, auf welcher der Große Pakt – das einzige Gesetz von Santalbán – geschrieben stand. Er machte Tiere und Menschen zu wahren Gefährten und war überall sonst auf der Welt lange vergessen.

Menschen- und Tierseelen. Ewige Gefährten, Seite an Seite auf ihrem Weg durch das Leben. Verwoben ist ihr Schicksal, und der Untergang des einen ist auch das Ende des anderen. Wer nimmt, muss auch geben, und keiner ist des anderen Meister.

Diesem Pakt war es zu verdanken, dass in Santalbán zu jedem Menschen ein Tiergefährte gehörte. Tiere und Menschen fanden zueinander, wenn die Menschen geboren wurden. Von da an waren sie unzertrennlich, wobei die Lebenszeit der Tiere sich der ihrer menschlichen Gefährten anpasste. In wenigen Stunden würden Menschen und Tiere erneut bekräftigen, was auf der Tafel stand. Wenn man ganz genau hinsah, merkte man, dass der untere Teil der Tafel abgebrochen war. Als Melia nun den prachtvoll geschmückten Baum bewunderte, fragte sie sich kurz, was wohl auf dem abgebrochenen Teil gestanden hatte. Wahrscheinlich ist das egal, dachte sie, das Wichtigste kann man ja noch lesen!

„Ich denke, wir sollten die Begegnung im Wald für uns behalten“, wandte sich Micah an seine Freunde. Doch in diesem Moment posaunte Buddy bereits los: „Du wirst es nicht glauben, wir haben den Dschungelmann getroffen!“

„Vergiss es“, meinte Micah trocken. Melia zuckte mit den Schultern. „Er kann nichts dafür, sein Mund ist einfach schneller als sein Kopf.“

Die Frau, der Buddy die Neuigkeit mitgeteilt hatte, ließ den riesigen Blumenkranz, der ihr Gesicht verborgen hatte, sinken, und Melia stöhnte auf, als sie sah, wem Buddy versehentlich ihr Erlebnis verraten hatte. Es war Giselle, die neu gewählte Dorfrätin. Ihre ohnehin dünnen Lippen waren strichartig zusammengekniffen, dafür riss sie die Augen unnatürlich weit auf und zündete sofort ihr unvermeidliches Räucherholz an. Giselle war ziemlich abgehoben, seit sie ihr Amt als Dorfrätin angetreten hatte. Melia fand das lächerlich und gab ihr Bestes, um die Dorfrätin zurück auf den Boden der Tatsachen zu holen. Giselle gab ihrerseits ihr Bestes, um Melia „die Flausen auszutreiben“, wie sie es nannte. Die beiden pflegten eine verlässliche Streitbeziehung.

„Balduino, es ist kein Spaß, sich solche Geschichten auszudenken!“, sagte Giselle scharf.

„Zum dreitausendsten Mal, ich heiße Buddy! Und ich habe mir das nicht ausgedacht!“, erwiderte der Junge empört. Melia, die neben ihren Freund getreten war, stieß ihm unsanft den Ellbogen in die Seite. Doch es war so gut wie unmöglich, Buddy zum Schweigen zu bringen. „Der Dschungelmann stand direkt vor uns, ich hätte seinen zerfledderten Fellbehang berühren können und –“

Nun brach Buddy doch ab, denn drei kleine Pelzköpfe mit neugierigen Knopfaugen und einem verschmitzten Grinsen im Gesicht poppten hinter einem Busch hoch. „Waaaaooooow! Ihr habt den Dschungelmann getroffen? Echt?“, fragte Paco, der wie üblich für seine Brüder Taco und Naco mitsprach.

Das Auftauchen der drei Nasenbären lenkte Giselle kurz von den Kindern ab. Sie schnaubte: „Herrje! Das Terror Trio! Ihr schon wieder!“

„Das Terror Trio ist Geschichte!“, widersprach Paco. „Wir haben unseren Namen geändert.“

„Das interessiert mich nicht die Bohne“, zischte Giselle. „Sam! Melia! Micah! Habt ihr tatsächlich den Dschungelmann getroffen? Das wäre … das ist ungeheuerlich! Ihr wisst, was das bedeutet, falls es stimmt? Der Dschungelmann bringt Unglück!“ Ihre Stimme erreichte eine dramatische Höhe, und beim Herumfuchteln mit dem Räucherholz sengte sie den einen Ärmel ihres Kleides an. Dieser begann prompt zu qualmen.

Melia hasste es, wenn Giselle aus allem ein Drama machte. Sie zuckte mit den Schultern und sagte schlicht: „Ich weiß jedenfalls mit Sicherheit, dass dein Ärmel brennt.“

Giselles Gesicht wechselte von tomatenrot zu burgunderrot. In Erwartung des üblichen Theaters mit Melia und Giselle in den Hauptrollen setzten die drei Nasenbären gespannte Gesichter auf. „Die Show beginnt!“, freute sich Paco.

Doch dann geschah … rein gar nichts! Giselle verpatzte zum allerersten Mal ihren Einsatz und stürmte ohne ein weiteres Wort davon. Und das war der nächste eindeutige Hinweis darauf, dass an diesem Tag etwas anders war als sonst.


Der Zauber, der den Festtag begleitete, lenkte die Kinder schnell wieder ab. Sie fanden, dass Giselle mit ihrer Panikmache übertrieb, schließlich war ihnen ja nichts passiert. Und in ihren Augen benahm sich die Dorfrätin ohnehin öfter eigenartig als normal.

„Wir lassen uns die Feier nicht verderben! Das schafft nicht mal der Dschungelmann!“, rief Buddy entschieden mutiger als zuvor im Wald. Unzählige Glühwürmchen blinkten auf, und den Kindern entfuhr ein begeistertes „Oooooooh“!

„Warum feiern wir den Großen Pakt eigentlich nur einmal im Jahr?“, jubelte Melia. „Wir sollten ihn jeden Tag feiern!“ Sie dachte daran, wie glücklich sie immer war, wenn sie beim Einschlafen in die Augen ihrer Tierfreunde blickte. Melias Schlaf wurde von vielen Augen bewacht. Das war eine Ehre, die nur ihr allein zuteilwurde. Verschiedene Tiere wechselten sich nachts ab und ließen sich auch nicht verscheuchen, wenn Äffchen Jacko sie eifersüchtig mit allem bewarf, was ihm in die Hände kam. Zum Glück zielte Jacko meistens schlecht, und Melia war überzeugt, dass er gar nicht wirklich treffen wollte. Bei diesem Gedanken musste sie schmunzeln und fand zum zweiten Mal an diesem Tag ihr Leben geradezu märchenhaft schön.


Nach und nach nahmen die Dorfbewohner ihre Plätze auf dem Ritualplatz ein. Buddys Mutter erschien zusammen mit Micahs Vater. „Balduino, das hier hast du vergessen!“, rief sie und warf ihrem Sohn einen dicken Poncho zu, der ihn an diesem Sommerabend ordentlich ins Schwitzen bringen würde. Buddy war in dieser Hinsicht einiges gewohnt. Seine Mutter brachte ihn oft ins Schwitzen, und sie nannte ihn immer bei seinem vollen Namen. Der Junge rollte leicht genervt mit den Augen und warf sich den Poncho über. „Giselle hat offensichtlich nicht geplappert, sonst würde mich meine Mutter in ein Panzerhemd stecken“, murmelte er. Seine Freunde nickten lachend.

Unter dem „Alten Baum“ herrschte wie immer eine friedvolle Stimmung, und die Luft knisterte vor freudiger Erwartung. Melias Blick schweifte in die Ferne zum Vulkan Peleo. Vom Dorfplatz aus konnte man ihn gut sehen, und am heutigen Festtag würde auch wieder die alte Legende des Vulkans erzählt werden. Dann entdeckte das Mädchen seine Großmutter Nana, die aus der bis zum Schornstein mit Kräutern bewachsenen Kochhütte trat. Nanas gütiges Gesicht mit den tausend Lachfalten sah nachdenklich aus. Doch schon eine Sekunde später lächelte sie wieder ihr einzigartiges Lächeln, das für Melia jedes Mal wie eine warme Umarmung war. Das Mädchen sprang auf und warf sich in die weit ausgebreiteten Arme ihrer Großmutter. Eine Sekunde später flogen Affenjunge Jacko und Ottermädchen Sansi hinterher.

Nana war die Dorfköchin und vergaß niemals, auch den Tieren kleine Leckereien mitzubringen. Der Job passte zu ihr wie der Deckel auf den Topf. Nana quoll über vor Güte und Liebe, sodass ein guter Teil davon in ihre Gerichte einfloss und diese zum Genuss für Leib und Seele wurden. Jacko und Sansi kauten kurz darauf mit vollen Backen, und Buddy beschwerte sich bei Melia: „Wenigstens gibt Jacko dir immer etwas von Nanas Leckereien ab. Meine Sansi ist so verfressen, die lässt kein Krümelchen für mich über.“ Sofort fuhr Sansis niedliche kleine Pfote durch ihr dichtes Fell und förderte ein winziges Krümelchen zutage, das sie ihrem Gefährten Buddy voller Stolz hinstreckte. Alle mussten lachen.

Großmutter Nana wuschelte ihrer Enkelin durch die wilde Haarmähne. „Hast du einen schönen Tag, mein Mädchen?“

„Nichts ist schöner als dieser Tag!“, erwiderte Melia, wie sie es jeden Abend tat. Nana lachte, wie sie es ebenfalls jeden Abend tat. Doch im nächsten Augenblick wurde sie ungewöhnlich ernst. Schon lange spürte sie in ihren Knochen den Sturm heraufziehen und wusste, dass niemand ihm entkommen konnte. „Mein liebes Mädchen, ich habe gehört, wen ihr im Wald gesehen habt.“

„Giselle, die alte Petze!“, rief Melia ärgerlich.

„Sie hat es nur mir erzählt“, beruhigte sie Nana. „Eure Begegnung ist ein Zeichen. Die Zeit ist gekommen, in der wir alle unsere Aufgabe übernehmen dürfen.“ Liebevoll strich sie Melia die wirren Locken aus dem Gesicht. „Du wirst es großartig machen, mein Mädchen. Und du wirst niemals allein sein.“

Melia sah ihre Großmutter verwundert an. Was sollte das heißen? Sie öffnete den Mund, um nachzufragen, doch da setzte mit lautem Dröhnen das Trommeln ein. Das Fest begann!

Sansi, Jacko und alle anderen Tiergefährten sprangen auf und verließen ihre menschlichen Freunde. Der feierliche Einzug der Tiere stand kurz bevor.

„Los, Freunde! Ich bin gespannt, wie Giselle die Show aufzieht!“, zischte Buddy.

Melia schob mit Gewalt alle Gedanken und Fragen beiseite und spähte in Richtung Waldrand. Sie liebte diesen Moment! Die Tiere würden ins Dorf einziehen, um den Pakt mit den Menschen in Santalbán zu feiern. In jedem Jahr traten sie anders auf. Manchmal war ihr Erscheinen leise und tief berührend, manchmal war es laut und mitreißend.

In diesem Jahr kamen die Tiere leise. Still, würdevoll und feierlich. Tiere der Luft, des Wassers und der Erde. Frei und wild und schön. Sie zogen in langer Reihe einen Kreis um den Dorfplatz. Melia zählte auf den ersten Blick über hundert Tiere, doch es waren vermutlich noch viel mehr. Der Großteil der Tiere wohnte dem Fest ohnehin aus der Ferne bei. Auf dem Dorfplatz fand sich nur eine Abordnung jeder Gruppe.

Oh, wie sehr Melia sie alle liebte! Sie war wie hypnotisiert, und nie war sie glücklicher als in diesem Moment. Sie wünschte sich, nicht zu blinzeln, um ja nichts zu verpassen. Die Tiere schritten noch eine weitere Runde im Kreis um den Platz. Sie trugen die Köpfe hoch erhoben, ihre Gesichter waren ungewöhnlich ernst. Melia suchte Jacko und entdeckte ihn auf der Schulter eines Silberrücken-Gorillas. Sie schmunzelte. Jacko hatte zweifellos einen Hang zur Großspurigkeit. Das Äffchen erwiderte ihren Blick, wobei sein lustiges Gesichtchen jedoch ungewohnt ernst war. Dann blieben die Tiere stehen und erhoben ihre Pfoten, Hufe, Tatzen und Flügel und streckten sie in Richtung der Dorfbewohner aus. Melia standen Tränen in den Augen. „Vertrauen“, flüsterte sie leise. „Vertrauen und Verbundenheit mit uns. Das ist ihr Motto in diesem Jahr.“

Nun hielt der Dorfrat, angeführt von Giselle, seinen Einzug. Der Auftritt wirkte mickrig nach dem starken Schweigemarsch der Tiere. Giselle schwenkte ihr Räucherholz und trug die Nase zu hoch.

„Die Frau hat einfach kein Händchen für so was. Sie hebt schon wieder ab, Meli! Dabei hat meine Mutter erzählt, dass Giselle sich insgeheim vor den alten Zeremonien fürchtet. Am Räucherholz klammert sie sich jedenfalls fest wie Jacko an seinem Lieblingsbaum“, wisperte Buddy.

Melia zuckte mit den Schultern. Nana hatte ihr erzählt, dass früher ein Schamane die Rituale in Santalbán durchgeführt hatte, doch sie konnte sich an jene Zeiten nicht erinnern. Der Schamane war eines Tages auf mysteriöse Weise verschwunden und ähnlich geheimnisvoll wichen die meisten Dorfbewohner allen Fragen nach ihm aus. Die Kinder waren es gewohnt, dass der jeweilige Dorfrat die Festgestaltung übernahm.

Giselle streckte die Arme in die Höhe, und es wurde augenblicklich still. „Kinder der Erde.“ Buddy sprach leise mit, denn die einleitenden Worte waren immer dieselben. Eine Sekunde Pause. „Freunde mit Haut und Haaren, Fell, Panzern oder Federn.“

Drei Sekunden Pause. „Sie hat die Schuppen vergessen!“, zischte Buddy. „Ich fasse es nicht!“

Tatsächlich, dachte Melia. Wie nachlässig von Giselle. Bei der wichtigsten Zeremonie des Jahres so einen Patzer zu machen! Sie blickte zu den Schuppentieren hinüber, die sichtbar enttäuscht waren. Melia warf ihnen Kusshände zu, und die Pangoline wippten dankbar mit den Köpfen.

„Heute feiern wir das wichtigste Fest der Menschen und Tiere“, fuhr die Dorfrätin fort. Buddy zählte mit den Fingern die exakt fünf Sekunden dauernde Pause ab. Die Pausen waren Giselle immer wichtig, sie mochte es, wenn alle sie gespannt anstarrten. „Diesmal werde ich allerdings den Ablauf unseres Rituals etwas ändern.“ Damit wich Giselle komplett vom gewohnten Text ab, und Buddy blieb der Mund offenstehen. „Ich habe nämlich leider eine schlechte Nachricht. Und danach noch eine weitere, von der wir noch nicht wissen, ob sie gut oder schlecht ist.“

Melia blickte Micah verwirrt an. „Was wird das denn jetzt? Die vermasselt den ganzen Auftritt der Tiere! Schlechte Nachrichten können ja wohl bis morgen warten, oder?!“

Giselle fuhr fort. „Wir beginnen jedoch zunächst wie immer mit der alten Legende des Vulkans Peleo, die in diesem Jahr von unserem Dorflehrer Anjou vorgetragen wird. Bevor wir dann zu den Wirbeltänzen, dem großen Buffet und dem Finale mit der Bekräftigung des Paktes kommen, werde ich die wichtigen Nachrichten verkünden.“

Melia ärgerte sich. Giselle verdarb den ganzen Abend! Doch da trat schon Anjou in die Mitte des Kreises und lächelte breit. Nun beruhigte sich Melia etwas, denn sie mochte den Lehrer.

Anjou fing mit kräftiger Stimme an zu sprechen: „Ich erzähle die Legende des Peleo. Und ich erzähle sie so, wie sie seit jeher erzählt wurde. Also hört: Als das Leben auf der Erde begann, war es so wunderschön, dass auch die Sonne dort einen Platz haben wollte.“ Wie immer wurde Anjou an dieser Stelle von tosendem Applaus und lautem Stampfen der Dorfgemeinschaft unterbrochen. Melia pfiff auf zwei Fingern. „Und so stieg ein Teil des Sonnenfeuers hinab auf die Erde und ließ sich im Vulkan Peleo nieder. Seither verweilt das Sonnenfeuer dort und betrachtet das Leben.“ An dieser Stelle fassten sich alle an den Händen und wiegten sich gemeinsam hin und her. Anjous Stimme wurde jetzt lauter und dunkler. „Am Anfang kam die Sonne zu uns auf die Erde, und am Ende wird sie wieder gehen. Wenn es auf der Erde düster wird, verlässt das Sonnenfeuer seine irdische Wohnstatt.“ Blitzschnell zündeten alle Dorfbewohner kleine Kerzen an und hielten sie als Zeichen gegen die Dunkelheit hoch in die Luft. „In der Dunkelheit wird der Vulkan Peleo Feuer speihen und das nahende Ende der Welt einläuten. So lange der Peleo Funken sprüht, brennt die Flamme der Hoffnung noch. Dann muss das letzte Geheimnis gefunden werden, bevor die Flamme verlischt und die Welt untergeht.“

„Wir wollen es niemals dunkel werden lassen!“, riefen nun alle Dorfbewohner wie aus einer Kehle, und die Tiere stampften dazu mit ihren Pfoten.

Melia schrie mit, so laut sie konnte. Dann suchte sie mit ihrem Blick in der Ferne den Vulkan Peleo, der ruhig und verlässlich schlief. Es war kein Fünkchen Feuer über seiner Krone zu sehen.

Anjou trat ab. Nun sollten eigentlich die Wirbeltänze folgen, doch Giselle drängte sich wieder in die Mitte des Kreises. „An dieser Stelle muss ich leider etwas verkünden.“ Allgemeines Murren wurde laut, doch die Dorfrätin ließ sich nicht bremsen. „Unser Wald verändert sich. Schon seit einer Weile.“ Das Murren verstummte. „Manche von euch kennen das … das Tote Niemandsland.“ Ein Raunen ging durch den Kreis.

Melia hatte noch nie etwas vom Toten Niemandsland gehört. Und bei ihren Abenteuern mit Buddy und Micah im Wald hatte sie auch nichts Ungewöhnliches bemerkt. Allerdings waren sie schon länger nicht mehr tief im Dschungel gewesen. Sie sah zu ihren Freunden herüber. Die beiden zuckten ebenfalls ratlos mit den Schultern.

„Es scheint, als würde sich das Niemandsland ausbreiten“, fuhr Giselle fort. „Als würde es andere Teile des Waldes sozusagen … anstecken.“ Melia erschrak. Das klang irgendwie unheimlich. „Es ist tückisch. Manche Stellen im Wald sehen fast so aus wie immer, nur irgendwie sind sie … dunkler. Wir nennen diese Stellen Dunkelwelt. Wenn man zu tief in die Dunkelwelt gerät, führt einen der Weg zum Toten Niemandsland.“

Dunkelwelt, dachte Melia entsetzt und betrachtete das winzige Licht in ihrer Hand. „Oma, kennst du die Dunkelwelt?“, wandte sie sich an ihre Großmutter.

„Ja, mein Mädchen. Ich fürchte, ich kenne sie gut“, antwortete Nana.

Schon fuhr Giselle fort: „Heute haben Buddy, Micah und Melia jenen im Wald gesehen, den wir den Dschungelmann nennen. Ihr wisst, wen ich meine, und ihr wisst, was das zu bedeuten hat.“ Buddys Mutter entfuhr ein spitzer Schrei.

„Nein, wir wissen nicht, was das zu bedeuten hat!“, rief Buddy ärgerlich. Doch niemand antwortete ihm, denn nun sprachen alle aufgeregt durcheinander.

Endlich gelang es Giselles Stellvertreter, Fidelio, über den allgemeinen Lärm hinwegzuschreien. Er sah dabei ganz zufrieden aus, denn endlich kam er neben der Dorfrätin auch einmal zu Wort: „Macht euch keine Sorgen, wir als Dorfrat haben uns etwas überlegt. Zu unser aller Schutz haben wir uns – entgegen unserer Tradition, die außer dem Pakt keinerlei Gesetze vorsieht – entschlossen –“

Giselle stieß ihn an und entriss ihm energisch das Wort. „Ich, äh also wir, haben zwei neue Gesetze aufgestellt. Das erste lautet: Niemand setzt mehr ohne meine, äh … unsere Erlaubnis einen Fuß in den Wald.“

Alle verstummten entsetzt. „Das meint sie jetzt nicht ernst, oder?“, flüsterte Buddy.

„Ich glaube nicht, dass Giselle scherzen kann“, erwiderte Melia düster.

Giselles Zeigefinger zuckte dolchartig nach vorne und zeigte auf die drei Kinder. „Das neue Gesetz gilt ganz besonders für euch. Ihr macht Probleme, wo immer ihr auftaucht!“

Melia öffnete den Mund zum Protest, doch ihre Großmutter legte ihr den Arm um die Schultern und schüttelte den Kopf.

„Dass niemand, unter keinen Umständen, das Tote Niemandsland betreten darf, muss ich wohl nicht extra dazusagen“, fuhr Giselle fort.

„Was ist denn so schrecklich im Toten Niemandsland? Wohnt da der Dschungelmann? So furchterregend fand ich ihn gar nicht“, warf Melia ein. Nana lächelte bei diesen Worten.

„Weißt du, Meli“, begann Anjou freundlich, doch Giselle unterbrach ihn sofort: „Das ist eine lange Geschichte. Wir haben keine Zeit, jetzt darüber zu sprechen. Ihr Kinder streunt nicht mehr im Wald herum, und basta! Das ist alles, was ihr euch merken müsst. So, und jetzt komme ich zur zweiten Nachricht und dann zum zweiten neuen Gesetz.“

Die Kinder waren empört. Giselle verbot ihnen, in ihren geliebten Wald zu gehen, und sie bekamen nicht einmal eine richtige Antwort auf ihre Fragen! Doch Nana flüsterte: „Ob Mensch oder Tier – wenige, nur sehr wenige, finden unbeschadet den Weg aus dem Niemandsland zurück.“ Buddy, Micah und Melia lief ein Schauer über den Rücken und sie schwiegen.

„Die zweite Nachricht ist ebenfalls sehr bedenklich“, verkündete Giselle.“ Ich möchte betonen, dass ich dagegen war und leider überstimmt wurde.“ Vorwurfsvoll blickte sie in Nanas Richtung, und Melia schmunzelte. Wenn ihre Großmutter etwas mit der Sache zu tun hatte, konnte die Nachricht so schlecht nicht sein. „Fidelio, bitte, sprich!“, befahl die Dorfrätin und trat einen Schritt beiseite.

Das ließ sich ihr Vertreter nicht zweimal sagen und überschlug sich fast beim Sprechen. „Es wird jemand Neues bei uns einziehen. Probeweise. Auf jeden Fall –“

Dieses Mal piekte Giselle Fidelio mit ihrem spitzen Finger an, woraufhin ihm die Luft ausging.

„Wir haben uns bereiterklärt, jemanden aus Paradise City bei uns im Dorf aufzunehmen“, platzte sie mit der Nachricht heraus. Die Dorfbewohner zogen scharf die Luft ein. Paradise City hatten sie alle vor langer Zeit den Rücken gekehrt. Wenn überhaupt jemand einmal diesen Namen in den Mund nahm, so geschah das nie, um etwas Gutes darüber zu sagen. Und nun sollte tatsächlich jemand aus diesem unersättlichen Monster von einer Stadt zu ihnen ins Dorf ziehen?!

Giselle war in der Zwischenzeit hinter einer Hütte verschwunden. Für ein paar Sekunden herrschte gespannte Stille. Dann tauchte sie wieder auf und zog eine bildschöne Frau, die in glitzernde Gewänder gehüllt und mit unzähligen Verzierungen dekoriert war, hinter sich her.

„Hey, Giselle, brauchst du vielleicht eine Leine?“, rief Melia empört. Ihr wurde das herrische Gehabe der Dorfchefin allmählich zu viel. Buddy, Micah und die Tiere pfiffen Beifall. Leinen wurden in Santalbán als Symbol der Tierversklavung von allen zutiefst verachtet.

Giselle ärgerte sich sichtlich über den bissigen Kommentar und beeilte sich, den Gast vorzustellen: „Das ist Eve.“

Buddy und Melia rissen die Augen auf, als sie die Frau aus der Nähe sahen. Doch noch viel aufgeregter als die Kinder waren die drei Nasenbären Paco, Naco und Taco. Sie rieben sich die Augen, geblendet von all dem Funkeln und Blinken. Micah dagegen blickte Eve schweigend in die Augen. Melia folgte dem Blick ihres Freundes und erschrak, weil die Augen der Frau müde, ja traurig aussahen. Sie schimmerten dunkel wie zwei runde Teiche, die jeden Moment überzufließen drohten. Doch schnell wurde Melia wieder von Eves übriger Bling-Bling-Erscheinung abgelenkt. In Santalbán besaß niemand mehr als drei oder vier schlichte Kleidungsstücke.

„Was hat die denn da alles umgehängt?“, zischte Buddy. „Das muss ja tonnenschwer sein. Ob das abfällt, wenn sie sich bewegt?“

Giselle hatte seinen Kommentar gehört und war ausnahmsweise einmal mit seinen Worten einverstanden. „Ja, Balduino, Abfall ist das passende Wort für diesen Kram aus Paradise City. Eve hat versprochen, alles abzulegen. Und ich habe zur Sicherheit das zweite neue Gesetz neben dem Waldverbot festgelegt: Niemand im Dorf darf ab sofort mehr als zehn Dinge besitzen.“ Die Dorfrätin kam immer mehr in Fahrt. „Das ist Zeug aus der Stadt! Das brauchen wir hier nicht!“ Mit diesen Worten griff sie nach Eves funkelndem Haarschmuck und schleuderte ihn von sich, so als hätte sie sich daran verbrannt. „Wir müssen gut aufpassen, dass nichts von diesen Dingen unser Dorf vergiftet. Wir alle wissen, wozu diese Besitzgier in Paradise City geführt hat!“

Giselle machte eine Viertelpirouette und funkelte Eve wütend an. Fidelio entzündete hastig ein frisches Räucherholz und wedelte damit vor Giselles Nase herum. Diese Geste schien sie irgendwie zu beruhigen.

Eve hatte sich nicht gewehrt und auch noch kein einziges Wort gesprochen. Sie glitzerte einfach still vor sich hin. Jetzt fuhr Fidelio fort: „Also, Eve wird nun erst mal bei uns wohnen. Da sie nicht wie wir von Geburt an einen Tiergefährten hat, möchte ich fragen, welches Tier sich freiwillig …“

Diesmal wurde er nicht von Giselle, sondern von den drei Nasenbären unterbrochen. „Ich, ich, ich!“, schrien sie gemeinsam, und das war höchst ungewöhnlich, denn normalerweise sprach Paco für alle drei.

„Äh …? Gibt es noch weitere Freiwillige? Denn ihr drei scheint mir …“ Weiter kam Fidelio nicht.

„… perfekt für den Job!“, ergänzte Giselle und lächelte ein wenig boshaft. „Das Terror Trio ist dafür genau richtig!“

Paco, Taco und Naco erhoben sich und starrten wie hypnotisiert auf Eves glitzernde Kleider und Behänge. Paco murmelte: „Das Terror Trio ist Geschichte. Wir haben unseren Namen geändert.“

Giselle wischte diese Bemerkung mit einer Handbewegung fort. „Unwichtig. Das Konzept ist sicher noch dasselbe.“ Sie kicherte albern. „Also, ihr drei führt Eve ins Dorfleben ein und seid ab sofort ihre Tiergefährten.“

„Na, Spaß wird sie mit den drei Nasenbären jedenfalls haben“, grinste Buddy.

Einige Dorfbewohner nickten Eve einen Willkommensgruß zu. „Jetzt machen wir aber endlich weiter im Festprogramm!“, rief Melia. Sie war am Ende ihrer Geduld und konnte es nicht erwarten, zu tanzen und den Pakt zu bekräftigen. Doch die Dorfrätin war noch immer nicht am Ende ihrer Rede. „Nun kommen wir zum letzten Punkt für heute. Nana hat mir gesagt, dass sie etwas bekanntzugeben hat“, verkündete Giselle nun. Nana erhob sich und trat neben Giselle in die Mitte des Kreises.

„Oma?“, rief Melia verwundert.

Nana räusperte sich. „Meine Lieben, ich möchte euch etwas mitteilen. Ich habe lange darüber nachgedacht, und nun ist der Zeitpunkt doch früher gekommen, als ich dachte. Eve bleibt hier bei uns in Santalbán, und ich bin mir sicher, dass ihr sie herzlich willkommen heißen werdet. Dafür werde ich für eine Weile nach Paradise City gehen.“

Ihre Worte schlugen ein wie ein Blitz. Melia riss entsetzt die Augen auf. Ihr Hals wurde trocken. Ihr wurde heiß und kalt zugleich, und sie merkte kaum, dass Micah nach ihrer Hand griff und diese festhielt.

Giselle fand als Erste ihre Stimme wieder. „Ich finde, das ist eine ganz ausgezeichnete Idee! Du kannst, nun ja, du kannst dort für uns alle die Augen aufhalten.“

Nana, die Melia unverwandt anblickte, erwiderte schlicht: „Ich habe dort eine Aufgabe.“ Stumm baten ihre Augen die Enkelin um Verständnis.

Doch das Mädchen konnte seine Großmutter nicht verstehen. In ihrem Kopf überschrie ein Gedanke alle anderen: „Nein! Verlass mich nicht! Nein! Du bist meine ganze Familie. Nein! Nein! Nein!“ Das letzte Nein hatte Melia laut gerufen.

Nana zuckte zusammen, als hätte sie einen Stromschlag bekommen, und sprach ganz leise: „Mein geliebtes Kind, ich wünschte, die Dinge hätten einen anderen Lauf genommen. Doch manches im Leben können wir leider nicht nach unserem Willen ändern.“

„Du lässt mich allein!“ Melias Stimme brach vor Kränkung und Wut.

Nana legte alle Liebe in ihren Blick. „Niemals, mein Mädchen. Wir sind immer verbunden, und ich werde nur eine Weile nicht hier sein. Ich kann es dir noch nicht erklären, doch es wird jemanden geben, der über dich wacht. Du wirst sehen.“ Nanas Stimme zitterte, als sie nun verkündete: „Ich werde heute noch aufbrechen, denn ich muss morgen früh dort sein. Ich gehe jetzt gleich.“

Die alte Frau hatte kaum ausgesprochen, als Melia aufsprang, sich von Micah losriss und mit großen Sätzen mitten in den Kreis der Tiere stürmte. Dort hielt sie noch einmal kurz inne und sah ihre Großmutter an. Eine Träne rollte Nanas Wange herab, doch sie hielt Melia nicht auf. „So viel Zeit haben wir alle ungenutzt verstreichen lassen. Wir haben die Zeit gespannt wie ein Gummiband, nun schnellt es zurück und wir werden vom Lauf der Dinge überrannt. Erinnern wir sie gut, die alten Tage“, murmelte Nana leise. Ein Blatt löste sich vom „Alten Baum“ und schwebte sanft in ihre Hand. Das war noch nie geschehen! Der „Alte Baum“ warf niemals seine Blätter ab. Wer noch ein Zeichen brauchte, dass sich tatsächlich etwas Grundlegendes änderte, der hatte es jetzt. „Die Natur hat die Geduld verloren“, sagte Nana. „Sie nimmt nichts mehr hin, sondern spielt ab sofort direkt mit. Denn alles ist verbunden, alles ist eins.“

Melias Herz krampfte sich zusammen, und dann stürmte sie davon in Richtung Wald. Im Laufen hörte sie noch die Worte ihrer Großmutter: „Micah und Buddy, lauft und geht mit ihr!“


Melia stand am Waldrand und ihre Wut fühlte sich an wie ein unbezähmbares Monster. Sie stampfte mit dem Fuß auf und blickte dann verzweifelt auf ihren Tiergefährten. Jacko hockte starr vor Entsetzen auf ihrer Schulter. „Nun sind wir ganz allein, Jacko. Aber eines steht fest: Du und ich, wir bleiben immer zusammen!“ Das Äffchen blickte in Melias dunkle Augen, in denen ein wilder Sturm tobte. Es nickte mit dem Köpfchen und schlang seine Arme fest um ihren Hals. Und dann brach Melia das gerade neu erlassene Gesetz und stürmte mit Jacko in den Wald hinein. Die Abendsonne schickte den beiden ihre letzten blassen Strahlen hinterher.

Der Pakt des Lebens

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