Читать книгу Die Welt, die meine war - Ketil Bjornstad - Страница 44

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In diesem Sommer können wir uns keine Hütte leisten. Stattdessen besuchen wir Oma in Fredrikstad und die anderen Großeltern in Sarpsborg. Chrutschtschow besucht Boris Gleb, die kleine russische Enklave bei Skoltfossen, auf dem Westufer des Pasvikelva, an der Grenze zu Finnmark. Triphon von Petsamo ließ im sechzehnten Jahrhundert die russisch-orthodoxe Kirche errichten zur Erinnerung an die Heiligen Boris und Gleb, die 1015 den Märtyrertod erlitten und von ihrem Bruder Swatopolk erdolcht wurden. Swatopolks Vater, König Wladimir, hatte ihn zum Prinzen von Kiew ernannt. Aber Swatopolk wollte auch die Gebiete, die seinen Brüdern zugesprochen worden waren, und er schickte Leute, um die beiden zu töten. Zuerst gingen sie zu Boris nach Alta. Sie fanden ihn auf Knien vor einer Christus-Ikone, er sang fromme Lieder und bat Gott, Swatopolk nicht zu hart zu bestrafen. Widerstandslos legte er sich auf eine Bank und wurde erstochen. Danach schickte Swatopolk einen Boten zu Gleb und ließ ausrichten, der Vater sei erkrankt und wolle seinen Sohn sehen. Gleb machte sich auf den Weg, erfuhr jedoch unterwegs, dass der Vater schon tot war und dass Swatopolks Leute Boris ermordet hatten. Dennoch setzte er die lange Reise mit dem Schiff fort, bis er von Swatopolks Leuten entdeckt wurde. Aber es war Glebs Koch, der ihn dann erstach. Der Körper des Märtyrers wurde ins Wasser geworfen, ans Ufer, zwischen zwei Bäume. Später wurde er zusammen mit seinem Bruder in St. Basil begraben. Sie waren die ersten russischen Heiligen in der russischen und byzantinischen Glaubensgemeinschaft.

Eine Messe wurde komponiert zu Ehren dieser beiden Brüder, die sich widerstandslos hatten töten lassen.

Aber Chruschtschow besucht Boris Gleb nicht als Pazifist. Er ist der oberste Führer der Sowjetunion und besichtigt das sowjetische Kraftwerk in Skoltfossen, das von Norwegern gebaut wird. Er bringt seine Freude darüber zum Ausdruck, dass ein solcher Auftrag nach Norwegen gegangen ist. Vater ist sichtlich erfreut, als wir im Zug nach Fredrikstad sitzen und gemeinsam Dagbladet lesen.

»Es gibt Hoffnung!«, sagt er. »Russland ist unser Nachbarland. Wir dürfen keine Feinde sein.«

Ich höre auf alles, was Vater sagt. Wenn er über Chruschtschow und Kennedy spricht, denke ich an zwei strenge Väter, die uns alle töten können. Das hat jedenfalls Mads gesagt, als wir an der Haltestelle Hovseter unser letztes Gespräch vor den Sommerferien führten.

»Denk doch nur, Ketil, die können uns vernichten, diese beiden!«

»Wie denn?«

»Jeder hat seinen roten Koffer. Und sein rotes Telefon. Und seinen roten Knopf. Und wenn sie auf den Knopf drücken, dann ist es aus und vorbei mit uns!«

Ich hatte ihn noch nie so aufgeregt erlebt. Das machte mir Sorgen. Er ist der stabilste Punkt in meinem Leben. Wir entdecken die Welt gemeinsam. Nicht so, dass wir auf dem Schulhof kitschig unzertrennlich sind, wie einzelne Mädchen das sein können, wenn sie sich in kleinen Gruppen zusammentun und alle anderen wegekeln. Neben der Weltpolitik haben Mads und ich schlichte Interessen. Mads bastelt gern, schnitzt. Werklehrer Breivik, den wir den Tjapp-Tja-Mann nennen, weil er immer »Tjapp tja« sagt, wenn er ein neues Holzstück beurteilen soll, beschäftigt Mads die ganze Zeit mit Erle, Lärche, Weide, Tanne und Kiefer. Immer neue Schüsseln, Löffel und Gebrauchsgegenstände. Mads verfügt über die Gnade der Konzentration, während ich selbst auf dem Schulhof herumwandere und hoffe, nicht bemerkt zu werden. Eigentlich bin ich ein schwebender Ballon. Ich sehe gern. Ich betrachte gern. In dieser Zeit beobachte ich vor allem die junge Fredriksen mit den phantastischen Locken. Sie ist ein Sportsmädel.

Trägt keine Klamotten von Fusalp und den anderen albernen Kram. Ich sage mir, dass ich sie liebe. Aber niemand sonst darf das wissen. Ich habe sie nie so angefasst, wie ich einmal Willen anfassen konnte. Aber eines Tages vielleicht, denke ich. Eine zufällige Hand auf ihrer Schulter, wenn wir im Gang stehen und unsere Mäntel an die Haken hängen. Beim bloßen Gedanken prickelt alles in mir.

Aber zuerst kommt der lange Sommer. Ich stehe in Onkel Egils Kiosk unten bei Gressvik und verkaufe Bonbons zu fünf und zehn Öre das Stück. Er ist kein echter Onkel, er ist Großonkel, der Bruder von Tante Svanhild und von Oma. Alle Kinder meines Urgroßvaters, Severin Svensen, sind verrückt nach Musik. Das verbindet sie. Sie singen und summen die ganze Zeit irgendetwas, wenn sie glauben, dass niemand sie hört. Und wenn sie sich treffen, holen sie ihre Instrumente hervor, Onkel Birger die Geige, Onkel Sigurd das Cello, Onkel Aage das Klavier (das steht natürlich schon irgendwo im Zimmer), Tante Astrid und Tante Svanhild singen. Oma wandert durch die Wohnung in dem großen weißen Haus und sucht nach Noten, die Tormod und ich uns ansehen sollen. Sie weiß, dass im Melumvei jetzt ein Rönisch-Klavier steht, und findet, da könnten doch einige von den Melodien passen, die sie in alten Zeiten zusammen mit ihrem Mann zu den Stummfilmen in der Blauen Grotte und der Roten Mühle gespielt hat. Ihr Mann, ja. Von dem spricht niemand. Wurden sie auch geschieden, oder verschwand er einfach, nachdem er sie zusammengeschlagen hatte? Warum wurde Mutter immer so wütend, wenn jemand diesen Großvater erwähnte? Er ist nicht mehr da. Ich kenne nicht einmal seinen Namen. Selbst jetzt, fünfzig Jahre später, kenne ich ihn nicht. Wie konnte es so weit kommen? Stimmt es wirklich, dass er über Bord eines Kreuzfahrtschiffes gefallen ist? Unten bei Onkel Egil gibt es nicht so viele Erinnerungen und so gewaltige Gefühle, sondern den wunderbaren Geruch von Tabak, Lakritz und Schokolade. Ich stehe hinter dem Tresen und denke, dass das Leben voller Möglichkeiten ist. Man müsste sich einen Laden zulegen. Einen kleinen Kiosk, wo die Kundschaft ihre Totozettel abgibt. Is ja nich so arch. Sie reden hier eine Sprache, über die sie selbst lachen, während sie sie sprechen. Sie finden, dass diese Sprache unbeschreiblich blöd klingt. Und sie klingt ja auch blöd. Trotzdem sprechen sie sie. Hier kann man Arnt und Bernt und Raymond heißen. Draußen in Greåker heißen sie Darlén und Désirée. Aber in unserer Familie heißen sie Snefrid, Alfhild und Svanhild. Die Urgroßeltern hatten sich offenbar mit Richard Wagner vergiftet. Eine echte germanische Überdosis. Komisch, dass etwas aus uns geworden ist, sagt Großmutter Snefrid. Sie hat einen besonders lakonischen Humor, wenn sie mit krummem Rücken wie ein alter Papst durch ihre Wohnung geht mit ihrem Asthmainhalator. Einen Stock über ihr wohnt ihre Tochter Ellinor, die ihre eigene Zigarettenmaschine hat, sodass es beim Rauchen fast keine Unterbrechungen gibt. Mutter liebt ihre große Schwester, kann aber wegen der schlechten Luft nicht mit ihr im oberen Stock zusammen sein. Ich dagegen bin ungeheuer gern dort, denn es gibt da oben eine hübsche Kusine. Mutter hat hübsche Kusinen. Tormod und ich haben hübsche Kusinen. Sie sind so hübsch, dass es seltsam ist, dass wir nicht versuchen, sie zu heiraten, aber es steht ja nicht fest, ob sie uns wollen, und außerdem möchte ich Leah treu bleiben. Dennoch sitze ich da oben im ersten Stock, wo alle Zimmer in dichten Nebel gehüllt sind, während Ellinor auf dem Ledersofa sitzt und ihre selbstgedrehten Zigaretten raucht, damit sie nicht über die Straße zu Onkel Egil gehen muss, wenn sie eine neue 20er-Packung braucht. Ich kenne keinen so anheimelnden Ort wie diese Wohnung. Zugleich gibt es hier oben die Welt. Ausgesuchte Andenken aus allen Ecken des Erdballs. Kampfergeruch. Eine Truhe aus China, eine Geishapuppe aus Japan, ein Ebenholzneger aus Durban, eine Señorita aus Spanien und eine fast nackte Frau aus der Karibik. Onkel Ragnar ist um die ganze Welt gefahren. Er weiß, wie es mitten auf dem Stillen Ozean aussieht. Er kann über den Tafelberg reden, als wäre es Kolsåstoppen. Er kann über San Francisco erzählen wie über Drøbak. Wenn er über den Kongostrom spricht, habe ich das Gefühl, dass er den Lysakerelv meint. Er war in Jazzclubs in Shanghai und hat Hulatanz in Hawaii gesehen, er ist die ganze Küste von Westafrika hinuntergesegelt und hat sich in den Tropen Malaria geholt. Wenn er über den Südpolarstern redet, spricht er eigentlich über Navigation. Er ist ein stiller, gebildeter Mann. Er ist nicht Kapitän, aber vielleicht Steuermann, und das macht ihn mir besonders sympathisch. Als ich beim Skirennen im Kindergarten, das durch den unheimlichen Åsjordet-Wald führte, Fünfter wurde, fand ich diese Platzierung perfekt. Ich wünschte mir nichts anderes, als Nummer fünf zu sein. Dann blieben mir das Siegertreppchen und die ganze Aufmerksamkeit erspart. Außerdem wurde ich nicht Nummer vier, was die Position der Enttäuschung ist. Nummer sechs zu sein ist auch enttäuschend: das große Nichts. Denn wenn du Nummer sieben, acht oder neun wirst, spielt es eigentlich keine Rolle, ob du mitgemacht hast, wenn du der Siegerkultur angehörst, die die Welt erobert. Wenn du Nummer fünf wirst, bist du in der Allgemeinheit geborgen, aber dennoch steht dein Name auf dem Nachspann, selbst wenn sich niemand deshalb so richtig an dich erinnern wird. Und dort wollte ich sein, für den Rest meines Lebens. Eigentlich total unsichtbar, aber dennoch nicht total ausgelöscht. Ein Fünfer kann hoffen, dass in hundert Jahren eine Doktorarbeit über ihn geschrieben wird. Denn dann werden die Einser, Zweier, Dreier und Vierer aufgebraucht sein. Dann kann man den Scheinwerfer auf die vielen Fünfer richten. Und vielleicht können linkshändige Fünfer zum Thema einer besonders umfangreichen und wichtigen Doktorarbeit werden? Selbst wenn man dann längst tot ist, wäre das doch eine kleine Ehre. Vielleicht gibt es einen unbekannten Zusammenhang zwischen Fünfern und Linkshändern, der erklären kann, wieso Leonardo da Vinci so überraschend wenige Bilder gemalt hat, wenn man bedenkt, wie groß seine Begabung gerade auf diesem Gebiet war. Man könnte auch eine Doktorarbeit über den Zusammenhang zwischen Fünfern und Waldorfschülern schreiben. Den Zusammenhang zwischen Fünfern und Sexualität, Fünfern und Verschlossenheit, Fünfern und Sexualverbrechern. Großer Gott, was denke ich eigentlich für einen Unsinn! Der gehirntote Imperativ der Konkurrenzgesellschaft. Noch denke ich nicht zu ausgiebig an zukünftige Doktorarbeiten. Ich habe mehr als genug mit meiner Kindheit zu tun, und ich finde es aufregend, dass dieses Wohnzimmer von Onkel und Tante, das in vieler Hinsicht so typisch Gressvik ist, zugleich ein Weltall bedeutet. Wenn Tante Ellinor blaugrünen Likör aus einem winzigen Glas getrunken hat, erzählt sie gern von ihren Reisen, die in ihrem Fall mit Boot und Linienflug vor sich gehen. Sie spricht über die Großen Seen wie über den Mjøsa. Zusammen mit Ragnar war sie in der Symphony Hall in Chicago und hat die Symphonie Pathétique gehört. Damit können nicht viele andere aus Fredrikstad prahlen. Sie prahlt aber auch nicht, sie raucht einfach eine nach der anderen und denkt an die letzte Landung in Johannesburg, die unangenehm war, weil das Flugzeug sozusagen in Stufen absackte. Aber, denke ich, wie kann man so ruhig sein, wenn man mit großen modernen Jetflugzeugen gereist ist und auf Hawaii Hulatänzerinnen gesehen hat? Warum steht sie nicht bei Onkel Egils Kiosk an der Ecke und schreit alle diese außergewöhnlichen Erfahrungen aus sich heraus? Soviel ich weiß, hat Mutter Norwegen in ihrem ganzen Leben noch nicht verlassen, während ihre Schwester, Tante Ellinor, überall war. Nur der Südpol fehlt. Aber dorthin kommt sie sicher auch noch. Erst vor zwei Jahren war sie mit der DC-7 der SAS geflogen, über den Nordpol und Anchorage nach Tokio. Und sie war fast an dem Tag in Los Angeles, an dem Elvis Presley die skandinavischen Prinzessinnen Margrethe von Dänemark, Margaretha von Schweden und Astrid von Norwegen traf. Er hatte vor ihnen auf Knien gelegen mit seiner phantastischen Schmalztolle. Deshalb frisierte Tormod sich jetzt mit Brylcreme. Presley nahm in den Paramount Pictures Studios den Film G. I. Blues auf. Die Prinzessinen hatten Shirley MacLaine, Dean Martin und Juliet Prowse getroffen. Das ist der Vorteil, wenn man aus einer Königsfamilie stammt. Aber obwohl Tante Ellinor gerade das verpasst hatte, ließ sie sich von all ihren Reisen um den Erdball nicht beeindrucken. Man konnte ihr nichts ansehen.

Einige Jahrzehnte später wird Elvis Presley zum bedeutendsten Namen des 20. Jahrhunderts gewählt, vor Hitler, Yitzak Rabin, Papst Johannes Paul II und Martin Luther King. Ich fand es schon damals schwierig, Presley zu verstehen. Etwas an seiner fettigen Frisur, dem schmierigen Lächeln und den seltsamen Gitarrenklängen erregte meinen Widerwillen. Außerdem hasste Mutter Popmusik doch so sehr.

Aber warum sah man den Menschen ihre Reisen nicht am Gesicht an? Warum wurde Tante Ellinor nicht exotischer, nachdem sie diese vielen Länder besucht hatte? Stattdessen saß sie da, rauchte selbstgedrehte Zigaretten und starrte die Wand an. Als ob sie nur kurz in Sarpsborg gewesen wäre, um in der Konditorei in der St. Mariegate eine Sahneschnitte zu verzehren.

Die Welt, die meine war

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