Читать книгу Die Welt, die meine war - Ketil Bjornstad - Страница 43
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Der Frühling explodiert. Die Bäume blühen. Knallgrünes Gras. Er kann sich nicht daran gewöhnen. In Algerien kommen 200 Menschen ums Leben, als die OAS zu neuen Angriffen übergeht. 15 000 Soldaten der lokalen muslimischen Ordnungstruppen werden nach Algier geschickt, während Oran durch fünfzehn Bataillone von algerischen Artilleristen verstärkt wird. Sie gehören der französischen Armee an, aber sie stehen unter dem Kommando von algerischen Offizieren. Die französische Regierung hat eine Luft- und Bootsbrücke zwischen Algerien und Frankreich eingerichtet. Alle französischen Staatsbürger können jetzt auf Staatskosten nach Frankreich zurückkehren. Sein Vater spricht über alle, die als Flüchtlinge leben müssen, die ihr Zuhause verlassen, auch wenn sie das nicht wollen. Und nun schaltet sich Abel wieder ein. Der Flüchtling aus Schweden, aus Palästina, von Gott weiß woher. Aber wo ist das Motorrad, und wo ist Leah? Stattdessen hält er eine junge blonde Frau an der Hand, die Ähnlichkeit mit Liv Ullmann hat. Er weiß viel über Liv Ullmann. Er hat sie im Theater von Bjørns Vater im Kaukasischen Kreidekreis gesehen.
Aber wo ist Leah?
Abels Blick weicht aus. »Die ist bei ihrer Mutter.«
»Und wo ist das?«
Aber Abel will nicht über Leah sprechen. Jedenfalls nicht heute. Stattdessen will er über die junge Frau sprechen, um die er den Arm gelegt hat. Kristina. Sie lächelt verlegen. Reicht ihnen die Hand, erst dem Vater, dann der Mutter. Lächelt die Jungs an. Leah ist anderswo. Das versetzt ihm einen Stich.
»Und wo ist das Motorrad?«
Abel wirkt noch immer ausweichend. Will ihm nicht ins Gesicht sehen.
»Musste es verkaufen, jetzt, wo wir bald heiraten.«
Die Geschichte wird erzählt, als wir im Wohnzimmer sitzen. Ich sehe Abel an, wie er da auf dem Sofa sitzt und seine neue blonde Freundin begrabscht. Sie ist jedenfalls keine Jüdin. Sie hat in allerlei schwedischen Institutionen Gemüsesuppe gekocht. Abel hat sie in einer dieser furchtbaren Diätanstalten kennengelernt, mit denen Vater dauernd droht, wir sollen dort Urlaub machen, um »unsere Verdauung auf Trab zu bringen«. »Steck dir die Verdauung doch sonstwohin«, murmelt Mutter. Auch sie hat Vaters rohe Zwiebeln gegessen und weiß Bescheid. Da sitzt also Abel und erzählt begeistert von ihren Kochkünsten. Er ist ja total verschossen! Ich rutsche verlegen hin und her. Wird er jetzt auch noch über ihren Körper erzählen? Soll Mutter eine Kohlezeichnung von ihr machen, splitternackt? Nach meinen Albtraumvorstellungen oben auf Fossumbakken ist dieser Besuch vielleicht eine grauenhafte Vorahnung von etwas anderem, das passieren wird, das mich mehr treffen wird als die Tatsache, dass Abel sein Motorrad verkauft hat. Mutters Bruder wurde ja auch von einer fremden Frau getroffen. Sie kam von Nirgendwo und zog in sein Haus ein, eine elegante und temperamentvolle Frau, sie sah aus, als ob sie die Hauptrolle in italienischen Filmen spielte, aber das tat sie doch gar nicht. Stattdessen machte sie Onkel Kjell zu einem glücklichen Vater. Jedenfalls war nichts mehr so wie früher. Und auch jetzt ist alles verändert, da Kristina neben Onkel Abel sitzt und die Schwedische Sünde verkörpert. Die habe ich nämlich gesehen, quicklebendig und in Vierfarbdruck, im Wäldchen unterhalb der neuen Schule, wo ich zusammen mit den schlimmsten Jungs aus der Klasse herumgestanden habe. Die ganze Zeit werde ich zwischen den Braven und den Schlimmen hin und her gerissen. Aber es ist viel witziger, mit den Schlimmen zusammenzusein. In den Pausen rennen sie schreiend mit dem Hockeyschläger durch die Gegend. Sie klettern auf die hohen Bäume, dann fallen sie herunter und brechen sich den Arm oder schlagen sich ein Loch in den Kopf. Sie machen sich an den Autos zu schaffen, die vor den weißen Wohnblocks stehen, und sie brüllen »Uääääh!«, wann immer sie einen Mongoloiden sehen. Einige von ihnen wohnen weit außerhalb der Stadt, in Lambertseter oder so. Aber auch unter ihnen gibt es Millionäre. Einer wird jeden Morgen in einem grünen Jaguar zur Schule gefahren. Ein anderer, ein vielversprechender Eishockeyspieler, wohnt irgendwo bei Galgeberg. Ein Dritter holt zu allen möglichen und unmöglichen Zeiten seinen Schniedel hervor und zeigt, wie steif der ist. Er steht mit der Schwedischen Sünde im Gebüsch und starrt sie an, zusammen mit uns anderen. Wir wissen nicht, was wir mit dem Bild anfangen sollen. Eine nackte Frau ist dermaßen überwältigend, dass uns ein Gefühl der Ohnmacht überkommt. Ja, was zum Teufel sollen wir denn machen? Einfach hier stehen und gucken? Wir haben offenbar keine andere Wahl. »Scharfe Titten.«
»Ach, seht euch doch bloß den Stachelbeerbusch zwischen den Oberschenkeln an!«
»Das ist die Kusine von meinem Vater!«
»Red kein Blech!«
»Doch. Total sicher. Tatsache. Dieselben glänzenden Lippen. Und Weißbrot in den Haaren.«
Aber es ist Kristina, die am vorletzten Tag im Mai 1962 mit uns im Garten sitzt. Ach, was ist sie schön. Obwohl ich erst ein Jahr alt war, als Ingmar Bergmans Die Zeit mit Monika in die Kinos kam, weiß ich gut, dass Harriet Andersson ihren Badeanzug abstreifte und sich von ihrem Filmliebhaber die Schultern streicheln ließ. Vater hatte eine alte Ausgabe des Time Magazine, in dem über »Sin & Sweden« berichtet wurde. Lange, ehe ich geschlechtsreif werde, weiß ich, dass Schweden das Land der Sexualität ist. Dort wird die Sünde in der Schule durchgenommen. Vielleicht werden auch Pornozeitschriften an die Schüler verteilt. Abel hat viele Jahre in Schweden gelebt. In vielen Zusammenhängen, vielleicht zu vielen, hat er »das Leben dankend angenommen«. Deshalb bekam er das wunderbare Juwel Leah. Und deshalb sitzt er jetzt hier neben der Schwedischen Sünde. Aber zum Glück merke ich, dass Mutter sich ein bisschen distanziert. Sie ist schon einige Male mit Abel aneinandergeraten. Auch, wenn sie nackte Neger zeichnen kann, passt es ihr nicht, dass Abel immer wieder mit seiner Tochter FKK-Treffen besucht. »Es gibt Grenzen«, hat sie zu Vater gesagt. Aber Vater bringt kein böses Wort über Abel über die Lippen. Nur, dass Abel eben Abel ist. Das meine ich ja auch, als ich hier sitze und höre, wie er sich über seine Zukunftspläne verbreitet, er will nach Hallingdal ziehen und sich dort häuslich niederlassen, Lehrer werden, sich von Rohkost ernähren und Kristina Kinder machen. Ein Kind war schon da, in ihrem Bauch. »Zeig mal deinen Bauch, Kristina!«, befiehlt er. Gehorsam entblößt sie ihren Bauch, indem sie die Bluse hochstreift. Der kleine niedliche Nabel. Fast wie Leahs. Die weiße Haut, bei der ich Schlangen im Kreuz und ein Bleigewicht zwischen den Beinen verspüre. Ist sie nicht viel zu jung für ihn? Da sitzt er nun und redet, über die Zukunft, über die Arbeit, über Ernährung. Er stopft sich mit der mitgebrachten Schokolade voll, von der er uns allen auch etwas anbietet. Er füllt allein den kleinen Garten aus. So, wie er das Wohnzimmer füllt, wenn er auf dem Sofa sitzt. Er redet die ganze Zeit. Mutter und Vater sind niemals richtige Gesprächspartner. Es gibt solche Menschen, das werde ich noch lernen. Sie sind der Mittelpunkt des Universums. Sie sind Sonnen und Planeten auf einmal. Wir sind wie Satelliten oder bleiche Monde um seinen Tisch verteilt. Seine schwarzen Locken. Die Brille, die die Augen so groß macht. Die muntere Stimme, die bis nach oben in Randklev zu hören ist. In seiner Welt sind wir alle eine Kulisse. Aber eine wichtige Kulisse. Und weil wir alle ihn lieben, aus verschiedenen und ab und zu unbegreiflichen Gründen, wollen wir, dass er sitzenbleibt, auch mit dieser Liv-Ullmann-Gestalt, die so still und gehorsam neben ihm sitzt. Wir wollen, dass er Abel ist, dass er noch immer auf dem Motorrad in unser Leben kommt, mit Leah auf dem Gepäckträger. Und wenn es doch nicht passiert oder in der Zukunft nicht mehr passieren kann, müssen wir mit dieser Kristina leben, versuchen, sie zu verstehen und sie zu mögen. Sie sagt kein böses Wort. Sie ist ein Engel. Ein schöner schwedischer Engel. Aber sie hat einen Stachelbeerbusch zwischen den Beinen, und nur für den interessiert sich Abel. Was soll ich denken oder meinen.
Wo ich es doch nicht einmal wage, daran zu denken, wie Mutter oder Tante Svanhild da unten aussehen. Es gibt einzelne Gedanken. Aber damit steht noch nicht fest, dass man sie unbedingt denken muss. Sie können in den Bibliotheksregalen stehen. Dort sein, bis zur passenden Gelegenheit. Und das findet Vater wichtig, weil er doch die Bibliothekshochschule besucht hat. Er wirft keine Bücher weg, zu Mutters großer Verzweiflung. Deshalb habe ich Sagan im Bücherregal gefunden. Da gehören Bücher hin, findet Vater. Reisegefährten auf dem Weg durch das Leben. Abel zog ein Buch heraus, und da stand Stachelbeerbusch und Die schwedische Sünde. Aber jetzt, an diesem Tag im Mai, erzählt er von einem weiteren Film, den er gesehen hat, Antonionis La notte. Er erzählt von Mastroianni und Moreau, darüber, wie dieses unglückliche Ehepaar einen sterbenden Freund im Krankenhaus besucht. Der fehlende Kontakt zwischen den beiden, als sie wieder draußen im Leben sind, vor dem Krankenzimmer. Aber der Sterbende scheint auch die sterbende Beziehung zu symbolisieren. Sie, die in den Teil der Stadt zurück will, in dem sie als Jungverheiratete gewohnt haben. Er, der nicht begreift, was sie empfindet oder worüber sie mit ihm zu sprechen versucht. Wie immer fängt Abel an zu lachen, als es wirklich traurig wird. »Eine total zerstörte Ehe!«, sagt er. »Sie haben ihre Beziehung verfaulen lassen! Sie sind zu ihrem eigenen Kompost geworden!«
»Das ist nicht komisch«, sagt Mutter mit scharfer Stimme.
»Doch«, sagt Abel und zieht Kristina noch fester an sich. »Und das Komischste ist, als Lidia, also Moreau, einen Liebesbrief hervorzieht und Giovanni zeigt. Ja, sie liest ihm den Brief vor. Einen phantastischen Brief, so einen, wie alle ihn gern einmal im Leben bekommen würden. Aber er verbindet nichts damit. Deshalb fragt er, wer ihr das geschrieben hat. Und sie sieht ihn an und sagt: »Das warst du!«
Abel kippt vor Lachen fast von der Gartenbank. Kristina fühlt sich sichtlich unwohl in ihrer Haut.
»Ist das nicht tragisch? Ist das nicht komisch?«, heult er.
Mutter und Vater geben keine Antwort. Warum können sie das nicht sagen, denke ich, während ich die Lippen zusammenkneife. Dass das überhaupt nicht komisch ist. Dass ich jede Nacht Albträume davon habe. Dass es bei Mutter und Vater genauso aussieht. Dass sie vergessen werden, warum sie zusammen sind, warum sie geheiratet haben, warum sie einander lieben. Dass alles am Ende tragisch wird. Wie in der Oper.
Nun versinkt Abel für einige Sekunden in Gedanken. Als ob ihm klargeworden ist, dass er nicht ganz das erhoffte Publikum gefunden hat. Etwas Wachsames, tief dort drinnen: Freund oder Feind?
Wer ist er? Woher kommt er? Ich weiß nur, dass er Jude ist. Aber was bedeutet es, Jude zu sein? Isaac Stern ist Jude. Einstein war Jude. Abel ohne Land. Er reist die ganze Zeit auf dem Weg zu etwas oder auf dem Weg fort von etwas.
»Heute Nacht wird Eichmann gehängt«, sagt er plötzlich und gibt dabei Kristina ein Zeichen zum Aufbruch.
»Wie denkst du darüber, Abel?«, fragt Vater vorsichtig. Ich sehe sein kluges Gesicht an, versuche, etwas von ihm zu lernen. Von seiner langsamen, aufmerksamen Art, in der er sich Menschen nähert. Abels Miene verändert sich.
»Du weißt, was ich meine, Per«, sagt er. »Auch wenn ich Jude bin, will ich nicht, dass Juden so morden, wie Juden ermordet worden sind. Aber Eichmann …«
Er sitzt plötzlich mit krummem Rücken da und starrt vor sich hin. Kristina legt ihm den Arm um die Schultern.
Nicht weinen, denke ich. Um Gottes willen. Nicht weinen. Dann muss ich nur an Mutter denken, wenn sie sich mit Vater streitet. Ich will hier keine Tränen.
Aber Abel weint nicht. »Es ist alles so sinnlos«, sagt er leise.
Sechs Stunden später wird Eichmann hingerichtet.
»Lang lebe Deutschland«, sagt er, als er unter dem Galgen steht. »Lang lebe Argentinien. Ich musste der Flagge des Krieges und meines Landes gehorchen. Ich bin bereit.«
Die Luken unter ihm fallen zur Seite. Der Tod öffnet sich. Eichmann ist nicht mehr da.