Читать книгу Die Welt, die meine war - Ketil Bjornstad - Страница 21
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Der Herbst kommt. Vater pflückt Äpfel. Mutter steht am Fenster und seufzt: »Wie sollen wir die denn alle aufessen?«
Ich stehe in unserem Garten, oder dem Garten, den wir gemietet haben, und schnuppere die scharfe Herbstluft. Alles kommt mir jetzt klarer vor, draußen und drinnen. Ich weiß, wo die Freunde sind, und wo sich die Feinde aufhalten. Aber die ganze Zeit passiert Unerwartetes. Tormod und ich dürfen Vater nicht mehr zu Ulf begleiten. Die beiden haben zu viel zu besprechen, sagt Vater.
Aber nach Mærradalen dürfen wir mitkommen.
Die Miezekatzen. Die sind einfach nur da. Sie lassen sich nicht zu rhythmischer Gesundheitsgymnastik zwingen, um vollwertige Menschen zu werden, die den Unterschied zwischen links und rechts kennen. Ich streichle den kleinen grauen Wicht, der schnurrt wie der Fiatmotor der Nachbarn, während ich dem langen Gespräch der Erwachsenen zuhöre. Vater spricht über den Krieg, der vielleicht wieder kommen wird, über die Sowjetunion und die USA.
Warum können sich die Politiker nie einigen, frage ich mich. Warum gibt keiner je nach? Chruschtschow sieht doch so lieb aus. Bei Eisenhower bin ich mir nicht so sicher, aber seine Tage sind ja ohnehin gezählt. Begreifen die nicht, welche Angst Vater hat? Verstehen sie nicht, wie schlimm alles kommen kann?
Auf dem Heimweg begegnet uns ein Mann. Er kommt uns mit einem irischen Setter auf dem Weg entgegen. Der Setter ist dünn und nervös, schielt die ganze Zeit zu seinem Herrn hoch, aus Angst, etwas falsch gemacht zu haben. Und wer ist der Herr, denke ich. Ein echter Bürger von Makrellbekken, mit einem Ferienhaus in Haugastøl und einer Anwaltskanzlei beim Rathaus. Da fehlt nur noch das Schrotgewehr.
Vater grüßt. Die beiden kennen einander. Also habe ich mich geirrt. Das ist kein Jurist. Er ist Ingenieur, wie Vater. Einer von denen, die alles wissen. Die Atombomben bauen und dagegen demonstrieren.
Sie kommen ins Gespräch. Aber ich höre nicht zu. Ich sehe den Hund an. Der sieht mich an. Was hat er davon, dass er gehorsam ist? Sein kluger Kopf. Die sensiblen Schnurrhaare. Der sanfte, wachsame Blick. Er könnte uns alle drei umbringen. Er könnte sich in unseren Kehlen verbeißen, wenn er das wollte. Aber das will er nicht. Er will gehorsam und brav sein. Er hält das für den richtigen Weg. Aber was weiß er über das Leben? Hat er recht? Wird der Besitzer freundlicher, weil der Hund gehorsamer wird? Der Ingenieur aus Makrellbekken reißt an der Leine, wenn der Hund an Pflanzen schnuppert, die ein wenig zu weit wegstehen. Der Hund soll still sitzen und gehorchen.
Und der Hund sitzt. Der Hund gehorcht.
Die Erwachsenen achten nicht auf ihn, während sie reden. Nicht einmal Vater würdigt ihn eines Blickes. Aber er hatte ja immer schon Angst vor Hunden.
Und dann sehe ich ihn.
Den aufrichtigen, suchenden Blick. Wann habe ich zuletzt gesehen, dass mich ein Mensch so angestarrt hat? Dieses niemals Verurteilende. Das Erwartungsvolle. Wollen wir spielen? Spaß haben? Willst du mich streicheln? Vielleicht eine Runde durch den Wald mit mir gehen? Ist das nicht ein phantastischer Tag?
Er wedelt vorsichtig mit dem Schwanz. Er möchte mein Freund sein. Er ist hier auf der Welt, und er möchte das Beste daraus machen. Was wäre nötig, damit er wütend wird? Wann sagt er, jetzt reicht es? Wann schlägt er zurück?
»Du bist ein Freund«, flüstere ich und gehe in die Hocke, während er mein Gesicht leckt.
Chruschtschow spricht vor der UN-Vollversammlung. Er wedelt nicht mit dem Schwanz. Er ist guter Dinge. An der Haltestelle Smestad stehe ich mit Mads. Mads redet drauflos.
»Jetzt gibt es Krach«, sagt er. »Wieso denn?«
»Chruschtschow bei der UN.«
»Ach«, sage ich. Ich weiß nicht viel über die UN. Ich weiß nur, dass die Amerikaner sie UN nennen, während die Franzosen ONU schreiben, noch ein Beweis dafür, dass Französisch einfach Amerikanisch von hinten ist. Außerdem sind sie Snobs, die einen Extra-Vokal brauchen. In einigen Jahren wird mein Bruder sich zum Glück eine Freundin zulegen, die sich über diesen Snobismus lustig macht. Alle glauben, dass sie Französisch spricht, wenn sie sagt: »Bleu de Gans, oh là là!« Das klingt doch so vornehm!
Mads ist außer sich vor Begeisterung, als Chruschtschow im UN-Gebäude eingetroffen ist.
»Weißt du, wie norwegisch die UN eigentlich ist? Trygve Lie war der erste Generalsekretär. Und wo hat er gewohnt, was meinst du? Na, oben in dem Hochhaus, das wir jeden Tag von der Schule aus sehen können. Vielleicht ist er auch auf die Waldorfschule gegangen? Aber sollten wir darauf stolz sein?«
»Nein«, sage ich, weiß aber nicht, ob ja richtiger gewesen wäre.
»Genau, lieber Freund.« Mads setzt die selbstsichere, supererwachsene Maske auf, die ich liebe.
»Ist das UN-Gebäude eigentlich nicht viel zu norwegisch? Merkst du nicht den Stallgeruch? Sieh dir den Saal des Sicherheitsrates an. Mein Vater sagt, den hat dieser Arneberg entworfen, von dem auch die Villa unserer Nachbarn stammt. Und wer, glaubst du, hat das große hoffnungsvolle, kitschoptimistische Bild an der Fondwand gemalt?«
»Was ist kitschoptimistisch, und was ist eine Fondwand?«, frage ich. »So ist es eben, Ketil. Du musst aufhören, Erklärungen für Dinge zu verlangen, die ohnehin gut klingen. Frag lieber, wie der Maler heißt. Per Krohg. Genau. Der Sohn von Christian Krohg. Von dem hast du doch wohl schon mal gehört? Einer aus unserer Klasse hat zu Hause einen echten Krohg im Wohnzimmer hängen. Weißt du nicht mehr? Bei dem Reederssohn zu Hause? Wo das Geld aus der Wand quillt? Kannst du dich nicht an den Geburtstag erinnern? Diese komische Frau mit dem riesigen Hut? Das war ein Porträt seiner Tante. Bokken Lasson. Sie hat Laute gespielt und in Kabaretts gesungen. Außerdem war sie eine der Gründerinnen der Waldorfschulen in Norwegen. Und jedenfalls ist das ein norwegischer Maler. Also drei Norweger im Hauptgebäude der UN. Aber stimmt das rechnerisch? Dürfen wir so großtun, Ketil? Weißt du nicht mehr, wie Ledsaak uns vorige Woche genannt hat? Eine winzigkleine Nation mit vier Millionen Stallwichteln?«
»Ich weiß nicht so ganz«, sage ich.
»Aber Chruschtschow ist in New York«, sagt Mads mit verträumtem Blick, als sei er auch da.
»Eines Tages wirst du Ministerpräsident«, sage ich.
»Nein, Justizminister«, korrigiert er, während er sich mit seinem schmutzigen Zeigefinger einen dicken Popel aus der Nase holt.