Читать книгу Die Welt, die meine war - Ketil Bjornstad - Страница 11

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Er hat lesen gelernt, aber er kann nicht schreiben. Er liest Aftenposten, wenn er aus der Schule nach Hause kommt. Dann liest er Dagbladet, wenn der Vater nachmittags mit der Straßenbahn kommt. Er steht am Fenster und sieht zu, wie sein schöner Vater hinkend den Hang von der Haltestelle hochkommt und in den Melumvei einbiegt. Der Vater hat seine braune Tasche bei sich. Darin hat er Graubrot in einer Papiertüte. Und er hat Dagbladet unter dem Arm. Die wogende Bewegung, elegant und unbeholfen zugleich, als sehe man im Kino ein Kamel. Aber wann sieht man im Kino Kamele? In 80 Tagen um die Welt hatte am Zweiten Weihnachtstag im Colosseum-Kino Premiere. Tante Svanhild hat versprochen, dass er und sein Bruder den Film am kommenden Sonntag sehen werden. Er hat den Verdacht, dass sie in David Niven verliebt ist, der die Hauptrolle spielt. Er hat Bilder von David Niven in der Zeitung gesehen. Ja, David Niven passt zu Tante Svanhild. Sie haben sogar eine gewisse Ähnlichkeit. Die verfeinerten Gesichter, auch wenn Tante Svanhild eine ziemlich große Nase hat.

Wann hat er entdeckt, dass die Zeitungen das große Fenster zur Welt sind? Die vielen Bilder. Die Texte, die er liest, obwohl er oft etwas Falsches liest. Darüber wird gelacht, aber niemand ist boshaft. Er weiß, dass er in eine liebe Familie hineingeboren worden ist. Und dennoch hat er diese Angst, wenn die Stimmen seiner Eltern lauter werden. Das ist das schlimmste Geräusch von allen.

Jetzt weiß er, dass Einar Gerhardsen Ministerpräsident ist und Halvard Lange Außenminister. Er weiß die Namen sämtlicher Minister.

Aber er weiß sie nicht mehr, als er sich hinsetzt, um diese Geschichte zu schreiben. Vierundfünfzig Jahre später. Um im Leben allein sein zu können, wird er Kenntnisse brauchen. Er ist gern ein Betrachter. Er hat gesehen, wie gern die Eltern Bücher lesen, wie sie über Literatur sprechen, als sei das Gelesene wirklich. Wenn er Zeitung liest, ist alles wichtig.

Am wichtigsten ist, was in der gefährlichen Zeitung steht. Die heißt Orientering. Sie ist nicht wie die anderen. Es gibt sie nicht jeden Tag. Sie bringt die Nachbarn dazu, den Vater vielsagend anzusehen. Dann begreift er, dass auch der Vater nicht wie alle anderen ist. Das hat er schon im vergangenen Herbst bei den Gemeindewahlen begriffen, als er mit einem Pappschild auf der Brust dastehen durfte. Darauf standen etliche Namen, und keiner hatte etwas mit einer der großen Parteien zu tun. Es war nämlich eine freie Wählerliste, auf der die Schauspielerin Liv Dommersnes ganz weit oben stand. Er versuchte, alles aufzuschnappen, was die Erwachsenen untereinander redeten. Er merkte sich Wörter wie Protest und Alternative. Orientering war eine Alternative. In dieser Zeitschrift wurden die Aktivitäten der Regierung kritisch betrachtet. »Der dritte Standpunkt«, über den sein Vater so oft sprach. Weder rechte Sozialdemokraten noch Kommunisten, weder Moskau noch Washington, sondern eine unabhängige sozialistische Position.

Der Vater war Sozialist.

Aber das sagte er niemandem. Das wäre dumm gewesen. Sozialisten, das klang wie etwas, das man beim Metzger kaufte. »Vier Frikadellen und drei Sozialisten, bitte.«

Stattdessen nutzte er die Zeit zum Zuhören. Für den Versuch, zu verstehen. Und er begriff, dass der große Krieg noch nicht lange zurücklag. Den hatten seine Eltern beide erlebt. Die Deutschen hatten sogar auf die Mutter und die Großmutter geschossen, als die beiden über ein Feld bei Fredrikstad gelaufen waren. Und der Vater hätte durchaus umkommen können, wenn die geplante Sprengung der Brücke über den Sarpefoss nach Plan verlaufen wäre. Viele Jahre später erfuhr er, dass sein Onkel, der liebe Onkel Odd, der am Borgenhaugen Herrenkleidung verkaufte, einer der geheimen Widerstandsgruppen angehört hatte. Erst lange nach seinem Tod ging den anderen auf, was er während des Krieges geleistet hatte. Er hatte kein Wort gesagt. Er hatte versucht, sich unsichtbar zu machen. Ja, wichtig war doch gerade die Unsichtbarkeit!

Das Stichwort war nun NATO. Oder OTAN, wie es komischerweise auf Französisch hieß.

Er fand das witzig und dachte, Französisch müsse eine Sprache sein, bei der Amerikanisch rückwärts gesprochen werde. Sogar sein Vater, der in diesen Jahren so ernst war, musste lachen.

Der Vater war gegen die NATO. Die North Atlantic Treaty Organization. Ein Verteidigungsbündnis gegen den Kommunismus. Eine entsetzliche Vorstellung für die Kapitalisten: Gleichheit und Sicherheit für alle. Solche Gedanken dachte der Vater. Deshalb hatte er Orientering abonniert. Deshalb nahm er seine Söhne mit zur Kommunalwahl. Deshalb vergaß er, dass sie noch Kinder waren. In der Schule hörten sie Märchen über Prinzen und Prinzessinnen. Aber zu Hause war vor allem von Präsidenten und Staatsoberhäuptern die Rede. Sie wussten schon allerlei über die Präsidentschaftswahlen in den USA, wo Nixon und Kennedy wohl von Republikanern und Demokraten als Kandidaten aufgestellt werden würden. Sie wussten, dass es etwas gab, das Hiroshima und Nagasaki hieß, dass Atomwaffen das Schrecklichste waren, das überhaupt existierte. Sie wussten, dass der große Krieg vorüber war. Dennoch befanden sie sich in einem Kalten Krieg. Er konnte diesen Krieg nicht sehen, aber gerade jetzt, mitten im Winter, konnte er ihn spüren. Er fragte sich, ob es auch einen heißen Krieg gab. Könnte das der Krieg zwischen den Eltern sein? Auf diese Frage hatte ihm der Vater keine Antwort gegeben. Der kümmerte sich um den Kalten Krieg. Deshalb beteiligte sich der Vater in regelmäßigen Abständen an Protestmärschen durch die Osloer Innenstadt. Der Vater hatte zudem einen heimlichen Freund in Oslo, ja, sogar mitten in einem Wohnblock. Von außen konnte man nichts sehen. Aber wenn man durch den Torweg kam, sah man einen Hinterhof, und darin stand ein altes Haus. Ein rotes Holzhaus, dem sämtliche Aussicht verbaut worden war. Dort, auf dem Dachboden, wohnte ein Mann.

Er hieß Ulf.

Der das hier schreibt, liebte Ulf.

Ulfs kurzsichtige Freundlichkeit. Seine englische Freundin, die so ein seltsames Norwegisch sprach. Die altmodischen Kleider. Das Kneippbrot auf dem Tisch, zusammen mit Marmelade, Butter, der Milchflasche und den ungeheuren Stapeln aus Manuskripten, Büchern, Zeitungen und Kampfschriften. Und die Abziehmaschine! Selbst, als die Kinder- und Jugendredaktion des NRK anfing, für ihre Sendungen verrückte und zerstreute Professoren zu erfinden, konnten sie Ulfs Chaos nicht übertreffen. Weder früher noch später hat er je etwas Ähnliches gesehen.

Es gefiel der Mutter nicht, dass sie Ulf besuchten. Sie mochte Unordnung nicht, und sie mochte nichts, das gefährlich werden könnte. Deshalb kam sie niemals mit zu Ulf. Sie kam auch nie mit zu den obdachlosen Kriegsmatrosen in Mærradalen. Ulf und die Kriegsmatrosen konnten der Grund für einen Streit sein, aber zum Glück passierte das nur selten.

Er war jedenfalls froh darüber, dass er mitkommen durfte.

Erst zu den Kriegsmatrosen mit den vielen Katzenjungen und dem schwarzgebrannten Fusel, der so seltsam roch in dem überwucherten Tal zwischen Huseby und dem Radiumhospital. Der pure Urwald. Pflanzen und Bäume, die aussahen wie Spinnen und Schlangen. Der Geruch nach Harz und etwas Süßlichem, Undefinierbarem. Spinnweben zwischen den Baumstämmen. Dorthin gingen sie, ungefähr jeden zweiten Samstagnachmittag. Der Vater hatte Stullen aus Knäckebrot und Ziegenkäse geschmiert. Er klatschte extra viel Butter darauf, denn er meinte, die Männer brauchten mehr Fett auf den Rippen.

Der Sohn stand in der Küche, sah zu und lernte.

Er hatte bereits eine kleine Fettschicht um den Bauch. Eine dünne Fettlage auf den Hüften. Etwas dickere Oberschenkel als alle anderen. Eine etwas größere Brust.

Vielleicht wurde das seine liebste Kindheitserinnerung. Das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. Bei etwas dabeizusein, das sonst niemand tat. Zuerst mussten sie vorbei am Husebylager, wo die Gardisten untergebracht waren und wo sich die Armee in unterirdischen Höhlen versteckte. Ganz weit hinten saß der Verteidigungsminister Nils Kristoffer Handal an einem riesigen Schreibtisch mit Löschpapier, Füllfederhaltern, einer grünen Lampe und einem Telefon mit direkter Verbindung zu Eisenhower in Washington und zu den Festspielen in Bergen, zu deren Gründern er fast zehn Jahre zuvor gehört hatte. Das wüssten alle, behauptete die Mutter. Er wusste auch, dass es im Lager ein Schwimmbecken gab, das Menschen ohne Gewehr während der Sommermonate benutzen durften. Sein Vater hatte in letzter Zeit mehrmals gesagt, im Juni werde er seinen Sohn mitnehmen, damit der endlich schwimmen lernen könnte.

Erst wenn das riesige Militärlager hinter ihnen lag, konnten sie nach Mærradalen hin abbiegen. Die engen Pfade hinunter zum Lager der Obdachlosen. Mit einer Katze auf dem Schoß vor der dünnen Bretterwand. Die freundlichen Penner, die dicke Klumpen in einen Zinkeimer spuckten. Die runzligen Gesichter mit den Bartstoppeln und den verfilzten Haaren. Funkelnde braune und blaue Augen. Das Lächeln, das trotzdem so rätselhaft war. Die plötzlichen Tränen. Gedanken, die formuliert, freigelassen und beantwortet werden wollten. Sardinenbüchsen. Rentierklopse. Vaters Knäckebrot. Die Erwachsenen redeten miteinander. Und er setzte sich in eine Ecke und phantasierte. Hörte zu, was die anderen sagten. Ihre Wörter waren ungefährlich. Freundlich. Es ging um Hosen, Hemden, Reisig und Heizöfen. Alte Geschichten aus den Tagen des Krieges. Einige waren torpediert worden. Das war offenbar nicht so lustig. Vor allem einer, der Freundlichste, der die schönsten Katzen hatte, brach in Tränen aus, sobald er darüber redete. Dann musste sich der Vater zu ihm beugen, ihn in den Arm nehmen und ihm die Haare streicheln wie einem kleinen Kind.

»Ich habe Angst, dass es wieder Krieg gibt«, schluchzte der Mann und putzte sich die Nase mit einem schmutzigen gelben Taschentuch, das von altem Rotz ganz starr war.

»Wir werden alles tun, um das zu verhindern«, sagte der Vater ernst.

Danach fuhren sie mit der U-Bahn zu Ulf. Stiegen am Valkyrien plass aus. An dieser kleinen Haltestelle unter dem Bogstadvei, wo niemals viele Leute waren. Er fand es dort ein bisschen unheimlich und griff nach der Hand seines Vaters, wenn sie die Treppen hoch und hinaus ins Nachmittagslicht gingen. Die stillen vornehmen Straßen mit den vielen Fischgeschäften auf dem Weg zu Ulf. Ulf wohnte nicht weit von Tante Svanhild, aber Tante Svanhild wusste nichts von Ulf, und das war sicher auch besser so. Ulf saß nachmittags nicht mit übereinandergeschlagenen Beinen da, trank Sherry und rauchte Ascot. Ulf saß vor seinen Papieren, Büchern und Kampfschriften und schaute den Vater aus zusammengekniffenen Augen an, während er neue Angriffe auf das Weltkapital plante, auf das riesige kranke Tier, das im Verteidigungsministerium der USA hauste. NATO gegen Warschauer Pakt. Es war dann, als ob er mit dem Bruder spielte und sie auf dem Küchenboden mit ihren Brotformen zusammenstießen. Straßenbahn spielen war nicht ungefährlich. Es war ebenso riskant wie NATO und Warschauer Pakt. Eines Tages könnte es knallen. Und es machte ihm Sorgen, dass sein Vater sich vor fast allem so sehr fürchtete. Bei Ulf war das anders. Der schien das alles fast witzig zu finden. Die Vorstellung der vielen Demonstrationen und Protestmärsche, die sie organisieren würden. Die Artikel, die sie schreiben würden. An diesem Tag sprachen sie über den gemeinsamen Markt, die EFTA, das soeben unterzeichnete Freihandelsabkommen. Eine Hoffnung für das neue Europa, sagte der Vater, und Ulf nickte zustimmend. Die EWG war schon gegründet worden, zwei Jahre zuvor durch den Vertrag von Rom. Und jetzt würden sich Norwegen, Schweden, Dänemark, Großbritannien, die Schweiz, Österreich und Portugal zusammentun, um ihre Beziehungen untereinander zu stärken. Weder der Vater noch Ulf interessierte sich für die Handelspolitik an sich, sondern für die zugrundeliegende Vision: »Nie wieder Krieg auf europäischem Boden.«

Ihm fiel auf, wie die beiden Männer sich beim Reden gegenseitig anstachelten. Es konnte dort oben auf dem Dachboden eine aufgeheizte, fast revolutionäre Stimmung entstehen, ab und zu kamen Personen dazu, die lange, dicke und verschmutzte Mäntel trugen und sich am Gespräch beteiligten. Sie sahen aus wie Deserteure oder wie Angestellte der Norwegischen Eisenbahn. Und alle trugen eine Brille. Er hatte schon längst begriffen, dass man eine Brille brauchte, wenn man sich Revolutionär nennen wollte. Ulf hatte eine Brille, jedenfalls zum Lesen. Der Vater hatte zum Glück keine. Also war er kein Revolutionär. Das beruhigte ihn. Er hatte die Demonstrationen, bei denen erwachsene Menschen Schlagwörter riefen und einander mit den Fäusten drohten, nie gemocht.

Manchmal packte der Vater auch für Ulf Knäckebrot mit Butter und Ziegenkäse ein. Dann begriff er, dass Ulf nicht im Geld schwamm, aber das tat sein Vater ja auch nicht.

Langsam ging ihm auf, dass sein Vater ein überaus gütiger Mann war.

Die Welt, die meine war

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