Читать книгу Die Welt, die meine war - Ketil Bjornstad - Страница 17
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Tante Svanhild hat alles für ein Fest vorbereitet in ihrer kleinen Wohnung. Mutter und Vater bekommen Sherry, Tormod und ich Solo. Solo ist in Ordnung, auch wenn es aus dem Schlimmsten hergestellt ist, das es überhaupt gibt, Apfelsinen nämlich. Der Albtraum aller Skiausflüge. Auslaufender Apfelsinensaft bei beißender Kälte. Klebrige Hände und verschmutzte Fäustlinge. Es muss ein Sadist gewesen, sein, der irgendwann die gesamte norwegische Bevölkerung gezwungen hat, bei jedem Gang zu den Skiloipen riesige graue Rucksäcke auf dem Rücken zu tragen und Apfelsinen zu essen. Zum Glück wusste man immer, dass es im Rucksack auch etwas viel Besseres gab, das man bekommen würde, wenn man es geschafft hätte, die ganze Apfelsine aufzuessen: Kvikk Lunsj. Die Schokolade, die sich als Keks verkleidet hatte. Deshalb wagten es die Erwachsenen, den Kindern besonders viel davon zu geben.
Aber Tante Svanhild hat für uns einen Kellerkuchen gemacht. Deshalb weiß ich endlich, dass wir wieder Freunde sind und dass der schlimme Silvesterabend vergessen ist. Mutter und Vater haben sie außerdem im Frühling und Sommer besonders oft eingeladen. Jetzt streiten sie sich nie vor einem Besuch von Tante Svanhild. Sie sind so munter, dass es schon fast verlogen wirkt. Ich versuche, auch munter zu sein, schließlich war ja alles meine Schuld.
Der große Tag. Das Fernsehen wird seinen offiziellen Einzug in der norwegischen Gesellschaft halten. Wir sehen König Olav an, der mit einem Blumenstrauß auf dem Tisch da sitzt und uns auf seine seltsame, abgehackte Weise einfach so ins Gesicht redet. Tante Svanhild liebt ihn. Ich selbst weiß nicht, was ich von ihm halten soll. Ich weiß nur noch, wie ich zusammen mit Vater und Tormod Schlange stand, nachdem sein Vater gestorben war. König Haakon. Schon damals konnte ich nicht begreifen, warum wir anstanden, um uns im Kondolenzbuch einzutragen, zusammen mit halb Norwegen. Als hätte ich instinktiv begriffen, dass Vater zur anderen Hälfte gehörte, zu den Republikanern. Aber damals war ich so klein, dass ich nicht begriff, was ein Republikaner ist.
»Wir erweisen ihm trotzdem unseren Respekt«, sagte Vater. »Für alles, was er während des Krieges getan hat.«
»Weil er abgehauen ist?«, fragte Tormod sofort. Er war so viel intelligenter als ich. Aber er war ja auch drei Jahre älter. »Darüber reden wir später«, sagte Vater mit diesem müden Zug um die Mundwinkel. Ja, seine Mundwinkel waren damals müde, müder als jetzt. Warum war Mutter nicht dabei? Weil sie arbeitete. Ab und zu half sie in einer Buchhandlung aus und verkaufte Bücher. Dann bekam sie Leseexemplare. Deshalb stapelten sich bei uns zu Hause die Bücher. Jetzt war die Stimmung zwischen ihnen besser. Es hatte ihnen gutgetan, in Tolga zu sein. Weiß Gott, was sie gemacht hatten, wenn sie allein in der Hütte waren und ich oben auf der Weide Klara umarmte und Tormod unten im Bach angelte. Vielleicht hatten sie einfach miteinander geredet. Vater sagte immer, Gespräche seien wichtig. Verständigung zwischen den Menschen. Oder vielleicht hatten sie abgewaschen? Die Gerstensuppe klebte an allen Tellern.
Aber jetzt sitzen wir bei Tante Svanhild, und Mutter ist ausgelassener als sonst, denn nach den Reden wird eine Show aus der norwegischen Oper übertragen werden, wenn auch nur für Abonnenten in Oslo und Bergen. 20 000 Menschen haben sich verpflichtet, pro Jahr eine bestimmte Summe zu bezahlen, um die Sendungen des NRK sehen zu können. Aber im Melumvei können wir uns das nicht leisten. Wir haben auch keinen Kühlschrank. Ich begreife nicht, wie Tante Svanhild, die als Sekretärin in einem Patentbüro arbeitet und in einer winzigkleinen Wohnung haust, sich beides leisten kann, aber ich traue mich nicht zu fragen.
Mutter ist Souffleuse in der norwegischen Oper. Das ist einer ihrer vielen unbegreiflichen Berufe. Deshalb ist sie so aufgekratzt. Aber diesmal soll sie nicht den schusseligen Sängern helfen, sich an die Texte zu erinnern. Sie darf einfach ganz entspannt zusehen, wie Menschen etwas auf der Bühne aufführen, wo sie mehrere Abende pro Woche in einem Kasten eingesperrt ist. Tagelang haben die großen Wagen des NRK in der Folketeaterpassage gestanden, die dann später in Operapassage umbenannt werden wird, und dicke schwarze Kabel haben sich wie Schlangen durch die Türen gewunden, die Treppen hoch bis auf die Bühne. Kameras von der Größe der allergrößten Walharpunen sind in strategischen Ecken aufgebaut worden, um Kari Borg Mansåker, Erik Diesen und alle anderen einzufangen, die für die Auserwählten ein Fest veranstalten sollen. Und Tante Svanhild ist auserwählt. Sie hat die Lizenz bezahlt. Sie kann sich dreimal pro Woche die Fernsehnachrichten ansehen. Bald wird sie erleben, dass Willy Rasmussen aus Kongsberg bei den Olympischen Spielen in Rom den fünften Platz im Speerwerfen belegt mit einem Wurf von 78,36 m. Und dass Dänemark im Fußball die Silbermedaille holt. Ich kann es ihr ansehen, denn sie ist heute besonders elegant mit ihrem schottisch-karierten Rock, dem Twinset und dem Sherryglas, das sie nicht aus der Hand gibt. Gleich wird sie sich eine Ascot-Zigarette genehmigen. Was für ein Luxus! Kann sie sich das alles vielleicht leisten, weil sie allein lebt, überlege ich plötzlich. Vielleicht sind Beziehungen und eine Familie etwas Entsetzliches. Vielleicht wären wir alle reicher und glücklicher, wenn wir allein lebten? Denn mit wem soll Tante Svanhild sich streiten? Mit niemandem, absolut mit niemandem. Sie hat wohl keine Lust, sich mit ihren vielen Geschwistern zu streiten, und Mutter und Vater haben sicher nie ein böses Wort zu ihr gesagt. Das habe nur ich. Jetzt sitzt sie da mit roten Wangen, muss ihr Geld nicht mit einem anspruchsvollen Ehemann teilen und lässt sich sogar von Rundfunkdirektor Kaare Fostervoll begeistern, der mit dem aufdringlichen Akzent von Nordmøre redet. Der frühere Rektor des Firda-Gymnasiums von Sandane in der Gemeinde Gloppen. Schade für alle in Sandane, dass sie diese Eröffnungszeremonie nicht sehen können.
»Ich finde ihn gar nicht unattraktiv«, sagt Tante Svanhild und kichert. Sie hat eine Schwäche für Promis.
»Ja, er sieht aus wie ein amerikanischer Senator«, sagt Vater freundlich.
»Oder wie ein General der Roten Armee«, sage ich.
»Nein, pfui!«, sagt Tante Svanhild. »Rede jetzt nicht von Kommunisten!«
»Ich mag die Russen«, necke ich sie. Zum Glück kann sie mit solchen Frechheiten leben.
»Ja, das tut Gerhardsen auch«, erwidert sie, während gleichzeitig Einar Henry Gerhardsen, der Sohn des städtischen Beamten Gerhard Olsen und der Hausfrau Emma Hansen, uns anstarrt und mit seiner trockenen, ein wenig quengelnden Stimme anfängt zu reden. Vater ist immer besonders gerührt, wenn Gerhardsen zu sehen ist, auch wenn er dessen Bündnispolitik skeptisch betrachtet.
»Dass er wirklich in Sachsenhausen gesessen hat!«, sagt Vater.
»Dass er wirklich Straßenarbeiter war!«, sagt Mutter.
»Dass er im Mai noch in Grini saß und im Oktober schon Ministerpräsident war!«, sagt Tormod.
»Woher weißt du das?«, frage ich verblüfft und ein bisschen neidisch. Denn solche Dinge wissen eben nur große Brüder. »Man hat doch seine Quellen«, sagt Tormod mit schlauem Lächeln. Er wird jetzt offenbar erwachsen.
»Ich finde, er sieht aus wie ein gequälter Hühnerhund«, sagt Mutter. Sie hat einen aufmerksamen Blick für das Leid in uns allen.