Читать книгу Die Welt, die meine war - Ketil Bjornstad - Страница 18

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Mads und ich stehen vor den Schaukästen von Oslo Kinematografer neben dem Eingang zum Scala-Kino. Dort laufen die meisten französischen Filme, wenn sie nicht im Gimle oben in der Bygdøy allé gezeigt werden. Beide Kinos sind amerikafreie Zonen. Hier wird man niemals John Wayne zu Pferd erblicken.

Wir sehen uns die Plakate und Fotos an. Es ist Donnerstag, der 25. August 1960. Jean-Luc Godards Film A bout de souffle läuft in den norwegischen Kinos an. Bei uns in Norwegen heißt der Film Bis zum letzten Atemzug und ist freigegeben ab 16.

»Das Mädchen ist hübsch«, sagt Mads.

»Der Junge sieht aus wie Onkel Kjell«, sage ich.

Das Mädchen und der Junge sind Jean Seberg und Jean-Paul Belmondo. Seberg wird sich neunzehn Jahre später in Paris mit einer Überdosis das Leben nehmen, nachdem sie vom FBI verfolgt worden ist, weil sie die Black Panther Party unterstützt, eine sozialistisch-revolutionäre Bürgerrechtsgruppe aus Afro-Amerikanern, die für bessere Wohnverhältnisse, mehr Ausbildungsmöglichkeiten und freie Berufswahl für Schwarze kämpft. Neun Jahre vor dem Selbstmord hatte das FBI die Lüge in die Welt gesetzt, das Kind, das Seberg bald zur Welt bringen würde, habe nicht ihren Ehemann, den Autor Romain Gary, zum Vater, sondern den Black-Panther-Aktivisten Raymond Hewitt. Sebergs Tochter kam viele Wochen zu früh zur Welt, nachdem sie eine Beziehung zu einem anderen Aktivisten zugegeben hatte, Carlos Ornelas Navarro. Die Tochter wog bei der Geburt 1,8 Kilo und starb zwei Tage später. Bei der Beerdigung entschieden sich Seberg und Gary für einen offenen Sarg, damit alle die weiße Haut der Kleinen sehen konnten. Später erstattete das Ehepaar Anzeige gegen Newsweek aufgrund eines beleidigenden Artikels, den Seberg für den Auslöser ihrer frühen Niederkunft hielt. Ein französisches Gericht gab ihr recht und verurteilte Newsweek zu Schadenersatz, zusammen mit acht weiteren Zeitungen. Die Schikanen aber gingen weiter, zusammen mit Telefonüberwachung, Stalker-artigen Episoden und häufigen Wohnungseinbrüchen. Als später FBI-Berichte zugänglich gemacht wurden, stellte es sich heraus, dass auch CIA, U. S. Secret Service und U. S. Military Intelligence sich das sogenannte FBI-Legat zunutze gemacht hatten, um Seberg konstant durch Attachés an den Botschaften in Paris und Rom überwachen zu lassen, weil sie US-Bürgerin war und Kontakt zu schwarzen Sozialisten hatte.

Aber vorläufig ging es um sie und Belmondo, den ehemaligen Boxer, der dreimal durch Knock-out in der ersten Runde gesiegt hatte, ehe er ein Interesse am Theater entwickelte und die Schauspielschule besuchte. Belmondo und Seberg erregten beide das Interesse des französisch-schweizerischen Regisseurs Jean-Luc Godard. Die neue Welle, la Nouvelle Vague. Eine ganz neue Art, Film zu denken und zu machen. Sie wissen nicht, dass die Geschichte, die Godard hier entwickelt, später wie ein Vorspiel zum chaotischen Leben der schönen, kurzgeschorenen Jean Seberg wirken wird. Noch sind sie jung und stehen am Anfang ihrer Karriere. Es gibt ein Drehbuch, inspiriert von einem Zeitungsartikel, den Godards Kollege François Truffaut gelesen hat, über einen gewissen Michel Portail, der mit seiner amerikanischen Freundin, der Journalistin Beverley Lynette, ein Auto stiehlt, um seine kranke Mutter in Le Havre zu besuchen, und unterwegs ein Liebespaar auf einem Motorrad tötet. Im Film wird der junge Michel zu einem anderen Michel. Der stiehlt in Marseille ein Auto und erschießt einen Polizisten, der ihn auf der Landstraße verfolgt. Ohne Geld und auf der Flucht vor der Polizei begegnet Michel Patricia, einer angehenden Journalistin, die in Paris die New York Herald Tribune auf der Straße verkauft. Unter Zweifeln versteckt sie Michel in ihrem Hotelzimmer, wo er versucht, sie zu verführen und Geld aufzutreiben, mit dem sie beide nach Italien fliehen können. Patricia sagt, sie sei schwanger und Michel sei der Vater, aber als ihr aufgeht, dass nach Michel gefahndet wird, verrät sie ihn, und der Film endet damit, dass Michel auf offener Straße erschossen wird und einen langsamen Tod stirbt, womit der Titel des Films seine Erklärung findet. Ein endloses Tauziehen um das Drehbuch zwischen Truffaut, Claude Chabrol und Godard endete damit, dass Godard den Film machen durfte, und nun stehen plötzlich Seberg, Belmondo und Godard in Paris auf der Straße, vor dem Café Notre Dame in der Nähe des Hôtel de Suède, wo die lange Schlafzimmerszene aufgenommen werden soll. Godard hat selbst in diesem Hotel gewohnt, nachdem er zu Beginn der fünfziger Jahre aus Südamerika zurückgekehrt war. Die Kamera bei den Aufnahmen führt Raoul Coutard, der eine Handkamera vom Typ Eclair Cameflex einsetzt und fast ganz auf zusätzliche Beleuchtung verzichtet. Gerade dieser Mangel an künstlichem Licht sorgt dafür, dass sie einen Filmtyp benutzen müssen, der für Spielfilme eigentlich nicht geeignet ist. Coutard entscheidet sich für 18 Meter lange Ilford HPSFilme, die für 35 Millimeter-Kameras verkauft werden, und schließt sie zu Rollen von 120 Metern zusammen, die er bei der Entwicklung von 400 auf 800 ASA presst. Zu Beginn der Aufnahmen arbeiten alle zwei Stunden lang, dann gehen Godard die Ideen aus. Coutard sieht, dass der Film in beiden Richtungen improvisiert wird. Godard schreibt die Repliken in ein Notizbuch, das niemand außer ihm lesen darf. Dann gibt er Seberg und Belmondo ihren Text und lässt ihnen nur ein Minimum an Probezeit, ehe sie gefilmt werden. Die Polizei wurde nicht um Genehmigung für die Dreharbeiten in den Straßen von Paris ersucht. Godard setzt auf Spontaneität, und an einem Tag kann er die Aufnahmen schon nach fünfzehn Minuten abschließen, während er am nächsten alle zu Zwölf-Stunden-Schichten zwingt, je nachdem, welche Ideen ihm gerade gekommen sind. Der Produzent Georges Beauregard ist dermaßen frustriert von diesem Chaos, dass er und Godard in einem Café mit Fäusten aufeinander losgehen. Vor der Premiere hört die Cutterin Cécile Decugis, dass der Film als »schlechtester des Jahres« bezeichnet wird. Später sagt Kameramann Coutard, der schnelle Schnitt habe dem langsamen Filmen widersprochen. Die abrupten Szenenwechsel, die später zu Godards Kennzeichen werden, waren nicht geplant. Dennoch sehen in Frankreich mehr als zwei Millionen Menschen den Film und Godard wird in Berlin mit dem Silbernen Bären für die beste Regie ausgezeichnet. Er bezeichnet den Erfolg des Films als Missverständnis, er bereue jedoch nicht, ihn gemacht zu haben, da man bisher nur auf eine einzige Weise Filme machen konnte. In der letzten Szene, wenn Michel im Sterben liegt, nachdem er in der Rue Campagne-Première am Montparnasse angeschossen worden ist, sagt er zu Patricia: »Das ist zum Kotzen.« Sie antwortet: »Was denn?« Der Polizeiinspektor: »Er sagt, du bist zum Kotzen« Aber sie ist Amerikanerin und versteht das Wort dégeulasse nicht. »Was bedeutet das, zum Kotzen«, fragt sie.

Mads und ich stehen vor den Schaukästen mit den Erwachsenenfilmen beim Scala-Kino. Wir sehnen uns beide danach, erwachsen zu sein. Wir sind erst acht, haben aber das Gefühl, alles zu wissen. Mads jedenfalls. Außerdem können wir allein mit der Straßenbahn fahren, und wir können in dem dunklen Saal im Palassteater sitzen und sehen, wie die Nachrichten aus aller Welt über die Leinwand flimmern. Ich sehe das schöne Gesicht von Jean Seberg an. Sie ist so jung. Es dauert noch so lange, bis wir alt genug sind, um diesen Film zu sehen. Wovon um alles in der Welt handelt der eigentlich? Von wahrer Liebe? Mord? Sie ist so hübsch. So ungeheuer, ungeheuer hübsch.

Sie müsste meine Schwester sein, denke ich.

Oder etwas ganz anderes.

Die Welt, die meine war

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