Читать книгу Die Welt, die meine war - Ketil Bjornstad - Страница 9

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Albert Camus, über den der Vater schon so viel gesprochen hat, ist mit Francine und den vierzehn Jahre alten Zwillingen in Lourmarin, einer der schönsten Städte Frankreichs, siebzig Kilometer östlich von Avignon. Der letzte Abend mit den alten Francs. Vom ersten Tag des neuen Jahres an wird ein neuer Franc so viel wert sein wie hundert alte. Als Camus das Haus in der Grand’rue de l’Eglise in Lourmarin gesehen hatte, hatte er gesagt: »Das oder keins.« Da hatten er und Francine gemeinsam schon zwanzig Häuser und Bauernhöfe besichtigt. Er musste mehr als neun Millionen alte Francs bezahlen, und der Freund und Poet René Char hatte lakonisch bemerkt: »Bei solchen Gelegenheiten kann ein Nobelpreis nützlich sein.«

Francine war Pianistin und Mathematikerin. Sie lebten auf einem Grundstück, das früher eine Seidenfarm gewesen war. Ein Geruch nach Wachs. Der Garten breitete sich innerhalb einer niedrigen Ummauerung aus, es gab frischgepflanzte Olivenbäume, Rosen und Rosmarin. Nach all den Jahren der Seitensprünge und nachdem herausgekommen war, dass Camus noch immer eine ernsthafte Beziehung zu der in Spanien geborenen Schauspielerin Maria Casarès unterhielt, hatte Francine resigniert. Den letzten Tag der fünfziger Jahre feierten sie auf althergebrachte provençalische Weise mit dreizehn Desserts, inklusive einer Fougasse, Apfelsinen, Feigen, Mandarinen und Mandeln. Camus hatte zu Francine gesagt: »Du bist meine Schwester, du ähnelst mir, aber seine Schwester sollte man nicht heiraten.«

In letzter Zeit, nachdem er mit einer Art Resignation den Nobelpreis entgegengenommen hatte, hatte er sich in einer existenziellen Krise befunden. Nichts von dem, was er früher gedacht und geschrieben hatte, konnte ihm helfen. Seine jahrelange Behauptung, der Welt fehle es an Sinn und Zusammenhang, war nun eine Wahrheit, von der er hart getroffen wurde. Er konnte nicht wie die Hauptperson in La peste handeln, ohne an die persönlichen Konsequenzen zu denken. Das Gefühl der Entfremdung, über das er in irgendeiner Form fast immer schrieb, verstärkte sich in dieser Zeit, in der er noch immer ein konfliktreiches Privatleben mit mehreren unbeendeten Beziehungen hatte, während er vor allem auf dem neuen Grundstück in der Provence sein wollte. »Ich kann nicht lange mit Menschen zusammenleben. Ich brauche ein wenig Einsamkeit, ein Stück Ewigkeit.« Er arbeitete an dem Roman Le premier homme, der erst fünfundvierzig Jahre später veröffentlicht werden sollte. In seinem Tagebuch schreibt er: »Man kann ein Wesen erobern, weil man selbst erobert worden ist. Und es stimmt, dass ich gerade in diesem Augenblick ein Bedürfnis nach der Zusammengehörigkeit mit jemandem hatte, die du mir geschenkt hast. Und das ist der Grund, aus dem dein Verschwinden mich ebenso verletzt hat wie deine Lüge. Noch einmal eine kurze Zeit des Pessimismus, dann darf das Unglück leuchten: Dann werde ich wieder ich selbst sein.«

Der Neffe seines Verlegers, der linksorientierte Hedonist Michel Gallimard, ist mit seiner ganzen Familie mit von der Partie. Janine, Michel und Anne. Sie sind in einem Facel-Vega HK 500 aus Grasse gekommen. Camus hat Bahnfahrkarten gekauft, um zusammen mit Francine und den Zwillingen zurück nach Paris zu reisen, aber Gallimard überredet ihn, einige Tage später mit ihnen zu fahren. Camus hat eine ganz besondere Beziehung zu Gallimards Tochter, und nachdem Camus’ Familie mit der Bahn losgefahren ist, feiern Camus und die Familie Gallimard den achtzehnten Geburtstag der Tochter mit einem Mittagessen im altmodischen Speisesaal des Hotels Ollier. Das neue Jahrzehnt ist jetzt zwei Tage alt. Camus hat eine Schwäche für Gallimards Hang zu Luxus und Genuss. Zugleich hat er in sein Tagebuch geschrieben: »Jahrelang habe ich mir gewünscht, nach der Moral aller anderen zu leben. Ich habe mir Mühe gegeben, wie alle anderen zu leben, allen anderen zu ähneln. Ich habe gesagt, was gesagt werden musste, um zu vereinen, auch wenn ich mich ausgeschlossen fühlte. Und zum Abschluss von allem kam die Katastrophe. Jetzt irre ich zwischen den Trümmern umher. Ich stehe außerhalb des Gesetzes, bin zerrissen, einsam, und das akzeptiere ich, ich habe mich mit meiner Eigenheit und meinen Schwächen abgefunden. Und ich muss eine Wahrheit neu aufbauen – nachdem ich mein ganzes Leben in einer Art Lüge gelebt habe.«

Am folgenden Tag, dem 3. Januar, schaut der 46 Jahre alte Albert Camus, wie Stephen Bayley berichtet, in der Renault-Werkstatt in Lourmarin vorbei, um für den Besitzer ein Exemplar von »L’étranger« zu signieren. Als Widmung schreibt er: »Für M. Baumas, der dazu beigetragen hat, dass ich so oft in das schöne Lourmarin zurückkehren kann.« Dann geht er zurück zu seinem eigenen Haus, wo der Facel-Vega auf ihn und die Familie Gallimard wartet, die ihren Skye Terrier Floc bei sich hat. Er gibt die Hausschlüssel der Haushälterin Suzanne Ginoux, die erkältet ist, und ermahnt sie: »Passen Sie gut auf sich auf. Ich bleibe eine Woche aus, und wir haben noch immer viel zu erledigen.« Camus half ihr immer, wenn sie die Betten machte. »Das ist viel einfacher, wenn man zu zweit ist«, sagte er, und dann erzählte er ihr über seine Mutter und seine Kindheitserinnerungen aus Algerien: »Sie hat hart gearbeitet.«

Der Wagen, in den Camus nun einsteigt, ist schwarz mit beigen Ledersitzen; ein schönes und außergewöhnlich luxuriöses Auto, das den Konkurrenten Citroën DS weit hinter sich gelassen hat. Hier gab es keinen Kunststoff und keinen leichtfertigen Modernismus, sondern Holz und Leder. Und einen aus den USA importierten Chrysler-V-8-Motor, der dieses Modell zum schnellsten Viersitzer auf der Welt machte. Der Wagen war entworfen worden von Jean Daninos, einem Geschäftsmann, der mit dem Verkauf von Kühlschränken und Autowracks ein Vermögen gemacht hatte. Die englische Autorin Jackie Collins sollte viele Jahre später sagen: »Einen Facel-Vegal zu fahren ist, wie phantastischen Sex zu haben. Man wünscht, dass dieser Augenblick nie ein Ende nimmt.« Aber der Konstrukteur des Wagens war sich auch darüber im Klaren, welche Gefahren damit verbunden sind, ein so schnelles Auto zu fahren: »Seien Sie vorsichtig bei hohem Tempo. Halten Sie das Lenkrad mit beiden Händen, wenn Sie nicht gerade schalten müssen. Halten Sie sich so weit wie möglich zur Mitte der Straße. Fahren Sie unten an einem Abhang nicht zu schnell, und drosseln Sie die Geschwindigkeit, wenn Sie oben ankommen, für den Fall, dass dort ein Auto stehengeblieben ist. Suchen Sie keinen anderen Radiosender. Rauchen Sie nicht.«

Niemand weiß, was Michel Gallimard gemacht hat. Wir wissen nur, dass er schnell gefahren ist. Von Lourmarin nach Paris auf der RN7 und der RN5 sind es etwas weniger als achthundert Kilometer. Eine wunderschöne Autofahrt durch Orange, Avignon, Lyon, Macon, Chalon, Beaune, Saulieu, Avallon, Auxerre, Sens und Fontainebleau, bis man dann endlich Paris erreicht hat. Die Reisegesellschaft aß in Orange zu Mittag. Als es auf den Abend zuging, hielten sie bei Paul Blancs Chapeau Fin bei Thoissey, einem Lokal, das einen Umweg verdiente und im Guide Michelin zwei Sterne hatte. Sie beschlossen zudem, dort zu übernachten, nachdem sie Foie Gras, Hühnerfrikassee mit Pilzen und Crêpes Parmentier verzehrt hatten. Camus trug sich nicht ins Gästebuch des Hotels ein, schrieb seinen Namen jedoch auf die obligatorische Registrierkarte. Später sollte Paul Blanc sich erinnern, dass er während der Nacht zwei Facels auf dem Parkplatz gesehen hatte und dass ihm die beunruhigend abgenutzten Reifen des Wagens von Gallimard aufgefallen waren.

Am nächsten Morgen ging die Fahrt nach Paris weiter. Janine Gallimard sollte später erzählen, dass die Reisegesellschaft sich in ein makabres Gespräch über Einbalsamierung verwickelt hatte. Camus meinte, es könne von Vorteil sein, nach dem Tod einbalsamiert zu werden. »Denn dann könnte ich Janine noch immer in ihrem Wohnzimmer Gesellschaft leisten.«

»Quelle horreur«, hatte Madame Gallimard geantwortet, dann begann ihr Mann, noch schneller zu fahren. Worauf Camus von der Rückbank her rief: »He, mein Freund. Hat es hier jemand eilig?«

Sie hielten zum Mittagessen beim Hotel de Paris et de la Poste in Sens, einem weiteren Restaurant mit zwei Michelin-Sternen, das nur noch anderthalb Stunden von der Hauptstadt entfernt lag. Sie aßen extra blutige Blutwurst, Boudins noirs auf Pommes reinette, und tranken eine Flasche Burgunder. Dann ging es weiter über die langen und fast beängstigend geraden Alleen in Richtung Hauptstadt.

Es nieselte jetzt.

Später sollte sich Janine erinnern, dass sie im Augenblick vor dem Unfall kein Geräusch von dem explodierenden Reifen gehört hatte, wohl aber Michels Ausruf »Merde!« Der Wagen geriet sofort ins Schlingern. Ihre Erinnerung setzte wieder ein, als sie zu sich kam, sie saß auf der Straße im Schlamm und rief vergeblich nach Floc, der für immer verschwunden war.

Der Wagen hatte einen Baum getroffen, dann noch einen, dann hatte er sich überschlagen. Später konnten Pressefotografen bezeugen, dass das Auto eine fünfzig Meter lange Schramme in den Asphalt gezogen hatte. In einem Radius von 150 Metern wurden Wrackteile gefunden. Der Chryslermotor lag auf der anderen Straßenseite, vom Rumpf getrennt. Die Uhr im Armaturenbrett war bei 1.55 stehengeblieben. Ein Lastwagenfahrer, der sich als Zeuge meldete, sagte, er sei unmittelbar vor dem Unfall von Gallimard überholt worden. »Die hatten bestimmt über 150 Stundenkilometer drauf.«

Die beiden Frauen, die auf der Rückbank gesessen hatten, waren unverletzt. Camus dagegen war vom Beifahrersitz gegen das Armaturenbrett und danach mit gebrochenem Genick durch das Plexiglasfenster hinten im Wagen geschleudert worden. Er war sofort tot, die Rettungsmannschaft brauchte zwei Stunden, um die Leiche aus dem Wrack zu bergen, nachdem diese mit dem Kopf unter dem Kofferraum gefunden worden war. Michel Gallimard war bei Bewusstsein und fragte: »Bin ich gefahren?« Er starb fünf Tage später an einer Gehirnblutung.

Der Arzt, der den Totenschein unterzeichnete, hieß Marcel Camus. In Camus’ Koffer befanden sich die dicht beschriebenen 144 Seiten des Manuskriptes von Le premier homme, eine Schulübersetzung von Shakespeares Othello und eine französische Übersetzung von Nietzsches Die fröhliche Wissenschaft. Dazu die unbenutzte Zugfahrkarte nach Paris.

Bei früheren Gelegenheiten hatte Camus oft gesagt: »Die dümmste Art zu sterben ist durch einen Verkehrsunfall.«

Michel Gallimards alter Lehrer, René Etiemble, untersuchte den Unfall sorgfältig und gründlich auf französische Weise und konnte aus den Wartungsprotokollen für den Wagen entnehmen, dass einer der Hinterreifen schon zweimal eine Panne gehabt hatte. Jean Daninos sagte später, er habe Gallimard davor gewarnt, mit diesen offenkundig abgenutzten Reifen zu fahren. Und Etiemble kam zu dem Schluss, sie seien »in einem Sarg gefahren«.

Eine von Camus’ letzten Tagebucheintragungen lautete: »Ich weiß, dass ich alles getan habe, um dich von mir loszulösen. Ich habe mein Leben lang, sobald ein Mensch mir Zuneigung entgegenbrachte, alles getan, damit er sich zurückzog … Aber seitdem bin ich meinerseits allen entglitten, und irgendwie wollte ich, dass mir alle entglitten.«

Der früher so enge Freund und Widersacher Jean-Paul Sartre schrieb im France-Observateur: »Wir hatten es nicht so leicht, wir beide, aber das hat nichts zu bedeuten. Selbst, einander niemals wieder zu begegnen ist nur eine andere Weise des Zusammenlebens.«

Die Welt, die meine war

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