Читать книгу Die Welt, die meine war - Ketil Bjornstad - Страница 23
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Mads und ich fahren mit der Straßenbahn zur Haltestelle Nationaltheater. Wochenschau im Palassteater. Dort sehen wir den Bericht aus New York über Chruschtschow und das UN-Chaos. Außerdem rücken die Präsidentschaftswahlen näher. Nixon gegen Kennedy. Das große politische Drama will kein Ende nehmen. Vater geht ebenfalls ins Palassteater. Er versucht, so oft wie möglich die Wochenschau zu sehen. Aber er geht nie zusammen mit uns. Er hat so viel zu tun. Er arbeitet bei der Studiengesellschaft für die Norwegische Industrie. Er arbeitet im Haus der Ingenieure. Er arbeitet auf Ulfs Dachboden. Er kommt abends spät nach Hause, und dann ist Mutter verärgert, wenn sie nicht selbst in der Oper sitzt und aufpasst, dass alle in der Zauberflöte den richtigen Text haben.
In der Schule wollen Ledsaak und die anderen Lehrer, dass wir so lange wie möglich Kinder sind. Wir ziehen pastellfarbene Kostüme an und gehen im Kreis, während wir Musik von Schubert hören. Der liebenswürdige Musik-Smith sitzt am Klavier. Er ist der netteste Mann auf der Welt, groß und sanft. Ein Bergenser mit leiser Stimme. Er ertränkt die Vokale gern in seinem schnarrenden r. Am Ende hört es sich nur noch an wie Gurgeln.
Vielen von uns Jungen fehlt es an Körpergefühl, aber wir beobachten verstohlen die Mädchen. Schon drei Jahre zuvor wurde mir schwindlig. Als ein Mädchen aus dem Kindergarten sich auf einer Waldwanderung vollständig auszog. Sie wälzte sich im Dreck und war ungezogen. Aber als sie wieder aufstand, konnten wir den kleinen Spalt zwischen ihren Beinen sehen, und ich wusste nicht, wohin mit meinem Körper. Vielleicht stimmte auch in dieser Hinsicht etwas mit mir nicht. Solche Gefühle waren ja mit den Jahren nicht weniger geworden, wie man doch hätte hoffen können, ich ging ja schon auf die neun zu. Immer, wenn ich zusah, wie das blonde Mädchen, von dem ich behauptet hatte, sie umgestoßen zu haben, mit ihrem schlanken, hochaufgerichteten Leib den Buchstaben D darstellte, wurde mir schwindlig. Sie war keine von den Beliebten. Sie wurde nicht zum Nähkränzchen der Königinnen eingeladen. Niemand wusste, dass sie die Schönste war, nur ich.
Ich versuchte, mit Mads über diese Dinge zu sprechen, wenn wir an der Haltestelle Smestad standen und die vielen Autos über den Sørkedalsvei sausen sahen. Aber er begriff das nicht. Mädchen waren kein Thema für einen angehenden Justizminister. Er wollte lieber über Nixon und Kennedy reden.
Natürlich hielt ich zu Nixon. Der hatte doch Locken, genau wie Vater. Er hatte sogar Ähnlichkeit mit Vater. Aber Vater war hübscher. Nixon war der menschlichere der beiden Präsidentschaftskandidaten. In der Wochenschau hatten Mads und ich gesehen, dass Nixon bei den wichtigen Fernsehdebatten der Schweiß ausbrach. Die Schminke war ihm über die Stirn gelaufen. Sogar das Schwarze um die Augen, dessen Namen ich nicht wusste, hatte angefangen, sich aufzulösen. Er sah aus wie ein Clown. Aber ich mochte Clowns. Als ob ich schon wüsste, dass er ein Verlierer war. Ich mochte Verlierer. Kennedy sah auf die falsche Weise gut aus. Und seine Frau war viel zu hübsch. Jacqueline. Mads ist total verschossen in sie. Ich hatte gar nicht gewusst, dass er Mädchen überhaupt ansah. In meinem Zimmer zu Hause im Melumvei hatte ich Bilder vieler Filmstars, aber wenn Mads zu Besuch war, würdigte er sie keines Blickes. Nicht einmal Audrey Hepburn. Er wollte Jackie.
»Du darfst nicht zu Nixon halten, Ketil«, sagt Mads. »Denn sonst begehst du einen historischen Irrtum. Es hilft nichts, dass er Vizepräsident war. Denn er war Vizepräsident für den Falschen. Außerdem ist er Republikaner.«
»Abraham Lincoln war auch Republikaner«, sage ich.
Mads läuft rot an. Woher ich das denn weiß? Er rechnet nicht damit, dass ich überhaupt etwas wissen könnte. Er hat nicht begriffen, dass ich bei jeder Gelegenheit Vater ausfrage. In der Schule will ich Märchen hören. Zu Hause und zusammen mit Mads ist Weltpolitik angesagt.
Nixon verliert mit dem kleinstmöglichen Rückstand. 49,7 Prozent zu 49,6. Ich hatte es im Gefühl. Die Ungerechtigkeit, von der meine Mutter spricht. Alle Frauen, die weniger verdienen als die Männer. Chessman, der sein Leben verliert, weil eine Sekretärin eine Ziffer von einer Telefonnummer vergessen hat.
Aber Vater scheint zufrieden zu sein. »Ich glaube an Kennedy«, sagt er. »Es wird spannend sein, ihn zu beobachten. Wir müssen ihm eine Chance geben.«
Diese widerlichen dicken Lippen? Das anbiedernde Lächeln? Nein danke. Nixon zeigt uns wenigstens, dass er ein Mensch ist.
Das norwegische Nobelkomitee vergibt in diesem Jahr keinen Friedenspreis. Sie finden einfach keine geeigneten Kandidaten. Der Literaturnobelpreis dagegen geht an den französischen Lyriker Saint-John Perse.
»Perse hat das sicher verdient«, sagt Mads. Er sieht plötzlich aus wie Francis Bull.
Am Sonntag, dem 27. November, sitzen Vater und Ulf im Klingenberg-Kino. Wir Kinder dürfen diesmal nicht mitgehen, begreifen aber nicht, warum. Es ist die erste öffentliche Kundgebung gegen Atomwaffen, die in Norwegen abgehalten wird. Dreizehn Personen stehen auf dem Podium und erzählen, dass sie einen moralischen Ostermarsch planen. Diese Menschen, zu denen Reidar Aulie, Otto Bastiansen, Kristian Schjelderup und Odd Hølaas gehören, werden von Morgenbladet als Sendboten der Kommunisten angeprangert. Aber Dagbladet schreibt, das sei böswillige Verleumdung, und bezeichnet die Gerüchtemacher als Brunnenpisser, die eine wichtige Debatte vergiften. Drei Wochen später, kurz vor Weihnachten, kollidieren in einem Schneesturm über New York zwei Passagierflugzeuge. 127 Fluggäste und die Mannschaft stürzen in Brooklyn ab, wodurch fünf weitere Personen das Leben verlieren. Der einzige Überlebende ist ein elf Jahre alter Junge, der in eine Schneewehe fällt. Am selben Tag streift ein amerikanisches Militärflugzeug einen Kirchturm in München und stürzt mitten in der Stadt in eine Menschenmenge. Das Flugzeug stößt mit einer Straßenbahn und mehreren Autos zusammen. Dreiundfünfzig Menschen kommen um, viele hundert müssen mit schwerwiegenden Verbrennungen ins Krankenhaus gebracht werden.
Mutter betrachtet das als Omen. »Vor Feiertagen passiert immer etwas Schlimmes«, sagt sie. Sie weiß noch nicht, dass sie an einem Ostersonntag sterben wird.
Aber als es dann Weihnachten wird, herrscht Friede im Melumvei. Vater ist in diesem Jahr zum letzten Mal der Weihnachtsmann. Tormod und ich haben ihn schon vor vielen Jahren erkannt. Mutter und Vater sind nett zueinander. Wir singen Weihnachtslieder und hören Bachs Weihnachtsoratorium. Und zu Silvester steht wieder Tante Svanhild vor der Tür, mit Geschenken, dem Kellerkuchen und dem feinen Persianer.
Ich falle ihr um den Hals und fange an zu weinen.
»Aber wieso weinst du denn?«, fragt sie verdutzt. »Was ist denn passiert?«
»Nichts«, antworte ich. »Ich freue mich nur so über deinen Besuch.«