Читать книгу Die Welt, die meine war - Ketil Bjornstad - Страница 35

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Aber es kommt ein Tag. Es kommt immer ein Tag, aber dieser Tag ist doch anders als andere Tage, nach denen ein Tag kommt. Vater kommt früh von der Arbeit nach Hause. Er hat Dagbladet unter dem Arm, wie immer, aber er hat vergessen, Brot zu kaufen, er ist starr im Gesicht. Wütend, auf eine Weise, die er sich sonst nicht gestattet, nicht einmal, wenn er sich mit Mutter streitet. Es ist nicht die normale Wut. Er ist persönlich verletzt. Etwas, das er nicht für möglich gehalten hat, ist passiert.

Mutter ist zu Hause. An diesem Abend muss sie in der Fledermaus soufflieren. Als sie das Gesicht ihres Mannes sieht, begreifen Tormod und ich, dass die Lage ernst ist, auf eine ganze andere Weise als jemals zuvor.

»Kommt der Weltkrieg?«, frage ich. »Vielleicht«, sagt Vater.

Und dennoch weint er nicht. Der, der diese Geschichte schreibt, hat seinen Vater nur zweimal weinen sehen. Das eine Mal bei Hallingskarvet, als Vater mit Mutter gestritten hatte. Sie lief weit vor ihm her und war außer sich vor Zorn. Aus irgendeinem Grund ging damals Tormod neben Mutter. Sie gingen 200 Meter vor uns anderen. Er selbst blieb beim Vater, der einen schweren grauen Rucksack trug und schweißnass war. Sie waren unterwegs zu einer Hütte weit oben im Gebirge. Es gab dort keinen Strom, und Wasser musste aus einem See geholt werden. All diese armseligen Hütten in seiner Kindheit, auf die der Vater doch so stolz war, auch wenn er Kacke aus dem Plumpsklo schaufeln musste. Weshalb hatten sie sich diesmal gestritten? Jedenfalls nicht um ein Ingenieursessen, zu dem die Mutter nicht gehen wollte. Er ahnte, dass es um Wichtigeres ging. Gefährlicheres. Wo man wohnen sollte. Worauf man im Leben setzen sollte. Der Vater sprach oft davon, umzuziehen. »Aber wie sollen wir uns das leisten können?«, fragt die Mutter.

Die lange Wanderung durch das Gebirge. Der Vater, der nichts sagte, sondern weinte, bis er schluchzte. Weinte und weinte. Als sei sein Kummer bodenlos.

Das zweite Mal sah er seinen Vater weinen, als der, nachdem er aus China zurückgekommen war, erzählte, wie die Mutter gestorben war. Der Vater saß im vierten Stock im Pflegeheim. Die Mutter lag eiskalt unten in der Kapelle. Als er zum Vater nach oben kam, nachdem er sich von der Mutter verabschiedet hatte, setzte er sich zu ihm und sagte, die Mutter habe ausgesehen, als ob sie ihm zulächelte, obwohl sie doch tot war.

»Aber wie ist sie gestorben?«, fragte er. Da weinte der Vater zum zweiten Mal.

Alle sind schrecklich aufgeregt. Das weiß er schon lange. Er hat versucht, die Miene des Vaters zu deuten. Schon, als sie aus Sandefjord nach Oslo zurückkamen, stimmte etwas nicht. Die Leichtathletikkämpfe zwischen USA und UdSSR. Der Vater hatte den Kopf geschüttelt. Und der Sohn hatte gefragt: »Was ist denn los, Vater?«

»Dass sie sich auf diese Weise gegenseitig aufstacheln. Nicht nur Raumfahrt und große Politik. Auch Sport. Wo soll das denn noch enden?«

Leichtathletik. Auf viermal hundert Metern stellt die Mannschaft der USA einen Weltrekord von 39,1 auf. Danach kommt der schwarze Weitspringer Ralph Boston und springt 8,28. Gott sei Dank setzt Valeri Brumel mit 2,24 einen neuen Rekord im Hochsprung für Herren und Jolanda Balas, die eigentlich aus Rumänien stammt, springt 1,90 für die Sowjetunion.

Vater liebt Leichtathletik. Er liebt Schlittschuhlauf. Er liebt den Sport, in dem einfache Arbeiter nach oben kommen und Ruhm und Ehre ernten können. Aber was hier vor sich geht, ist keine Leichtathletik. Schon seit Längerem kommen jeden Tag über tausend Flüchtlinge aus der DDR und anderen von der UdSSR kontrollierten Gebieten in die Durchgangslager in Westberlin. An einem einzigen Tag, dem 1. August, werden 1322 Flüchtlinge registriert. Etwas über eine Woche darauf sind es 1926 Personen. Die 53 000 Pendler, die jeden Tag von Ost- nach Westberlin strömen, werden strengen Kontrollen unterzogen und in vieler Weise behindert.

Aber während US-Außenminister Dean Rusk im Urlaubsort Cadenabbia in Italien sitzt und mit Bundeskanzler Konrad Adenauer überlegt, was zu tun sei, beschließt die Volkskammer in Ostberlin, zu außergewöhnlichen Mitteln zu greifen, um der Massenflucht vor dem kommunistischen Regime ein Ende zu setzen.

Zugleich kreist der sowjetische Kosmonaut German S. Titow nicht weniger als siebzehn Mal in seiner Wostok II um die Erde und hält sich länger als einen Tag im Weltraum auf, zur großen Verzweiflung der Amerikaner.

Die Volkspolizei der DDR und Abteilungen der Volksarmee beginnen, die Grenze zwischen dem sowjetischen und dem amerikanischen Teil Berlins mit Stacheldraht abzusperren. Es ist die Nacht zum 13. August. Von nun an brauchen Ostberliner und Bürger der DDR eine Sondererlaubnis, um den von den Westalliierten kontrollierten Teil der Stadt zu besuchen. Das gilt auch umgekehrt. Die achtzig Grenzübergänge zwischen Ost und West werden auf zwölf reduziert.

Die Machthaber im Osten lassen dort, wo bisher Stacheldrahtzäune waren, Betonelemente anbringen. Willy Brandt, der Regierende Bürgermeister von Berlin, unterstützt einen offiziellen Protest gegen die Sowjetunion, in dem daran erinnert wird, dass die neuen Maßnahmen gegen das Viermächteabkommen verstoßen. Großbritannien und Frankreich kündigen an, ihre Truppenpräsenz in der BRD verstärken zu wollen, aus den USA kommen Vizepräsident Johnson und General Clay zusammen mit 1500 Soldaten, die in augenblickliche Bereitschaft versetzt werden. Diese Soldaten werden begeistert empfangen. Im Norden der S-Bahnstation Staaken fahren Panzer auf, um die Stadtgrenze vor Übergriffen zu sichern. Aber der Osten hat kein Interesse daran, den Westen anzugreifen. Stattdessen wird eine Mauer gebaut. Dass vier Panzer der USA durch Friedrichstraße und Kochstraße rollen, kann das katastrophale Ergebnis nicht verändern. Berlin wird endgültig geteilt. Das passiert an dem Tag, an dem Vater so ernst ist. Die Mauer wird gebaut, DDR-Soldaten fliehen in letzter Minute in den Westen. Bald wird auf Flüchtlinge geschossen. In den kommenden Jahren wird es viele davon geben.

»Was für eine Schande«, sagt Vater. Er legt sich mit leichenblassem Gesicht auf das Wohnzimmersofa.

Ich gehe zu Mutter, die in der Küche steht. »Was ist denn eigentlich los?«, frage ich.

»Vater ist vor Kummer am Boden zerstört«, sagt Mutter. Sie schüttelt den Kopf. Dann nimmt sie die Brotformen aus der untersten Schublade.

An der Straßenbahnhaltestelle Smestad haben Mads und ich viel zu besprechen.

Aber Mads ist nicht mehr so sicher, ob man gerade jetzt zur Sowjetunion halten sollte.

Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es passiert so schrecklich viel. Die Leute von Orientering sind nach den Parlamentswahlen sehr wichtig. Sie haben zwei Mandate geholt. Finn Gustavsen und Asbjørn Holm. Ich finde, Gustavsen sieht aus wie Reineke Fuchs. Vielleicht ist auch er ein Schlaukopf.

Auf General de Gaulle wird, als er von Paris nach Colombey les Deux Églises unterwegs ist, ein Attentat mit vier Kilo Plastiksprengstoff verübt. Zehn Tage darauf kommt der UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld über Nord-Rhodesien bei einem Flugzeugabsturz ums Leben.

»Hier wird uns vieles verheimlicht«, sagt Mads, während die Blätter an den Bäumen gelb werden. Die Nachmittage füllen sich mit herbstlichen Sonnenuntergängen. Der Himmel über Ullernåsen steht in Flammen.

Die Welt, die meine war

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