Читать книгу Die Welt, die meine war - Ketil Bjornstad - Страница 24
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Die Schulleitung von Vegårshei sitzt allen Ernstes zusammen und diskutiert über die großen Lebensfragen. Es ist der dritte Tag des neuen Jahres. Die Schulleitung interessiert sich nicht für den Kalten Krieg. Und auch nicht für John F. Kennedy. Die Schulleitung besteht aus denkenden Menschen, die allerlei gelesen haben. Sie haben sich in diesem Raum versammelt, um sich von Darwins Entwicklungslehre zu distanzieren. Die stimmt nicht mit der Bibel überein. Es ist die Pflicht der Schulleitung, diese Irrlehre anzuprangern. Und das tun sie, nach einer langen und inhaltsreichen Sitzung. Der Vertreter der Lokalpresse macht eifrig Notizen.
Mads und ich stehen vor den Schaukästen beim Scala-Kino und sehen uns Bilder aus dem Film Line an. Wenn ich Margarete Robsahm sehe, kriege ich sofort weiche Knie. Was ist los mit mir? Warum interessiere ich mich so sehr für erwachsene Frauen? Diese Sehnsucht. In dem Film geht es offenbar um einen Jazzmusiker. Ich lese jetzt die Filmrezensionen in Aftenposten und Dagbladet. Ich begreife so viel von der Welt der Erwachsenen, wenn mir der Inhalt dieser Filme beschrieben wird. Line ist ein sogenannter gewagter Film. Das entnehme ich den Zeitungen. Robsahm zeigt etwas von ihrem Körper. Was kann das sein? Ihr Busen? Oder das Unaussprechliche? Mads interessiert sich inzwischen so sehr für diese Dinge wie ich, aber für das hier hat auch er keine Sprache.
»Mein Onkel war Jazzmusiker«, sage ich zaghaft. »Ach was«, sagt Mads. »Aber hatte er Frauen?«
»Er hat jetzt eine, aber er macht keinen Jazz mehr.«
»Ach. Wie schade.«
»Er hat auch kein Klavier.«
»Was ist schlimmer, kein Klavier zu haben oder keine Frau?«
»Keine Frau«, antworte ich voller Überzeugung.
»Würdest du das Klavier bei euch zu Hause gegen eine Frau eintauschen?«
»Wenn es Leah wäre, dann ja.«
Leah kommt mit ihrem Vater auf dem Motorrad angefahren, obwohl Winter ist und hoher Schnee liegt. Sie sitzt hinten und hat die Arme um ihn gelegt. Wenn Abel und Leah angesaust kommen, ist das ein Fest, jedenfalls für Abel selbst, meine Eltern, meinen Bruder und mich. Abel bringt nämlich Schokolade mit, die allergrößten Tafeln, die aussehen wie braun angestrichene Goldbarren. Er lässt sich auf das Sofa fallen und fängt an, die erste Tafel in Stücke zu brechen. Alle bekommen etwas ab, nur Leah nicht. Abel ist Vegetarier, und deshalb muss Leah auch vegetarisch leben. »Zucker ist ungesund« mahnt er, während er sich die Backen mit Haselnuss- und Milchschokolade vollstopft.
»Natürlich bekommt auch Leah Schokolade«, sagt Mutter wütend. »Folter gibt es bei uns im Haus nicht.«
Also bekommt auch Leah Schokolade, aber nicht so viel wie mein Bruder und ich.
Das wiederholt sich wirklich jedes Mal, wenn sie zu Besuch kommen.
Leah hat dicke dunkle Locken und sieht aus wie die indische Prinzessin aus dem Mädchen, das die Lehrer in der Schule bei der Weihnachtsfeier im Puppentheater spielen. Mutter und Vater erzählen uns, dass Leah Jüdin ist, jedenfalls Halbjüdin. Und Abel ist ein echter Jude. Er ist im Krieg nach Schweden geflohen. Jetzt wohnt er an verschiedenen Orten in Norwegen, meine Eltern werden nie so recht schlau daraus. Außerdem sollen wir nicht so viel darüber reden, dass er Jude ist, so lange Abel nicht selbst davon anfängt. Abel ist Abel. Man kann ihn ohnehin nicht fangen. Er kommt wie ein Wind und ist ebenso schnell wieder verschwunden, mit Leah auf dem Rücksitz. Was machen sie, wenn sie nicht bei uns sind? Das ist unmöglich zu beantworten, und es hat auch keinen Sinn, zu fragen. Wenn Abel nach Oslo kommt, geht er ins Kino. In Erwachsenenfilme, die weder Leah noch andere Kinder sehen dürfen, obwohl Leah schon fast zwölf ist. Abel lacht gern, und wir lachen gern mit ihm. Er mag Filme, in denen alles richtig schiefgeht, in denen Leute die Treppe hinunterfallen und sich Arme und Beine brechen. Er liebt tote Menschen, die bei der Beerdigung aus dem Sarg plumpsen. Er liebt alles, was makaber und surrealistisch ist, und so, wie er erzählt, bringt er Vater immer zum Lachen, so sehr, dass er schluchzt und ihm die Tränen aus den Augen strömen, so sehr, dass ich mich manchmal frage, ob er in Wirklichkeit nicht weint. Sie waren zusammen Vegetarier, aber das war, als meine Eltern in Trondheim wohnten. Vater kann einfach nie ganz normal gewesen sein, denke ich. Erst, als Mutter anfing, unwiderstehliche Fleischsuppen zu kochen, musste Vater aufgeben. Seine Kapitulation war übrigens dramatisch. Abel war zu ihnen nach Tyholt gekommen und wollte dort übernachten. Das war vor Leahs Geburt, und Abel hatte sich damals nicht einmal Schokolade gegönnt. Mutter hatte es nach einigen Jahren total satt, immer nur Gemüse zu essen, und sie verfluchte Vaters viele fixe Ideen. Man wurde krank, wenn man keinen Fisch und kein Fleisch aß. Da war sie sich sicher. Eine Welt ohne Wiener Würstchen war nicht lebenswert. Abel sprach ebenfalls auffällig viel über Würste, auch wenn er sie nicht aß. Er machte immer Witze über Nonnen und Würste und den Heiligen Geist. Ich verstand nicht alle, aber mein Bruder sagte, sie seien grob.
Damals, oben in Trondheim, hatte Mutter auf alles gepfiffen und eine Suppe aus Gemüse und dicken Knochen und Fleischresten einer geschlachteten Kuh gekocht. Sie konnten sich damals nichts Besseres leisten. Sie ernährten sich vor allem von Rüben, Roter Bete, Weißkohl, Kohlrabi und Kartoffeln. Außerdem von Graubrotscheiben mit roher Zwiebel und Ziegenkäse. Vater war ein bettelarmer Student. Mutter versuchte, sich als Reklamezeichnerin zu ernähren, verdiente damit aber nicht gerade Millionen. Abel kam und nahm sich Suppe, verdrehte die Augen und sagte, das sei die leckerste Suppe, die er je gegessen habe.
»Weil ich sie von Rinderknochen gekocht habe«, sagte Mutter.
»Von Rinderknochen?« Abel verschluckte sich an der Suppe, als er das hörte. »Du weißt doch, dass ich kein Fleisch esse, Alfhild. Das war gemein von dir.«
»Ich esse Fleisch«, sagte Mutter auf die souveräne Art, die sie manchmal haben konnte, wenn sie die Umwelt aufgab und alle anderen Idioten waren.
Aber Abel hatte jetzt ein Problem. Er hatte erst einige Löffel von der Suppe gegessen, als die Wahrheit ans Licht kam. Sollte er aufstehen und gehen, oder sollte er sich an der verdammten Suppe satt essen, ehe er ging?
»Du vergiftest meinen Leib!«, schrie er Mutter an.
»Du brauchst ja nichts zu essen«, sagte Mutter kalt.
Aber Abel schlürfte die Suppe, er konnte es nicht lassen. Ein hungriges Raubtier ohne jegliche Kontrolle, dann stand er auf, satt und zufrieden, und ging. Er wolle mit meinen Eltern nichts mehr zu tun haben, sagte er. Er sagte, er werde in der Stadt in einem Hospiz übernachten.
»Wenn er sich wie ein Idiot aufführen will, ist mir das doch egal«, sagte Mutter. Sie kannte ihn zu gut. Abel kam nach einigen Stunden zurück. Er hatte schließlich auch kein Geld.
Ich starrte Leah an, die dort neben ihrem Vater auf dem Sofa saß und die wenigen Schokoladenstücke genoss, die ihr zugeteilt worden waren, während wir anderen uns hemmungslos vollstopften.
»Können wir bei euch übernachten?«, fragte Abel.
Ich fuhr zusammen. Ich wusste, was kommen würde. Das letzte Mal war so lange her.
Aber ich war keine sechs mehr.
Leah war anders. Leah war ein Traum. Leah hatte keine Vorbehalte, wie die Mädchen in der Klasse. Sie stand nicht in einer Ecke und machte sich interessant. Sie zierte sich nicht. Neckte nicht, spottete nicht. Hatte kein Nähkränzchen für sich und die Auserwählten. Sie interessierte sich immer für meinen Bruder und mich. Spielte gern, rannte, sprang. Ein klingendes munteres Lachen, als wäre die ganze Zeit Frühling.
Als es Abend wurde, war ich schrecklich aufgeregt. Wir sollten im selben Bett schlafen, während Abel auf dem Wohnzimmersofa übernachtete. Würde sie auch diesmal nackt sein?
Wir kicherten und lachten. Putzten uns nacheinander die Zähne. Sie sah sich die großen Filmplakate an, die ich an der Wand hängen hatte, von Filmstars, deren Filme ich noch gar nicht sehen durfte. Natalie Wood. Audrey Hepburn. Margarete Robsahm wagte ich nicht hinzuhängen, obwohl Tante Svanhild den Film am Tag der Premiere gesehen hatte. Sie ging jeden Donnerstag um fünf ins Kino. Immer allein, ins Frogner Kino. Oder ins Gimle. Zur Not ins Saga, Scala, Klingenberg oder eins der anderen Kinos unten in der Stadt.
»Der war überaus gewagt«, sagte sie mit einem geheimnisvollen Lächeln.
Gewagt, überlegte er. Wieso denn? Was zeigte diese schöne blonde norwegische Schauspielerin denn, was so gefährlich war? Das gleiche, was Leah vielleicht in einigen Minuten zeigen würde? Einen nackten Mädchenkörper? Vielleicht hätte er doch ein Bild von Margarete Robsahm aufhängen sollen. Oft stahl er sich einige Münzen aus der gemeinsamen Kasse der Eltern, um sich Filmzeitschriften zu kaufen. Die hatten so glänzendes Papier. Die Mädchen waren schön. Strahlten. Große Augen. Knallrote Lippen. Fast, als ob sie wirklich wären.
Allein im Zimmer mit Leah. Sie wagten wohl nicht, Leah mit seinem Bruder alleinzulassen, denn der war drei Jahre älter, so alt wie sie. In dem Alter war offenbar alles möglich.
Er ist so aufgeregt, glücklich und froh. Seine Wangen werden rot. Und Leah lacht ihr klingendes Lachen. Lächelt ihn an, als ob sie ihn die ganze Zeit neckte. Aber das ist nicht gemein. Er wird gern geneckt, wenn Leah das macht.
Sie haben seinem Bruder und den Erwachsenen gute Nacht gesagt.
Sie sind allein in seinem Zimmer, hinter einer geschlossenen Tür. Sie machen eine Kissenschlacht. Sie hüpfen auf dem Bett auf und ab und bewerfen sich gegenseitig mit Kissen.
Leah wird es warm, und sie zieht ihr Nachthemd aus.
Splitternackt steht sie vor ihm und lacht. »Du hast einen stehen!«, kichert sie.
»Wieso denn stehen?«, fragt er.