Читать книгу Die Welt, die meine war - Ketil Bjornstad - Страница 36

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Es ist Sonntag. Später Herbst. Vater sagt, dass wir zur Hütte nach Vestmarka fahren. Ich stöhne. Ich habe versucht, tot im Bett zu liegen, aber das half nichts. Vater sieht, dass ich lebe. Und auch wenn ich länger aushalte, als ich es für möglich gehalten hätte, bin ich hilflos, als er anfängt mich zu kitzeln.

Der Bus nach Guriby. Die langen Hänge hoch nach Vensåsseter. Ich bin kurzatmig und erschöpft, und als der Waldweg endlich abflacht, ist es nur vorübergehend. Vater hat die Hütte für zehn Jahre gemietet, sie liegt oben am steilsten Hang.

Als sie aber dort sind, kann er sich keinen Ort denken, wo er lieber wäre. Vestmarka. Nicht weit von Kampen. Sie haben Aussicht auf den neuen Tryvannsturm, der noch nicht in Gebrauch genommen worden ist. Der Vater kümmert sich um das Plumpsklo. Das Brunnenwasser ist kalt und gut. In der Hütte ist es wie in alten Tagen. Rohe Holzstühle. Ein Tisch, von dem die Farbe abblättert. Ein Sofa, das eigentlich eine Holzbank mit Kissen ist. In der Ecke gibt es einen riesigen Kamin, den der Vater repariert hat. Er bewundert den Kamin, weil der so groß ist. Der Vater kann alles. Der Vater ist Ingenieur. Allein mit dem Vater und dem Bruder hat er keine Angst, dass sich die Eltern streiten und die Mutter mit den Türen knallt und in Tränen ausbricht. Der Vater ist streng, aber man kann mit ihm reden. Er hat die stärksten Hände auf der Welt, aber er schlägt nicht damit. Und beim Armdrücken merkt er immer, dass diese Hände groß sind und dass sie Geborgenheit und Wärme schenken.

Die Dämmerung setzt früh ein. Der Himmel ist rot. Sie haben zwei Dosen Rentierfrikadellen mitgenommen, die sie auf dem Primuskocher aufwärmen und zu dem grünen Sauerteigbrot essen wollen, das sie alle so lieben. Der Bruder darf den Primuskocher anwerfen, den der Vater einige Meter von der Hütte entfernt aufgestellt hat, wo es eine alte, von Steinen eingerahmte Feuerstätte gibt.

Er dagegen darf die Rentierfrikadellen in dem alten Blechtopf anwärmen. Es ist ein Freitagnachmittag im Oktober und mäuschenstill im Wald. Nur eine Krähe regt sich hoch oben in der riesigen Eiche.

»Jetzt hört mal zu«, sagt der Vater. »Wisst ihr noch, dass ich voriges Wochenende allein hier war?«

Sie nicken.

»Ich wollte den Kamin fertigmauern und den Abzug überprüfen. Kaum hatte ich meinen Rucksack abgestellt, habe ich losgelegt. Das Wichtigste war, den Zugbegrenzer so zu justieren, dass er genau in die Öffnung passte.«

»Ja?«

»Ich schob den Arm hinein, machte ihn krumm und tastete dann nach der schweren Klappe. Aber als ich sie gefunden hatte, löste sich etwas aus seiner Befestigung, fiel auf meinen Unterarm und presste auf mein Handgelenk. Weil ich den Arm angewinkelt hatte, steckte ich fest. Ich konnte den anderen Arm nicht hineinschieben und spürte, wie mein Blut an der Stelle hämmerte, wo der Zugbegrenzer auf die Adern drückte.«

»Was hast du da gedacht, Vater?«, fragt der Bruder mit großen, ängstlichen Augen.

»Ich dachte, dass Freitag war, dass ich ganz allein war und dass mich vor Sonntagabend niemand vermissen würde.«

»Und dann?«

»Dann habe ich mit langsamen Bewegungen versucht, den Arm zu befreien. Zwei Stunden lang habe ich eine Position gesucht, um mit dem Daumen die Klappe hochschieben zu können, auch wenn ich riskierte, den Daumen zu brechen.«

»Und das hast du geschafft?«

»Ja.«

»Und nichts gebrochen?«

»Nein.«

»Warum erzählst du uns das?«

»Weil ich euch daran erinnern will, dass es immer, fast immer, Möglichkeiten gibt, an die man anfangs nicht gedacht hat. Auch, wenn die Lage hoffnungslos wirkt.«

»Gilt das auch für Mutter und dich?«, fragt er. »Wie meinst du das?«

»Dass es die Möglichkeit gibt, dass ihr eines Tages aufhört, euch zu streiten?«

Der Vater weiß nicht, was er antworten soll. »Mutter und ich, wir lieben uns«, sagt er ernst. Er zieht seinen älteren Sohn an sich. Zwischen den beiden gibt es eine besondere Beziehung, denkt der andere.

»Warum kommt sie nie mit nach hier oben?«

»Mutter hat anderes zu tun. Und sie ist nicht gern da, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen, meint sie.«

»Aber sie mag doch Hasen und Füchse und alle Arten von Tieren?«

»Sie braucht ein bisschen Zeit für sich.«

»Aber was macht sie in dieser Zeit?«

Vater rührt im Frikadellentopf, wo die Soße langsam ins Kochen kommt. »Ich weiß nicht«, antwortet er zerstreut, wie oft, wenn er an etwas anderes denkt.

In diesem Moment verliert der Blechtopf das Gleichgewicht. Die kleinen Rentierfrikadellen aus der Dose und die ganze Soße kippen über in alte Asche und alles verwandelt sich im Handumdrehen zu einer ungenießbaren Masse. Der Vater flucht laut.

Nicht weinen, denkt der jüngere Sohn. Nicht noch mal weinen, wie damals im Gebirge.

Aber der Vater weint nicht. Er sieht nur traurig aus. Und müde. Als ob er die ganze Welt auf den Schultern trüge. Vielleicht tut er das ja. »Nicht traurig sein, Vater«, sagt Tormod. »Wir haben Graubrot, Zwiebeln und Butter. Außerdem wird es jetzt kalt. Haben wir nicht auch Milchschokolade? Wollen wir reingehen?«

Die Welt, die meine war

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