Читать книгу Die Welt, die meine war - Ketil Bjornstad - Страница 31

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25

Die Amerikaner schießen Alan Shepard mit der Freedom 7 hoch. Auf seiner Fahrt wird sein Körpergewicht zwischen null und achthundert Kilo wechseln, ehe es sich dann wieder auf fünfundsiebzig stabilisiert. Aber er soll nur eine ballistische Bahn fliegen, die fünfzehn Minuten dauert, und er wird auch nicht höher fliegen als 187 Kilometer.

»Nicht gerade Gagarin«, sagt Mads.

Vizepräsident Lyndon Baines Johnson schreibt für Präsident Kennedy eine Notiz: »In den Augen der Welt bedeutet Erster im Weltraum Erster überall. Nummer zwei im Raum ist Nummer zwei in allem.«

In dieser Zeit fange ich an, auch mit einem anderen Jungen aus der Klasse zusammenzusein. Er heißt Sverre und wohnt in der Gegenrichtung von Mads, draußen in Eiksmarka, in den großen weißen Blocks, in denen offenbar auch Erik Bye gewohnt hat, als er Anna Lovinda schrieb. Wir können nicht an der Haltestelle Smestad stehen und die großen Krisen der Welt lösen. Stattdessen legen wir uns weiße Mäuse zu. Auch Sverre interessiert sich für den Wettlauf im Weltraum. Er hat genau verfolgt, wie die sowjetischen Wissenschaftler mit Korabl-Sputnik 2 einen ganzen Tierpark hochgeschossen haben. Nicht nur die beiden Hündinnen Belka und Strelka waren an Bord, sondern auch vierzig Mäuse, ein graues Kaninchen, zwei Ratten, Fliegen und allerlei Pflanzen sowie Pilze. Hündinnen sind besser für den Raum geeignet, da sie beim Pissen nicht das Bein heben müssen. Das war nicht nur an Laika getestet worden, sondern auch an den Hunden Desik, Tsygan, Lisa, Ryzhik, Bolik, ZIB, Otvazhnaya, Snezhinka, Albina, Tsyganka, Damka, Krasavka, Bars und Lisichka, die im Laufe der Jahre nicht so viel leiden mussten wie Laika, aber gemeinsam ein Großteil der wissenschaftlichen Grundlage dafür erarbeitet hatten, diesen wahnwitzigen Tierpark ins All zu schicken, wo die Tiere einen ganzen Tag verbrachten, ehe sie glücklicherweise allesamt lebendig zurück auf die Erde gelangten. In gewaltigem Tempo, aber mit Fallschirm.

Sverre und ich waren begeistert von diesem Flug. Zu dieser Zeit wollten wir beide Wissenschaftler werden. Deshalb war die Freude groß, als unsere Elternpaare uns beiden glaubten, dass wir seriöse Raumforscher waren. Jetzt mussten wir die Überlebensmöglichkeiten von weißen Stadtmäusen in Vororten wie Røa und Eiksmarka testen. Hatten sie überhaupt eine Chance? Sie waren doch an das Leben in sicheren Käfigen in Oslo gewöhnt, im Laden Aquarium in der Akersgate, gleich beim Parlamentsgebäude. Obwohl Vater sich keinen Fernseher leisten konnte, half er mir beim Finanziellen, wenn es um Käfig, Sägespäne, rosa und hellblaues Plastikspielzeug und andere Einrichtungsgegenstände ging, die die Mäuse in ihrem neuen Dasein als Vorstadtbürger brauchen könnten. Die Mäuse kosteten auch nicht die Welt, und bald hatte sich in den Raumfahrtzentren Røa und Eiksmarka eine ganze Kolonie von eifrigen und intelligenten Tieren versammelt.

Sverre war ein Anführertyp, obwohl er damals nur siebenundzwanzig Kilo wog. Wir waren in der Klasse alle gewogen worden, und es war peinlich, der Schwerste zu sein mit fast schon vierzig Kilo. Die Mädchen hatten gekichert, aber aus irgendeinem Grund zogen sie mich nie auf, außer beim Völkerball, wenn sie versuchten, mich umzuwerfen. Dann hatte ich manchmal das gleiche seltsame Gefühl wie damals, als Leah zu Besuch gekommen war und wir im Bett eine Kissenschlacht veranstaltet hatten.

Aber wenn ich mit Sverre zusammen war, interessierten mich ganz andere Dinge. Es machte Eindruck auf uns, dass nicht weniger als vierzig Mäuse beim Flug von Sputnik 2 dabeigewesen waren. Wir hatten uns jeder nur zwei leisten können. Nun sollten sie sich ganz schnell vermehren. Es musste doch möglich sein, innerhalb von vier Monaten auch auf vierzig zu kommen? Sverre war besser als ich darin, sich Ziele zu setzen.

In seiner Erinnerung erscheint diese Zeit als eine andere Art von Zeit. Als die große Mäusezeit. Alles drehte sich um Mäuse. Um den Weltraum. Um Vermehrung. Er konnte zusammen mit seinem neuen Freund in den Käfig blicken und begeistert rufen: »Jetzt paaren sie sich!« Er konnte sehen, dass die eine Maus dicker wurde, bis sie zu bersten drohte, ehe die Mäusejungen geradezu aus ihr herausquollen, als ob man Kaviarpaste aus einer Tube quetschte. Er war so stolz auf die Mäuseeltern. Er kostete das Glücksgefühl aus. Auch Sverre war sichtlich gerührt und begeistert. Seine Stimme klang belegt, wenn er darüber redete. Jetzt hatten sie plötzlich insgesamt neunzehn Mäuse. Er hatte neun und Sverre hatte zehn. Es spielte keine Rolle, dass der Freund ihm um eine Maus voraus war. Sie machten das hier ja zusammen. Aber als der nächste Geburtstermin näherrückte, hatten Sverres Eltern genug. Kleinlaut kam Sverre eines Tages in die Schule und wagte fast nicht zu erzählen, was zu Hause in Eiksmarka passiert war. Nicht noch mehr Mäuse. Und die bereits vorhandenen mussten wir verkaufen. Zehn wunderschöne weiße Mäuse verkaufen, deren Anzahl sich bald verdoppeln würde oder vielleicht sogar verdreifachen? Das kam nicht in Frage. Als er Sverres flehenden Blick sah, war ihm klar, dass er eingreifen musste. Dass alle Mäuse im Melumvei untergebracht werden müssten, jedenfalls für eine gewisse Zeit. Er überlegte. Was würden seine Eltern sagen? Die waren zum Glück jetzt oft weit weg, dachte er. Nahmen morgens die Straßenbahn und kamen abends nach Hause. Der Vater war jetzt Redaktionsleiter des Technischen Wochenblattes, und die Mutter arbeitete noch immer bei Fotograf Wickmann, wenn sie nicht abends in der Oper war oder in einem Buchladen Bücher verkaufte. Tormod hatte seine Freunde. Deshalb war er sehr viel allein im Haus. Doch, es müsste gehen. Er konnte natürlich nicht an die vierzig Mäuse in einen einzigen Käfig stecken. Sie mussten verteilt werden. Im Haus gab es viele Schlupfwinkel. Bald würde der Sommer kommen. Dann könnte er im Garten einen Käfig aus Maschendraht bauen, hinter den Johannisbeersträuchern. Aber noch war es nachts zu kalt. Die Erwachsenen trugen Hut und Mantel. Plötzlich fielen ihm die Küchenschubladen ein. Genau! Die Mutter hatte fast nie mehr Zeit zum Backen. Die Brotformen, die jahrelang auf dem Küchenboden Straßenbahnen dargestellt hatten, wurden in der untersten Schublade des gelben Küchenschranks aufbewahrt. Die Mutter öffnete diese Schublade nie. Dort könnten die Mäuse untergebracht werden!

Aufgeregt kam er am nächsten Tag in die Schule und sprach mit Sverre über diese neue Möglichkeit. Er sah die Freude im Gesicht seines Freundes und dachte zum ersten Mal bewusst, wieviel es ihm zurückgab, wenn er es über sich brachte, nett zu irgendwem zu sein. Der Zwischenfall mit Tante Svanhild im vergangenen Jahr hatte ihm gezeigt, dass man unglücklich wird, wenn man gemein zu anderen ist. Aber jetzt hatten er und Sverre einen Plan. Sverre sollte zu Hause erzählen, dass er ein Zuhause für alle Mäuse gefunden hatte, und wenn sie fragten, wo, sollte er nicht den Namen des Freundes im Melumvei nennen, sondern den eines Jungen aus einer anderen Klasse, den seine Eltern nicht kannten. Dann war es weniger wahrscheinlich, dass die Eltern dort anriefen und nachfragten. Und warum sollten sie auch? Sverre hatte die Mäuse ja weit weg gebracht. Am selben Nachmittag, lange bevor die Eltern aus der Stadt zurückkommen würden, fuhr Sverre mit der Straßenbahn von Eiksmarka nach Røa und hatte eine gewisse Anzahl Mäuse in einem Schuhkarton. Der Freund hatte Löcher in den Karton gebohrt, die gerade so groß waren, dass keine der Mäuse, weder die Neugeborenen noch die Eltern, die Onkel oder Tanten, entkommen könnten. Zu allem Glück war auch Tormod nicht zu Hause. Dieses Geheimnis musste er für sich behalten. Es war das erste große Geheimnis in seinem Leben. Bei allen anderen war er zu schwach gewesen, sie zu bewahren.

Und plötzlich war das große Geheimnis im Melumvei untergebracht.

Viele Jahre später fragte er sich: Habe ich damals wirklich geglaubt, dass das gutgehen könnte? Dass Tag für Tag geheimzuhalten war, dass es ein Gewimmel aus weißen Mäusen in der Küchenschublade gab? Ja, er besaß diesen Übermut, den er auch nicht abschütteln konnte und der ihn noch oft in unhaltbare Situationen bringen würde. Schon damals war er von seinen eigenen Analysen so überzeugt gewesen, hatte sie für so überlegen gehalten, dass sie eigentlich nicht auf Widerspruch stoßen könnten. Das Einzige, was ihm Sorge machte, war, dass es unten in der Schublade kein Tageslicht gab. Tageslicht war ein Menschen- und ein Mäuserecht. Aber es war ein Trost, dass sich wilde Mäuse oft in die Erde vergruben, wo sie in Höhlen hausten und sich nur nachts, wenn es dunkel war, wieder hervorwagten.

Also brauchten diese Tiere nicht in erster Linie Licht, sondern Geborgenheit und Fürsorge, und beides wollte er ihnen doch geben. Behutsam brachte er zusammen mit Sverre die exilierten Mäuse in ihrem neuen Heim in der Küchenschublade in Røa unter. Zur Feier des Tages war die Schublade gefüllt mit Sägespänen, Mäusefutter, Laufrädern, Mäusespiegeln und Mäuseknabbereien. Sogar zwei Salatblätter hatte er sich im Lebensmittelladen in Randklev erschmeicheln können. Alle Mäuse wirkten gesund und munter und überaus neugierig auf ihre neue Umgebung. Das war ein gutes Zeichen. Er schloss die Schublade vorsichtig wieder. Dann gingen er und Sverre hinaus auf die Straße, um Fuchsen zu üben.

Sverre wirkte geheimnisvoll. Das tat er immer, wenn er eine neue Idee hatte. Ich fragte ihn, woran er dachte.

»Dass wir uns an die russische Botschaft wenden sollten«, sagte er. »Die russische …?«

»Oder die amerikanische. Aber die Russen werden dieses Wettrennen gewinnen, und ich will auf der Gewinnerseite stehen. Du nicht auch?«

Ich zögerte ein bisschen, ehe ich antwortete. Vielleicht, weil ich Gewinner noch nie hatte leiden können. Ich mochte doch die Verlierer, konsequent und jederzeit. Ich mochte Nixon, ich mochte Shepard, der nach Gagarin hochgeschossen worden und der nicht einmal richtig im Weltraum gewesen war. Ich mochte den fetten Sänger, der sich in der Oper bei Mutter blamiert hatte, als er beim höchsten Ton gepatzt hatte und von allen ausgelacht worden war. Ich mochte mich selbst, wenn ich beim Völkerball ausscheiden musste. Gewinner waren anbiedernde und selbstsüchtige Fanatiker, die sich in den meisten Fällen ihren Sieg erschwindelt hatten. Kennedy, zum Beispiel. Mit der Familie stimmte doch etwas nicht. Sie waren zu schön, zu heldenhaft. Sie schwitzten nicht vor laufender Fernsehkamera. Aber jetzt begriff ich doch, dass Sverre Visionen hatte, und einen Menschen mit Visionen durfte man nicht aufhalten, ehe die Visionen sich der Wirklichkeit hatten stellen können.

Als ich nicht sofort antwortete, redete Sverre einfach weiter. »Diese Mäuse sind Raumfahrtmäuse, Ketil. Deshalb haben wir sie ja. Jetzt sitzen ziemlich viele von ihnen in einer dunklen Schublade. Sie bereiten sich auf die große Fahrt vor. Und sie werden diese Fahrt auch überleben. Sie werden nicht auf grausame Weise in den Tod geschickt werden. Ist Norwegen nicht Mitglied der NATO?«

»OTAN«, sage ich. »Auf Französisch heißt das OTAN.«

»Dann sagen wir OTAN-NATO«, entscheidet Sverre. Er hat keine Lust, sich von Spitzfindigkeiten aufhalten zu lassen. »OTAN-NATO klingt irgendwie wie ohne NATO«, sage ich.

»NATO-OTAN«, sagt Sverre, leicht genervt.

»Vater ist dagegen«, sage ich.

Sverre verschluckt sich fast. »Kann man gegen die NATO-OTAN sein?«

Ich zuckte mit den Schultern. Leicht verlegen. Genau wie damals, als ich mit dem Plakat der Freien Wählergruppen vor dem Wahllokal in Huseby stand und der konservative Politiker Stranger, mit dem ich später auf Lesereise gehen sollte, zu uns kam und zu Vater sagte: »Jetzt kommt es darauf an! Überlegen Sie es sich gut, ehe Sie Ihre Kinder zu derart mieser Propaganda missbrauchen!«

Stranger verlor die Wahl, aber die Freien Wählergruppen hatten auch nicht viel Glück. Ich fing an, Stranger zu mögen, weil er ebenfalls ein Verlierer war. Er wurde von dem Sozialdemokraten Brynjulf Bull geschlagen, der mit dem Slogan »Wachstum und Wohlstand in Straße und Dorf« in den Wahlkampf gezogen war. Aber da auch die Freien Wählergruppen verloren hatten, mochte ich Vater noch viel mehr.

Sverre hat derweil den Blick zur internationalen Großpolitik gehoben. »Ist doch egal, was dein Vater meint«, sagt er fast wütend. »Hier geht es darum, norwegische weiße Mäuse in den Weltraum zu schicken. Verstehst du? Begreifst du überhaupt, wie wichtig es für Oslo vor neun Jahren war, die Olympischen Winterspiele auszurichten? Dann kannst du dir auch vorstellen, welche Wirkung es haben muss, wenn die Russen diese weißen Mäuse aus dem freundlich gesinnten kleinen Nachbarland Norwegen in den Weltraum schießen und dann unversehrt zurück auf die Erde holen?«

Ich nicke. Er hat ja nicht unrecht.

»Jetzt lass uns mal klaren Kopf behalten, Ketil. Wenn du gut auf die Mäuse in der Schublade aufpasst, haben wir einen Stamm von kleinen potenziellen Raumfahrern, die Eindruck auf die Russen machen werden. Gib der Sache eine Woche, dann haben viele sich wieder vermehrt. Dann ist die Zeit reif für einen Ausflug in den Drammensvei.«

»Was passiert im Drammensvei?«

»Da ist doch die russische Botschaft. Hast du denn überhaupt keine Ahnung?«

Ich nicke wieder. Sverre hat diese Fähigkeit, auf lange Sicht zu denken. Während ich hier mit ihm rede, merke ich, dass der Erwartungsdruck zu groß für mich wird. Mir muss etwas gelingen. Aber ich will nicht, dass mir etwas gelingt! Ich will im Verborgenen leben. Ich will vom Lehrer übersehen werden, von Fräulein Ätschbätsch, von Tormod, wenn er anstrengende Sportspiele mit mir betreiben will, von Vater, wenn er mit uns in die Hütte oben in Vestmarka gehen will. In Aftenposten habe ich gerade erst gelesen, dass es im Herzen des Hurrikans vollkommen windstill ist. Da will ich sein! Das Leben an sich ist der Hurrikan. Alle Menschen, die jeden Morgen zur Straßenbahn losstürzen. Mutter und Vater, die einander missverstehen und sich streiten. Der Krach in der Klasse. Die Lehrer, die mit der Hand aufs Pult schlagen, sodass ihre Handknochen Risse werfen. Fräulein Ätschbätsch, die mir ihre Rechtehand-Monotonie einhämmert. Ich will nicht monoton sein! Ich will kein Hurrikan sein! Ich will ganz still in der Mitte sitzen und zusehen, wie die anderen durch ihre Tage und Nächte schwirren.

»Abgemacht?«, fragt Sverre und streckt die Hand aus.

»Abgemacht«, antworte ich und versuche zu lächeln. Mit mir hat die Feigheit ein Gesicht bekommen. Ich werde ein wenig rot.

Als Mutter und Vater nach Hause kommen und auch Tormod wieder da ist, schleiche ich durch das Haus und registriere jedes einzelne Detail. Im Hauptkäfig im Wohnzimmer lebt die erste Mäusegeneration ihr normales Leben, unabhängig davon, was mit der Nachkommenschaft in der Küche passiert. Ich setze mich vor den Käfig und lasse mir nichts anmerken.

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragt Mutter besorgt. Sie kennt mich besser als jeder andere.

»Sicher. Warum fragst du?«, antworte ich. »Wollte ich nur wissen.«

Ich sehe, dass sie heute gut gelaunt ist. Manchmal kommt sie aus der Stadt und ist nur wütend. Dann wieder ist sie butterweich und liebevoll wie die Katzen hinten am Grinidam.

»Vielleicht kann ich heute Abend Brot backen«, sagt sie.

Dieses eine Mal bin ich froh über meinen Haarschnitt, denn meine Haare haben sich sofort gesträubt.

Wie soll ich verhindern, dass sie die Brotschublade aufzieht? Die Brotformen habe ich unter meinem Bett versteckt. Ich nehme doch an, dass sie so schnell nicht putzen will.

»Ach, können wir nicht lieber Musik hören?«, frage ich. Sie freut sich immer, wenn ich darum bitte.

»Möchtest du das?«, entgegnet sie überrascht. »Vielleicht auch ein bisschen Klavier spielen?«

»Egal«, sage ich.

»Das hört sich gut an«, sagt sie und lächelt.

Sie weiß nicht, dass sie in ihrer Küchenschublade eine ungeheure Anzahl an weißen Mäusen beherbergt. Worauf um alles in der Welt habe ich mich da eingelassen? Ich sitze neben ihr, als sie Christian Sindings Frühlingsrauschen spielt. Das geht so schnell. Ihre leichten, geschmeidigen Finger auf den Tasten. So ist es richtig! Niemand spielt besser Klavier als Mutter, obwohl sie nie übt.

»Bravo«, sage ich.

»Versuch es auch mal«, sagt sie.

»Du machst Witze«, sage ich. Aber ich versuche es. Es klingt nicht gut.

Immerhin ist der Abend gerettet. Musik am Klavier. Musik aus dem Radio. Jetzt kommt die Nacht.

Obwohl es keinen Grund dazu gibt, gehe ich auf Zehenspitzen, als ich im Badezimmer gewesen bin, mich gewaschen und mir die Zähne geputzt habe.

Tormod steht im Gang und sieht mich an. »Warum gehst du auf Zehenspitzen?«, fragt er fröhlich. Ihm ist klar, dass ich etwas im Schilde führe.

»Ich habe Pilze unter dem Fuß«, antworte ich mürrisch.

Aber Mutter hat gute Ohren. »Per!«, ruft sie Vater zu. »Ketil hat Pilze. Schmierst du ihn mit der Schwefelmischung ein, ehe er ins Bett geht?«

Ach verdammt, denke ich. Eins von Vaters Hilfsmitteln. Etwas, das er und Abel im Schokoladenrausch zusammengekocht haben. »Komm zurück ins Badezimmer«, ruft Vater. »Dann schau ich auch mal in deinem Po nach. Aber du hast keine Würmer mehr, oder vielleicht doch?«

Kindheit. Als ob sie nicht begreifen, dass wir erwachsene Menschen sind, trotz aller Dummheiten, die wir sagen. Jetzt kommt die fiese Schwefelmischung. In einem kleinen, altmodischen Gefäß.

»An sowas kann man sterben«, sage ich. »Denk an Chessman, Vater.« Ich weiß, dass er immer weich wird, wenn ich diesen Namen nenne. Aber diesmal beißt er nicht an.

»Chessman ist mit Zyanid getötet worden«, sagt er kurz. »Lass mal sehen.« Ich zeige meine Fußsohlen. »Aber du hast ja gar keinen Pilz«, sagt er beleidigt. Er gibt mir zu verstehen, dass er mitten in einem wichtigen Artikel in Orientering gestört worden ist.

»Entschuldigung«, sage ich. »Es hat gejuckt. Ich dachte, das wären Pilze.«

»Aber du hast Lakritz zwischen den Zehen. Wasch dich, Junge!«

Tormod steht in der Türöffnung und sieht zu. Sein belustigtes Lächeln. Ab und zu sind große Brüder das Nervigste, was es auf der Welt gibt.

Noch sind es zwei Stunden bis zum Schrei.

Ich habe versucht, eine Weile allein in der Küche zu sein, aber das ging nicht. Vater sitzt da mit Dagbladet und hat angefangen, seine schrecklichen Furzbrote zu essen. Graubrot, Butter, rohe Zwiebeln und Ziegenkäse. Es gibt kein besseres Essen auf der Welt, aber nach einer halben Stunde verwandelt man sich wegen der Darmgase in einen Raumfahrer. Der Weg zur Schwerelosigkeit ist ungeheuer kurz. Da sitzt er und liest über das Treffen des NATO-Ministerrates, das gerade in Oslo stattgefunden hat.

Wenn er nur wüsste!

Aber irgendwann gehen mir die Gründe aus, warum ich noch immer nicht ins Bett will. Ich umarme Vater, der kaum von seinem Artikel aufschaut, mir aber trotzdem einen feuchten Schmatz auf die Wange pflanzt. Danach Mutter, die im Wohnzimmer sitzt und Bilder retuschiert. Porträts der vielen müden Menschen, die sie so schön macht, wie sie kann. »Gute Nacht, mein Schatz«, sagt sie und drückt mich an sich.

»Wir zwei und der Mond«, sage ich. Aber sie begreift nicht, was ich meine.

Ich gehe in mein Zimmer. Ich sehe Mitzi Gaynor an. Versuche, mich auf das Gesicht zu konzentrieren, statt auf den riesigen Busen. Sie ist doch so schön. Die wohlgeformten Lippen. Die funkelnden Augen. Die hohen Wangenknochen. Die flaumweiche Haut. Fast so schön wie Mutter. Aber da verläuft die Grenze.

Ich bin schlecht gelaunt. Sverre macht zu große Pläne. Ich bin nicht dafür geschaffen. Ich kann niemals Einar Rose werden, der in regelmäßigen Abständen mit der Zigarre im Mund durch den Melumvei fährt. Im offenen Chevrolet. Oder ist das ein Cadillac? Ich kann ja nicht einmal einen Fiat von einem Saab unterscheiden. Ich weiß nur, dass er ein Revuekönig ist. Dass er zusammen mit der bildschönen Schauspielerin Wenche Foss, die vielleicht noch schöner ist als Mitzi Gaynor und die fast Tante Svanhild-Qualitäten besitzt, Geld für Grimebakken gesammelt hat. »Ein Musterheim für schwachsinnige Kinder«, wie in einer Illustrierten stand. Es liegt offenbar oben am Randsfjord, und ich hoffe, dass Fräulein Ätschbätsch dort eine Stellung finden kann und ihre Rechte-Hand-Unterweisungen an Kindern fortsetzt, die das dringender brauchen als ich. Ich komme doch zurecht, denke ich.

Aber stimmt das auch?

Ich liege in meinem Bett und schaue zur Decke hoch. Ich glaube nicht mehr jedesmal vor dem Einschlafen, dass ich jetzt sterben muss. Diese Zeit ist vorbei. Ich bin ein Kind mit den Qualitäten eines Erwachsenen, denke ich. Nicht einmal Mads oder Sverre sind klüger als ich. Dennoch will ich meinen Intellekt nicht überbewerten. Wenn ich daran denke, worauf ich mich eingelassen habe, bricht mir der Schweiß aus, genau wie Nixon und all den anderen Verlierern.

Die Vorwarnung zum Schrei kommt um zwei Minuten nach Mitternacht.

Eine kleine weiße Maus läuft über meine Bettdecke.

»Hallo, du kleiner Raumfahrer«, sage ich leise. »Bist du sicher, dass das so klug ist?« Ich schalte die Nachttischlampe ein. Nun sehe ich weitere Mäuse. Mindestens sieben. Sie sind aus der Küchenschublade entkommen. Die Situation ist also außer Kontrolle geraten. Und nun höre ich den Schrei. Aber es ist nicht Mutter. Es ist Tormod.

»Hier sind Mäuse!«, ruft er aus seinem Zimmer. Aber alle wissen ja, dass er zum Schlafwandeln neigt. Was er nachts sagt, wird meistens nicht so wichtig genommen.

»Schlaf weiter, mein Junge«, murmelt Mutter aus dem anderen Schlafzimmer. »Du träumst doch nur.«

»Ich träume nicht! Lebende Mäuse, Mutter! Weiße Mäuse auf meiner Bettdecke!«

Das Haus, das eben eingeschlafen war, wird wieder wach. Voller Angst stehe ich auf und sehe, dass sie überall sind. Das ist das Ende der Welt. Schlimmer als ein Atomkrieg!

»Nicht auf sie treten!«, schreie ich hysterisch. »Das sind Raumfahrer! Jedes einzelne Leben ist wichtig!«

Mutter und Vater haben das Deckenlicht angeknipst. »Eine ganze Heerschar«, ruft Vater. »Ganz ruhig jetzt! Nicht voreilig handeln!« Nun höre ich Mutters Stimme. »Ach, was sind die süß!« Sie sitzt im Bett. Beugt sich zum Boden hinunter. Nimmt eine Maus in die Hand. Hebt sie an ihr Gesicht. Redet beruhigend auf sie ein und streichelt sie mit dem Zeigefinger.

»Mutter?«, frage ich vorsichtig. »Bist du wirklich richtig bei Verstand?«

»Ich habe mir immer Tiere gewünscht«, sagt sie. »Viele Tiere. Aber ich bin doch allergisch. Und das sind vielleicht ein bisschen viele?« Sie niest heftig.

»Das glaube ich schon«, sagt Vater, seufzt und holt einen alten Schuhkarton.

Am nächsten Tag gibt es in der Waldorfschule eine Mäuseauktion. Aber niemand bietet. Unten im Tiergeschäft in der Akersgata sagt immerhin ein freundlicher Verkäufer, dass er alle Raumfahrer nehmen kann.

Sverre und ich verdienen jeder zwei Kronen.

Auf der anderen Seite des Atlantik spricht Präsident Kennedy mit James E. Webb, dem Direktor der NASA. »Ich glaube, das Wichtigste, was wir tun können, ist, vor den Russen auf dem Mond zu landen. Ansonsten sollten wir nicht so viel Geld ausgeben, denn eigentlich interessiert mich der Weltraum nicht. Das Einzige, was diese Kosten rechtfertigen kann, ist die Hoffnung, sie zu schlagen, damit wir der Welt zeigen können, dass wir, statt im Weltraumwettlauf zurückzuliegen, sie überholen.«

Am 25. Mai stellt Kennedy dem US-Kongress das Apollo-Programm vor und sagt: »I believe this nation should commit itself to achieving the goal before this decade is out, landing a man on the Moon and returning him safely to the earth.«

Mads und ich sitzen im dunklen Saal des Palassteaters und sehen ihn an, als er seine gefühlsbetonte Rede hält und den Funken bei den Menschen entzündet, die er so oft Gottes auserwähltes Volk nennt. »So, God bless America!«, sagt er zu ohrenbetäubendem Jubel.

»Der hat doch eine Meise«, sage ich.

»Aber er ist die Zukunft«, sagt Mads.

Die Welt, die meine war

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